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Gedenken im Land der Zuständigkeiten

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Deutschland ist für vieles in der Welt berühmt: für die Dichter und Denker, die Richter und Henker, für Pünktlichkeit, Ordnung und Wertarbeit, für einen gewissen Mangel an Humor auf eigene und nicht auf fremde Kosten und für das, was man in Verwaltungskreisen Zuständigkeitsdenken nennt. So jedenfalls wird mir draußen in der Welt das Bild von Deutschland gespiegelt. Der Dichter Friedrich Hölderlin sah die Deutschen als ein zerrissenes Volk, als Menschen, die sich jeweils in ihren Teilen erleben, in Stücken und in ihrem Blut, fern von Leben und Lebendigkeit. Zuständig eben oder nicht zuständig; kein Blick darüber hinaus, kein Schritt außerhalb des Gemessenen. Kein Ich ohne strikte Definition der eigenen Rolle. Jegliches hat seinen Platz.

Heute ist der Holocaustgedenktag. Er wurde auf den 27. Januar festgesetzt, jenem Datum, an dem die Mordfabrik Auschwitz befreit wurde. Wenn je etwas so zerstückelt im Blute lag, um das Unmenschsein anzuklagen, dann die Toten der deutschen Vernichtung. Ihr Lebensblut ist nicht im Sand zerronnen, sondern durch die Öfen verdampft. Und deutsche Handwerker, Denker, Priester, Herren und auch Knechte, junge und gesetzte Leute sahen dabei zu. Sie machten es möglich, viele halfen dabei und bereicherten sich daran auch noch. Nun, heute wird der Ermordeten gedacht ? friedlich und mit Worten der nachhallenden Erschütterung um die toten Juden aus Deutschland und ganz Europa. Für den würdevollen Ablauf dieses Rituals, einschließlich der Mahnung vor neuem Antisemitismus, ist die Politik zuständig. Die Warnung vor Antisemitismus jedoch erstarrt im Celebralen, wenn sie sich nicht über ihre Zuständigkeit hinaus bewegt.

Was sich in den letzten Wochen in Deutschland abgespielt hat, gehört in andere Ressorts. Für den 27. Januar hatten rechtsextreme freie Kräfte und die NPD gleich in Berlin und Zossen Mahnwachen angemeldet um den Opfern des ?Holocaust in Gaza? zu gedenken. Vor der Synagoge in der Berliner Oranienburger Straße ging tagelang ein junger Mann auf und ab. Auf dem Schild, das er hochhielt, stand: ?Israel is the land of Monsters?. Er spazierte vor der Synagoge, die einst der ganze Stolz des aufgeklärten und angepassten deutschen Judentums war, und nicht etwa vor der israelischen Botschaft.

Das war etwa zur gleichen Zeit, als samstags eine ?Friedensdemonstration? der nächsten folgte. Tausende Menschen liefen durch die Zentren deutscher Städte, um gegen Israel zu protestieren. Doch statt die Toten zu beklagen oder gar um sie zu trauern, übertrafen sich die Ideologen gegenseitig im Hass gegen Israel und die Juden. Islamistische Fundamentalisten, die nach einem Gottesstaat schrien, liefen, vorbildlich ins Große und Ganze integriert, neben friedensbewegten Linken (die sich sonst nach meiner Erfahrung, meist herzlich wenig um die Menschen mit Migrationshintergrund scheren), die Vertreter der PKK neben ihren Todfeinden, den rechten, nationalistischen Grauen Wölfen, diese wieder neben vielen bürgerlichen Deutschen, die säkularen Palästinenser von der PLO neben Mitgliedern der Hamas, die gerade in Gaza ihre Freunde von der Fatah massakrieren. Da war die Bunte Republik Deutschland, an der wir so hart arbeiten, mit einem Mal. Auf Plakaten wurden die Deutschen aufgefordert, endlich ihren Schuldkomplex wegen der ermordeten Juden abzulegen. Hysterisch schreiende junge Frauen streckten blutige Puppen in die Höhe, um so der alten Losung vom jüdischen Ritualmord an unschuldigen Kindern neue Kraft zu geben.

