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Gastbeitrag „Die Ökonomisierung des Sozialen entwertet das Selbstbild“

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„Deutsche Zustände“ – dieser Begriff besitzt in diesen Tagen eine fatale Aktualität und weckt beschämende Assoziationen:

  • an die von Hass und Menschenverachtung motivierten Mordtaten einer rechtsextremen Terrorgruppe;
  • an ein braunes Netzwerk von Sympathisanten und Gleichgesinnten, die diese Gruppe in unterschiedlicher Form unterstützten;
  • an Sicherheitsbehörden und Politiker, die in ihrer gedanklichen Fixierung auf vermutete Gefährdungen „von links“ rechtsextreme Tatbestände verkennen oder ausblenden,
  • an ein mediales Umfeld, das mit „Döner-Morden“ titelt und dabei den eigenen menschenverachtenden Duktus nicht bemerkt oder außer Acht lässt,
  • und schließlich an ein gesellschaftliches Klima, in dem die Opfer und deren Angehörige selbst verdächtigt werden, weil sie für viele dem Typus des „kriminellen Ausländers“ entsprechen oder zumindest mit einem solchen zu tun haben könnten.

Und das ist dann auch das Thema: Die „Deutschen Zustände“, die am Institut für Konflikt- und Gewaltforschung in Bielefeld in den letzten zehn Jahren untersucht wurden. Hier zeigt sich auch, dass es nicht allein um das notwendige NPD-Verbot gehen darf. Eine Engführung allein darauf erzeugt eine nur vordergründige Debatte.
Denn die „Deutschen Zustände“ bezeichnen und umfassen nicht nur das Manifeste, also alltägliche Diskriminierung und Gewalt, sondern zunächst einmal die Einstellungen in der Bevölkerung gegenüber anderen, insbesondere gegenüber schwachen Gruppen und Minderheiten in unserer Gesellschaft.
„Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ – das ist der Begriff, den Wilhelm Heitmeyer geprägt hat und mit dem sein Institut die Formen, Ausmaße, Ursachen und Tendenzen

  • von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Islamfeindlichkeit und Sexismus,
  • der Abwertung von Homosexuellen, Langzeitarbeitslosen, Behinderten und Obdachlosen
  • sowie der Demonstration von Etabliertenvorrechten untersucht hat.

Es ist das Verdienst von Wilhelm Heitmeyer, auf diese Weise unser Sichtfeld erweitert zu haben, auf die verengte Perspektive aufmerksam gemacht zu haben, die oft lediglich „Rassismus“ als Motiv von Ausgrenzung und Gewalt benannte. Heitmeyer hat mit dem analytischen Ansatz der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit – als einem Syndrom einer ganzen Reihe von Einstellungs- und Abwertungsmustern – einen differenzierten und mehrdimensionalen Blick auf „feindselige Mentalitäten“ (Heitmeyer) ermöglicht.

Die Erkenntnis, dass etwa rassistische oder islamfeindliche Haltungen nicht isoliert gesehen werden können von böswilligen Einstellungen gegenüber Obdachlosen oder Behinderten, sondern miteinander zu tun haben – diese Erkenntnis erlaubt darüber hinaus auch die Sicht auf die gemeinsamen Ursachen.

In der Rückschau auf nun zehn Jahre zeigt sich deutlicher, dass feindselige Mentalitäten einen Kontext haben, dass sie mit politischen, ökonomischen, sozialen Entwicklungen korrelieren. Heitmeyer identifiziert als maßgeblichen Faktor der Entwicklung gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit in unserer Zeit den sozialen Tatbestand der „Entsicherung“. Dahinter steht die Beobachtung, dass im Zuge der Globalisierung die Raumgewinne neoliberaler Leitbilder zu einem Kontrollverlust nationalstaatlicher Politik und zu einer Transformation des ökonomischen Systems (des Arbeitsmarktes, des Sozialstaates etc.) geführt haben.

In der Tat: Die Ökonomisierung des Sozialen, die ökonomistische Reduktion des Menschen auf seine Rolle als Marktteilnehmer, als Produzent oder Konsument – sie entwertet das Selbstbild des Menschen als einer selbstbestimmten, in Gemeinschaft für sich und für andere verantwortlich handelnden Persönlichkeit. Konkret: Sie entwertet Lebensentwürfe und prekarisiert Lebensverläufe. Prekarisierung, Abstiegsangst, soziale Desintegration – das sind dann auch die wichtigsten Zutaten für die Entstehung gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit.

Neben der Weitung unseres Sichtfeldes liegt darin aus meiner Sicht ein weiterer großer Gewinn der Studien: namentlich in der theoretischen Formulierung und empirischen Darlegung des Zusammenhangs zwischen

  • einem „autoritären Kapitalismus“ (Zitat Heitmeyer) und der Ökonomisierung des Sozialen sowie dem Zerfallen der Gesellschaft und der Aufkündigung von Solidarität einerseits
  • und andererseits der Entstehung feindseliger Mentalitäten und der Abwertung bestimmter Gruppen von Menschen
  • und hiermit verbunden der Legitimation von Gewalt gegen diese Gruppen.

Dabei wird (fast nebenbei) deutlich, dass Solidarität elementare Voraussetzung des sozialen Friedens in einer Gesellschaft ist – und Bedingung dafür, dass Menschen ohne Angst vor Diskriminierung, Ausgrenzung und Gewalt Verschiedene sein können!

*Wolfgang Thierse (SPD) war von 1998 bis 2005 Präsident des Deutschen Bundestages und von 2005 bis 2013 Bundestagsvizepräsident. Der langjährige frühere Bundestagsabgeordnete ist Schirmherr der Amadeu Antonio Stiftung.

Dieser Beitrag ist ursprünglich auf dem Portal „Mut gegen rechte Gewalt“ erschienen (2002-2022).

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