Viele liberale und linke Akteur:innen in der deutschen Medien- und Politiklandschaft scheinen fasziniert von der Einstellung von Juden:Jüdinnen zu Israel – fast so sehr, wie rechte und konservative Publizist:innen von Integration und Leitkultur. So steht es selbstverständlich allen Juden:Jüdinnen zu, ihre Meinung zu innerjüdischen Debatten kundzutun, und wie jeder andere Mensch haben sie das Recht, dabei auch mal falsch zu liegen. Was aber noch mehr irritiert als die jeder Forschung widersprechende Aussage „Antisemitismus = Rassismus“, ist, dass Fabian Wolff in seinem Essay „Nur in Deutschland“, dass in der ZEIT erschienen ist, eine existentielle Bedrohung für Juden:Jüdinnen nur in „Nazis“ sehen will und der Widerspruch innerhalb „linker“ Kreise dazu auf sich warten lässt.
Antisemitischen Aussagen von Überzeugungstäter:innen werden von Wolff als „verzerrt“ und „missverstanden“ bagatellisiert und mit Verweis auf vermeintliche Kontexte relativiert. Derweil werden die Amadeu Antonio Stiftung und ihre Referent:innen angegriffen, weil sie auch nicht-rechten Antisemitismus thematisieren. Ihre tatsächliche Bildungsarbeit wird verächtlich gemacht. In Fabian Wolffs dichotomem, manichäistischem Weltbild steht auf der einen Seite die gute, „israelkritische“ „Jewish Left“, auf der anderen böse „konservative“ Narrative sowie rechte Gemeinden. Erstere sind unschuldige Opfer einer „Cancel Culture“, die anderen „vergiftende“, „herrische“ Zensor:innen.
Gerade für ein Essay, das angeblich jüdische Mehrstimmigkeit beschwören will, ist es übergriffig, linke und israelsolidarische, oder zumindest nicht-antizionistische und antisemitismuskritische Linke von der „Jewish Left“ auszuklammern. Dabei propagiert Wolff, dass allein „linkes politisches Handeln“ „von Grund auf umgestalten“ könne. Reflexion und Kritik hingegen sind wohl nicht „revolutionär“ genug. Ob die Demonstrant:innen der „revolutionären“ 1.-Mai-Demo in Berlin Ähnliches im Sinn hatten? Einen Tag vor Veröffentlichung des Essays bekämpften sie den Kapitalismus äußerst erfolgreich mit der genozidalen Parole „From the river to the sea…“, die sich ein Palästina wünscht, für das Israel ausgelöscht würde.
Für Fabian Wolff ist es offenbar kein Widerspruch, dass es „eine der wichtigsten Handlungen meines Lebens“ war, im Kampf gegen vermeintliche „rassistische Rufmordkampagnen“ seine Unterschrift neben die des Humboldtforums zu setzen – und zwar in der „Initiative GG 5.3 Weltoffenheit“, die sich für Toleranz gegenüber der israelfeindlichen und antisemitischen Boykott-Bewegung BDS ausspricht. Dass das Humboldt-Forum sich bis heute weigert, die Provenienzforschung zu seiner kolonialistischen Raubkunst voranzutreiben, kann im Kampf gegen die „bösen“ antisemitismuskritischen Kampagnen offenbar ignoriert werden. Denn für Wolff scheint es klar zu sein, die Juden:Jüdinnen sind die Weißen. Also, außer dass sie natürlich in einer weißen und christlich sozialisierten Gesellschaft diskriminiert und tausend Jahre lang vertrieben worden sind, was in der industriellen Ermordung von Millionen Juden:Jüdinnen gipfelte.
Fabian Wolff erwähnt die BDS-Szene auch „im Kontext der britischen Kolonialgeschichte“, die Anlass dafür sei, dass sich besonders in Großbritannien „nicht nur Juden:Jüdinnen“ für BDS aussprechen. Das hat Konsequenzen, die Wolff nicht erwähnt. Seit Jahren steigt die Zahl der antisemitischen Vorfälle an britischen Universitäten, die zentrales Rekrutierungsfeld für die BDS-Bewegung sind, an. Britisch-jüdische Student:innen haben im Zuge dieser Kampagnen gelernt, dass es schon reicht, als Jude:Jüdin geoutet zu sein, um auf dem Campus physisch wie psychisch bedroht zu werden. Er ignoriert damit aber vor allem das fundamentale psychologische Element der Schuldprojektion und -entlastung: Weißen Brit:innen mit familiärer und gesellschaftlicher Kolonialgeschichte, genauso wie Deutschen mit Nazivergangenheit, bietet BDS eine willkommene moralische Entlastungsmöglichkeit. Der eigene internalisierte Schuldkomplex und der innere Identitätsbruch wird auf die Figur des bösen Juden oder, in der Umwegskommunikation, auf die des jüdischen Staates entladen. Endlich kann sich auf die notfalls auch ausgedachten Fehler der anderen konzentriert werden, ohne sich um die eigene Vergangenheit und Gegenwart kümmern zu müssen. Eine Tradition, die in Europa so alt wie das Christentum selbst ist (man munkelt, es gäbe da eine Verbindung).
