Obwohl die Teilnehmer:innenzahlen der Demonstration sich mit 2000 Impfgegner:innen im eher schmaleren Bereich befand, feiert die Szene den Tag und den Aufmarsch als Sieg. Der rechtsradikale YouTuber Matthäus Westfal filmt sich vor dem Bundestag, während er vorbeilaufende Politiker:innen beleidigt. Der Abgeordneten Tessa Ganserer ruft er transfeindliche Pöbeleien hinterher, dann schreit er: „Und wir sind gegen die Impfpflicht! Und wir haben heute einen Teilsieg errungen! Aber wir werden weiter kämpfen!“ Dann fügt er drohend hinzu: „Wir beobachten Sie ganz genau weiter!“ Seine Angriffe gegen Ganserer und deren Kolleg:innen teilt er anschließend stolz auf Telegram zur Belustigung seiner Abonnent:innen (ironischerweise hatte Ganserer gegen die Impfpflicht gestimmt).
Westfal ist nicht der Einzige, der sich gerade als schlechter Gewinner im Kampf gegen eine imaginierte Gesundheits-Diktatur geriert. Auf Telegram und Twitter feiern sich Impfgegner:innen von der verschwörungsideologischen Bewegung bis in die extreme Rechte. Alice Weidel, die im Bundestag die Impfpflicht pathetisch als „verfassungsfeindlich“ und „totalitären Angriff auf das Individuum“ deklariert hatte, äußert sich hämisch auf Twitter: „Die #Ampel bringt nicht annähernd eine Mehrheit für die #Impfpflicht zustande. Die #Bundesregierung hat fertig. Das muss Konsequenzen haben: #Lauterbach ist nicht mehr zu halten, und auch der Kanzler muss sich fragen, ob er der richtige Mann für diesen Job ist. #GesetzDerSchande“
Hashtag-Aktivismus
#GesetzderSchande ist einer von mehreren Hashtags, die von der Impfgegner:innen-Bewegung in die Twitter-Trends gepusht wurden. Es ist naheliegend, dass die Bewegung vor der Abstimmung und der Demonstration noch einmal sämtliche Social Media-Reserven aufgebracht hat, um gesellschaftlichen Druck aufzubauen. Der Begriff der „Schande“ stigmatisiert ein Gesetz, das lediglich den Schutz von vulnerablen Menschen vor einem tödlichen Virus garantieren soll, als moralisch verwerflich, als etwas, für das sich Befürworter:innen gefälligst zu schämen haben.
Wie üblich hält sich die Szene nicht damit zurück, die Debatte moralisch aufzuladen und jede Person, die es wagt, sich für das „Gesetz der Schande“ auszusprechen, zum Feindbild zu deklarieren. Denn, so die Tweets, geht die Abstimmung für die Impfpflicht mit moralischer Verkommenheit einher. Zahlreiche Postings suggerieren, dass die entsprechenden Abgeordneten ohnehin ausnahmslos bereits Agent:innen von „Big Pharma“ seienund das Gesetz der erste Schritt zu Karl Lauterbachs Alleinherrschaft. Ein „Querdenker” schreibt auf Twitter: „Das #GesetzderSchande betrifft nicht nur Impfgegner, sonder alle. Es ermächtigt den Gesundheitsminister zu entscheiden was sich jeder wie oft zu injizieren hat. Unser aller Wohl hängt dann von Politikern ab, die von Big Pharma beeinflusst werden.“ (sic!) Ein anderer: „Sollte es kommen, wird das Ullmann-Dahmen-Gesetz eine Zäsur in Nachkriegsdeutschland darstellen. Es wird als #GesetzderSchande in die Geschichte eingehen, sollte Deutschland danach jemals wieder zu Freiheit und Grundgesetz zurückkehren können.“
Wie üblich finden sich auch NS-Relativierungen. Querdenker:innen bedienen sich dem Nürnberger Kodex, also einer ethischen Richtlinie bezüglich der Durchführung medizinischer Experimente am Menschen. Der Kodex wurde 1947 als Reaktion auf die unter dem Nationalsozialismus verübten Menschenexperimente durchgesetzt. Sowohl auf Twitter, aber vor allem über Telegram bemühen Verschwörungsgläubige das Narrativ, dass die Impfpflicht ungefähr auf dem gleichen Level steht, wie die Experimente von Josef Mengele. Die Gruppierung „Ärzte stehen auf“ hatte es sich nicht nehmen lassen, sogar einen offenen Brief an die Stadt Nürnberg zu schreiben, der besagt: „Seit 75 Jahren hat die Stadt Nürnberg die Ehre und Pflicht, die im Nürnberger Kodex unverbrüchlich für die Menschheitsfamilie dokumentierten Menschenrechte bezüglich medizinischer Experimente zu hüten. Ausgerechnet im Jubiläumsjahr ist es ohrenbetäubend still geworden um diese Errungenschaft der Humanität. Fällt nur uns das auf? Wie steht Nürnberg dazu? Ist Nürnberg bereit, die erste Feuerprobe des Nürnberger Kodex zu bestehen?“
Schadenfreude und Niedertracht
Auch der Hashtag #Ichhabemitgemacht ist eine weitere Referenz auf den Nationalsozialismus. Der zur Abstimmung gepushte Hashtag markiert Personen des öffentlichen Lebens als Feindbild, die sich für Corona-Maßnahmen ausgesprochen haben. Besonders populär sind Fotos niedergeschlagen blickender jüngerer Abgeordneter wie der Grünen-Politikerin Emilia Fester. Der rechtspopulistische Publizist Stefan Homburg twittert: „Stimmverteilung nach Fraktionen: Fast alle Stimmen für die Impfpflicht kamen von Rot-Grün. Im folgenden Link können sie nach Namen, Fraktionen und Wahlkreisen suchen und 296 neue Kandidaten für #IchHabeMitgemacht finden.“ Die Kommentare darunter lesen sich wie Drohungen: „Werden alle gespeichert. Wir vergessen nicht!“ oder „Merkt Euch die Namen sehr genau…Sie werden bald hoffen, dass man sich nicht mehr dran erinnert.“ (sic!)