Das alles ist nicht neu ? schon früher hatten sich ähnliche Allianzen gezeigt, wenn es darum ging, das eigene Problem mit den Juden über Umwege auszudrücken. Psychologen arbeiten manchmal mit dem Mittel der freien Assoziation, um herauszufinden, mit welchen gängigen oder kranken Phantasien sich ein Patient beschäftigt. Dem Probanden werden Bilder mit Klecksen gezeigt oder Wörter gesagt, zu denen er seine Vorstellungen und Gefühle äußern soll, also das was, ihm unweigerlich und ummittelbar in den Sinn kommt. Die Idee dabei ist, durch solche projektiven Tests etwas näher an die wirklichen Konflikte und tiefen Emotionen eines Menschen heranzukommen, besonders dann, wenn er sich gut hinter Sätzen und Behauptungen zu verbergen vermag. Außerhalb der Behandlungsstuben, in der Realität sozusagen, kann man solche Assoziationsketten auch beobachten.

Neu ist das Direkte und ganz Unverkrampfte dieser Assoziationen. Bei einer der Demonstrationszüge für Gaza stand ich am Straßenrand und sprach mit meiner Kollegin, die gerade von militanten Islamisten bedroht worden war. Da löste sich aus der Menge ein Mann, in gesetztem Alter (und ganz ohne Migrationshintergrund), kam auf mich zu und sprach mich mit meinem Namen an. Er hat sich furchtbar aufgeregt und schnappte nach Luft vor Empörung und hielt mich bei Folgendem offenbar für zuständig: Israel wäre der schlimmste Verbrecher in der Welt, sagte er, und die größte Bedrohung überhaupt. Ich solle jetzt sofort einstimmen in die ?Kindermörder!?-Schreie. Sofort. Und als ich verwundert den Kopf schüttelte, pumpte er sich noch einmal auf und rang um Worte, um sie mir so richtig um die Ohren zu hauen. Er brüllte stammelnd: ?Juden sind? Juden sind?Juden ?sind… Scheiße!? Das war schon sehr komisch und dennoch hat der Mann, der sich später als stadtbekannter Holocaustleugner herausstellte, gerade noch die Kurve gekriegt und trotzdem den projektiven Test mit höchster Punktzahl bestanden.

Gehört also Israelkritik zum Antisemitismus? Die jungen Leute von der Berliner Antifa, die am Abend vor dieser Demo auf einer Party zugunsten der Hamas einen Sprengstoffgürtel versteigert haben, als Attrappe natürlich, sehen das gewiss nicht so, auch nicht jene linken deutschen Frauen, die ihr Verständnis für die Lage der Menschenrechte in Gaza ? vermutlich vor allem die der Frauen dort ? mit dem Tragen eines engen Kopftuches kundtaten. Was aber, wenn nun die NPD unter dem Slogan ?Kein Holocaust in Gaza!? an diesem Gedenktag zum Mahnen und Gedenken aufruft? Wer ist da zuständig? Die Antifa? Wird sie den Nazis den ersteigerten Sprengstoffgürtel schenken oder damit nach ihnen werfen?

Was also tun mit diesem Tag der Erinnerung? Hölderlin, der große deutsche Dichter sagte lange vor dem Holocaust: ?Es ist ein hartes Wort, und dennoch sag‘ ichs, weil es Wahrheit ist: ich kann kein Volk mir denken, das zerrißner wäre, wie die Deutschen. Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herrn und Knechte, Jungen und gesezte Leute, aber keine Menschen – ist das nicht, wie ein Schlachtfeld, wo Hände und Arme und alle Glieder zerstükelt untereinander liegen, indessen das vergoßne Lebensblut im Sande zerrinnt?.
Mit den echten Menschen, den Opfern, hat das alles nichts zu tun. Weder mit denen in Auschwitz, noch mit denen in Gaza. Lasst uns doch einfach um sie trauern.

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