Ein Jahr nach Auffliegen des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) sieht das Bundesamt für Verfassungsschutz eine positive Folge: Die Entdeckung der Terrorzelle habe bei den Sicherheitsbehörden zu spürbaren Veränderungen geführt, erklärte Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen gegenüber dem Sender SWRinfo. Sie hätten „den Rechtsextremismus als ein zentrales Problem, als ein zentrales Thema“ erkannt. Dies habe zur Folge, dass die deutschen Neonazis vorsichtiger agierten oder sich Gruppen auflösten.
„Krieg gegen das System“
Natürlich verhalten sich Nazis derzeit vorsichtiger: Nachdem der Rechtsextremismus jahrelang von Politik und Behörden als Problem nicht wirklich ernst genommen wurde, steht er nun im Zuge des Konjunkturthemas NSU stärker im Fokus – zumindest derzeit. Rechtsterrorismus wird endlich als Gefahr anerkannt, nachdem Behörden, Politik, aber auch zivilgesellschaftliche Gruppen diese Bedrohung lange Zeit unterschätzt haben. Eine konkrete Folge war etwa die kürzlich erfolgte Verbotswelle rechtsextremer freier Gruppen in Nordrhein-Westfalen. Aus dieser Verbotswelle aber auf irgendwelche Auflösungserscheinungen zu schließen, wäre naiv. Im Gegenteil: Experten zufolge wirken die NSU-Taten fast schon identitätsstiftend. Nazis fühlen sich im permanenten „Krieg gegen das System“, den sie auch tagtäglich führen. Die Mordserie passt genau in dieses ideologische Schema, zumal die Opfer auch noch exakt dem rechtextremen Feindbild entsprachen. Bernd Wagner von EXIT-Deutschland verneint etwa die Frage, ob die NSU-Morde, ihre Kaltblütigkeit und Brutalität, zu mehr Ausstiegswilligen geführt habe.
Schon Ende Januar zeigte sich die Verherrlichung der NSU-Morde, als Neonazis bei einer Demo durch die Münchner Innenstadt das Pink-Panther-Lied spielten – also jene musikalische Untermalung, die die Zwickauer Terrorzelle im Bekennervideo zu ihren Morden benutzte. Einschlägige Facebook-Profile nutzen den Pink Panther als Profilbild. Ende November skandierten Anhänger des Fußballklub FSV Zwickau bei einem Spiel im heimischen Stadion „Terrorzelle Zwickau – olé, olé, olé“ und „NSU“. In Berlin sprühten Unbekannte in Köpenick folgende Parole: „Gewalt ist nicht angeboren!!! Gewalt wird provoziert. Die ‚NSU‘ war nur die Antwort auf all den Dreck der uns passiert.“ Es gibt entsprechende T-Shirts, Poster, Videos … All diese Beispiele lassen nur ein Fazit zu: Die Taten des NSU werden in der rechtsextremen Szene gefeiert und verherrlicht.
Das falsche Bild vom Trio
Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass die Mordserie des NSU als ein singuläres Phänomen gesehen wird und nicht als erschreckende Warnung eines wahnsinnigen Rassismus. Das zeigt sich nicht zuletzt darin, dass in der Berichterstattung oft vom „NSU-Trio“ die Rede ist – tatsächlich aber wissen wir derzeit noch gar nicht, wie viele Mitglieder der Nationalsozialistische Untergrund hat oder hatte. Schon jetzt scheint aber klar, dass es sich um ein Netzwerk mit zahlreichen Unterstützerinnen und Unterstützern handelt. Dessen Auffliegen wirkt wie das Auftauchen einer Eisbergspitze, bei der man noch gar keine Ahnung hat, was unter der Wasseroberfläche verborgen ist. Der NSU hat das brutale Potenzial der gewaltbereiten rechtsextremen Szene deutlich gemacht. Wie gut diese organisiert und vernetzt ist, muss nun ermittelt werden. Da ist das Bild vom „Trio“ eine fatale Verkürzung.
Nicht nur Rechtsterrorismus muss im Zuge der NSU-Ermittlungen thematisiert werden. Auch die ganz alltägliche rechte Gewalt, die Kultur des Wegschauens, die vieler orten herrscht und die Verharmlosung rechtsextremer Taten dürfen nicht aus dem Blick geraten. Doch immer noch wird rechtsextremer Alltagsterror von Polizei und Behörden oft noch herunter gespielt. Das hat nicht zuletzt die Broschüre „Das Kartell der Verharmloser“ der Amadeu Antonio Stiftung gezeigt.
Rassismus als Tabu
Noch immer ist es in Deutschland fast schon ein Tabu, Rassismus festzustellen oder gar anzuprangern. Wer es trotzdem tut, sieht sich nicht selten dem Vorwurf des „Nestbeschmutzers“ ausgesetzt. Doch erst, wenn offen und umfassend genau darüber diskutiert werden kann, wird den Nazis gesellschaftlicher Raum genommen.
Da passt es, dass der bundesweite Aktionstag am 4.11. ein Jahr nach der Enttarnung der NSU-Mordserie unter dem Motto „Das Problem heißt Rassismus“ steht. Laut dem organisierenden Bündnis gegen das Schweigen ist geplant, vor möglichst allen Landesämtern für Verfassungsschutz oder Innenministerien, aber auch an anderen Orten in größeren Städten Kundgebungen zu organisieren, die der Opfer gedenken, die den von Diskriminierung und Rassismus Betroffenen eine Stimme geben und die das skandalöse Verhalten der deutschen Behörden anprangern. Weiter schreibt das Bündnis: „Ein breiter gesellschaftlicher Aufschrei ist bisher ausgeblieben. Setzen wir am 4. November in möglichst vielen Städten ein lautes, vielfältiges und deutliches Zeichen gegen Rassismus und das Versagen staatlicher Institutionen!“
Bündnis gegen das Schweigen
Aufruf zum bundesweiten Aktionstag am 4. November
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