Politiker:innen und Aktivist:innen, die ihren Frust über das gescheiterte Gesetz auf Social Media artikulieren, erhalten zahlreiche hämische Kommentare im Stil von „Heul doch“. Dies betrifft auch hier vor allem jüngere Abgeordnete wie Fester oder ihren Parteikollegen Timon Dzienus. Hier äußert sich die Häme und Schadenfreude vor allem explizit aus der Perspektive von Menschen, die sich von einer jüngeren Generation bevormundet fühlen.
Zwischen all den Hassfantasien findet die Szene noch Raum, sich selbst zu loben. Die Rücknahme von Corona-Maßnahmen wie der Maskenpflicht, 2G-Regelungen und nun auch der Impfpflicht wird als Sieg der Bewegung interpretiert. Der siebte April soll „inoffizieller Feiertag“ werden. Verschwörungsnachwuchs Niklas Lotz twittert begeistert, und natürlich nicht ohne Faschismus zu relativieren: „EIL: Impfpflicht ab 60 ist gescheitert! Keine Mehrheit im Bundestag! Das ist ein Sieg von uns allen. Wir als Querdenker, Schwurbler und Verschwörungstheoretiker haben gegen die Lockdown-Fetischisten gewonnen!“
Der Junge Alternative-Aktivist Nils Hartwig verlautbart auf Twitter: „Fakt ist-Ohne ein Mosaik aus einem Parlamentarischen Widerstand, vertreten und angeführt durch die AfD, Bürgerbewegungen in ganz Deutschland, Spaziergängern und unermüdlichen Internet-Aktivisten hätte es heute eine Mehrheit zur Impfpflicht gegeben. Danke!“ (sic!)
AfD-Politiker Stefan Brandner postet ein Foto seiner glücklich grinsenden Fraktionskamerad:innen und schreibt: „So sehen Sieger aus… aber gewonnen haben heute die #Demokratie, die #Freiheit, die #Grundrechte, die Vernunft & vor allem alle Bürger! #AfD“, dahinter Medaillen- und Deutschland-Emojis.
Der Kampf geht weiter
Eine verschwörungsideologische Szene ist darauf angewiesen, sich selbst als David im Kampf gegen Goliath zu wähnen. Obwohl die Interessen der Bewegung vielfach deckungsgleich mit kapitalistischen Wirtschaftsinteressen sind und die Pandemiebekämpfung in Deutschland weitaus inkonsequenter als in anderen Ländern ausfiel, wähnen sich die Corona-Leugner:innen weiterhin im Krieg. Ein Fan des Holocaust-Leugners Nikolai Nerling kommentiert unter dessen Telegram-Nachricht zum gescheiterten Entwurf: „Alle von diesen Politdarstellern gehören von mir aus weg. Erstmal durchatmen. Aber wir dürfen jetzt nicht unaufmerksam werden, es muss weiter gekämpft werden. Für das Pflegepersonal und für die Alten und die Kinder und überhaupt für UNS alle.“
Die „Freien Sachsen“, eine rechtsextreme Kleinstpartei, die zahlreiche Anti-Maßnahmen-Proteste im Freistaat organisierte, werden noch konkreter: „So langsam sollten wir uns in Stellung bringen, um die Verbrecher vor das internationale Gericht zu zerren! Der Kampf ist noch nicht vorbei.“
Auch die AfD-Abgeordnete Christina Baum gibt sich in einem Interview mit Matthäus Westfal kämpferisch: „Es ist vorerst tatsächlich nur eine gewonnene Schlacht heute, der Krieg wird wohl weiter gehen. Deshalb ist es wichtig weiter zu demonstrieren und spazieren zu gehen, auch weil die beschlossene Teilimpfpflicht für das Pflegepersonal weiterhin in Kraft ist.“
Niklas Lotz droht: „Ruhe ich mich jetzt aus? Ich werde weiter in meinen Videos und Beiträgen für unsere Interessen kämpfen – Bei allen politischen Themen! Wer meine Arbeit freiwillig finanziell unterstützen und somit auch zukünftig ermöglichen möchte, kann das hier tun“ – und gibt seine Kontodaten an. Denn letztendlich ist dieser Krieg gegen die Gesundheitsdiktatur vor allem etwas, mit dem die Szene ihre Taschen füllen kann.
Foto: Wikimedia / Ank Kumar / CC BY-SA 4.0