Auch Wolffs Zionismusbegriff ist konstruiert: Denn Zionismus war nie so einheitlich, wie er meint, ihn fassen zu können. Ja, vor der Shoah gab es eine größere zionismuskritische, marxistische, jüdische Linke, es gab auch viele jüdische Soldaten in der Armee des deutschen Reiches im ersten Weltkrieg, und nu? Schließlich gab und gibt es zionistische Denkschulen, die vielfältig und unterschiedlich sind, das wird aber im dogmatischen Weltbild, mit dem hier von den Zionist:innen gesprochen wird, verdeckt. Anscheinend liegt das Problem im Anspruch auf die gleiche Selbstbestimmung, die auch andere Völker und Gesellschaften haben. Denn Hauptsache, jemand kritisiert Israel.
Die Avantgarde der Boykott-„Boykott-Boykotteure“ findet in Wolff einen würdigen Erben, ganz im Nachlass von Abi Melzer, Evelyn Hecht-Galinski und Rolf Verleger. Neu ist an seinem zwölf Seiten langen Essay zumindest nichts. Weder koschere „Israelkritik“ noch die Gedächtnistheaterphrasen der „gepackten Koffer“, oder dass er sich nicht wohlfühle, auf Deutsch zu schreiben. Einziges Novum ist vielleicht die völlig unreflektierte Übernahme einer rechten Phantasmagorie, der „Cancel Culture“, die aber als solche nicht benannt wird. Vielleicht ist das für die deutsche Linke dann doch nicht so neu. Und wer wie Wolff 2009 noch mit rassistisch zu lesenden Aussagen über eine „Pali-Pandemie“ in Berlin schrieb, projiziert möglicherweise die Unschärfe der eigenen oberflächlichen Politisierung auf seinen heutigen Blick auf Antisemitismuskritik.
Solidarität in politischen Räumen wird durch „Israelkritik“ erkauft: Unterm Strich bleibt der Antizionismus ein attraktives, wenn nicht das attraktivste Assimilationsangebot für Juden:Jüdinnen, sowohl in der Mehrheitsgesellschaft als auch im Szenetreff. Das Gegenteil von Wolffs Prämisse, dass es „Teil der deutschen Seele“ sei, Israel zu lieben, ist meist der Fall. Seine Bemühung wird gerade von (anderen) Teilen der deutschen Seele und antizionistischen Linken äußerst affektiv-positiv rezipiert, während ebenso einige Juden:Jüdinnen meinen, ihm für diese „streitbare“, aber doch so „jüdische Debatte“ auf die Schulter klopfen und sich bedanken zu müssen. Die Identität von Sprechenden kann über Erfahrungsberichte hinaus nicht als Legitimitäts- und Qualitätsmerkmal gelten, denn so schaffen wir am Ende einen Diskussionsraum, in dem universalistische Ansprüche irrelevant wären, und bewirken das Gegenteil einer emanzipatorischen Gesellschaft.
Prinzipiell gilt für die meisten Juden:Jüdinnen auch aufgrund von Jahrtausende langen Erfahrungen, dass jede:r Goy zumindest ein nicht in sich geschlossenes antisemitisches Weltbild beweisen muss (the bar is low, but it is there!). Selbstverständlich gilt das für Migrant:innen aus allen Ländern dieser Welt genauso wie auch für jede:n deutsche:n Michel:le und schließt auch Juden:Jüdinnen nicht per se aus. Uns ist die ständige Projektion von Goyim in antisemitischen Spielarten, zu denen auch der Philosemitismus zählt, durchaus bewusst. Sie ändert jedoch nichts an den alltäglichen jüdischen Lebensrealitäten und den überaus realen Gefahren für alle Juden:Jüdinnen durch den in allen gesellschaftlichen Teilen verankerten Antisemitismus.
Vielleicht sind wir zwei für den Feuilleton-Journalisten aber einfach nicht „frum“ und „real-life Jew“(-ish) genug, doch fordern wir eine Debatte, die antisemitische Positionen als solche erkennt und folgerichtig auch ausschließt.
Yevgen Bruckmann, Jahrgang 1996, ist stellvertretender Vorsitzender der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hannover Etz Chaim. Moritz Meier, Jahrgang 1999, ist Vorsitzender der Jüdischen Hochschulgruppe Bielefeld. Gemeinsam engagieren sich die beiden Diaspora-Bubbeles im Vorstand der reformzionistischen Jugendbewegung Netzer Germany e.V.