Ein Rechercheteam von ZEIT ONLINE und DIE ZEIT ist 222 gewalttätigen Angriffen auf Flüchtlingsunterkünfte in diesem Jahr nachgegangen. Es sind alle Attacken, bei denen Menschen zu Schaden gekommen sind oder zu Schaden hätten kommen können. Das Ergebnis: Nur in vier Fällen haben Gerichte bisher Täter verurteilt, in weiteren acht Fällen wurde Anklage erhoben. Das sind gerade einmal fünf Prozent aller Angriffe. In weniger als einem Viertel aller Fälle konnte die Polizei überhaupt einen Tatverdächtigen ermitteln. Fast alle Taten sind also bis heute nicht aufgeklärt. Elf Prozent der Verfahren wurden mittlerweile sogar ganz eingestellt. Und dass, obwohl schon 104 Menschen bei Übergriffen verletzt wurden.
ZEIT ONLINE und ZEIT haben aus der Statistik des Bundeskriminalamts, die 747 Straftaten gegen Flüchtlingsunterkünfte auflistet, alle kleineren Delikte aussortiert. Schmierereien, Propagandadelikte und Pöbeleien wurden beiseite gelassen und die schweren Fälle dann einzeln geprüft. So ist die erste belastbare Analyse entstanden, wie der deutsche Rechtsstaat auf die schlimmsten Gewalttaten reagiert. Das Ergebnis ist erschütternd.
Vor allem Brandanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte sind ein gefährliches Massenphänomen geworden. Von Januar bis November ist die Zahl der Angriffe stark gestiegen.
Die Täter nehmen keine Rücksicht darauf, ob Menschen verletzt werden könnten oder sterben. Von den 93 Brandanschlägen in diesem Jahr richtete sich fast die Hälfte gegen bewohnte Unterkünfte. Es ist ein glücklicher Zufall, dass bisher kein Flüchtling getötet wurde. Gleichzeitig ist die Zahl der Anschläge auf unbewohnte Heime zuletzt angestiegen.
Die Recherchen zeigen auch: Die Aufklärungsquote für die Verbrechen ist – Stand Ende November – weitaus niedriger als bei vergleichbaren Delikten. Schwere Brandstiftung wird in Deutschland normalerweise in mehr als der Hälfte aller Fälle aufgeklärt.
Der Anteil nicht aufgeklärter Fälle ist bei Flüchtlingsheimen besonders hoch
Die Angriffe finden nicht nur im Osten des Landes statt. Sie sind längst ein bundesweites Phänomen, und die Aufklärung gelingt im Westen auch nicht häufiger als im Osten. In Baden-Württemberg zum Beispiel ist noch kein einziger schwerer Angriff auf eine Flüchtlingsunterkunft aus diesem Jahr aufgeklärt. Dennoch liegt die Zahl der Fälle in Sachsen am höchsten – sowohl absolut als auch gemessen an der Bevölkerung.
Warum also verlaufen die Ermittlungen so schleppend? Es gibt Gründe, die in der Natur der Taten liegen. Die meisten Angriffe geschehen nachts, oft sind die Täter schnell verschwunden. Molotowcocktails werden aus vorüberfahrenden Autos geworfen, Stahlkugeln auf Fenster gefeuert, Wasserhähne in leerstehenden Gebäuden aufgedreht. Brände werden so gründlich gelegt, dass das Feuer alle Spuren zerstört.
Manche Unterkünfte liegen zudem abseits, sodass kein Zeuge die Tat beobachten kann. Oft stoßen die Ermittler auch auf eine Mauer des Schweigens, wenn sie nach den Tätern fragen. Wenn die Gebäude noch unbewohnt sind, scheinen viele Nachbarn die Taten zu billigen. Wenn sich dann niemand zur Tat bekennt, der Täter nirgends mit der Tat prahlt, laufen die Ermittlungen ins Leere.
Doch nicht alles lässt sich mit dem Wesen der Taten erklären. Dort, wo Polizei und Staatsanwaltschaft erfolgreich waren, ermittelten sie oft mit hohem technischen und personellen Aufwand. An vielen Orten fehlt es an Beamten, um die Täter dingfest zu machen. Zuletzt wurde die Zahl der Polizisten vor allem im besonders betroffenen Ostdeutschland stetig kleiner.
Staatsanwälte klagen zudem, dass es zu wenige Brandsachverständige gibt, die die Täter überführen könnten. Sicher ist: Wenn der Staat wirklich mit der „ganzen Härte des Rechtsstaates“ gegen die Täter vorgehen wollte, müsste er dramatisch mehr tun.
So haben wir gerechnet:
Wie hoch ist die Zahl der Gewalttaten gegen Flüchtlingsunterkünfte und wie viele dieser Taten sind bisher aufgeklärt? Ein 15-köpfiges Rechercheteam von ZEIT ONLINE und DIE ZEIT hat sich acht Wochen lang über alle öffentlich verfügbaren Daten gebeugt, um diese Frage zu beantworten – und ist einzelnen Fälle im Detail nachgegangen.
Unsere Recherche füllt damit eine Lü href=“https://www.mut-gegen-rechte-gewalt.de/service/chronik-vorfaelle“ target=“_blank“>Amadeu Antonio Stiftung, des Antifaschistischen Pressearchiv und Bildungszentrums Berlin (APABIZ), des Bundeskriminalamts und der Bundesregierung zurück. Das Ziel: Eine möglichst genaue Übersicht über alle Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte in diesem Jahr – und zwar jene, die das Ziel hatten, die Unterkunft zu zerstören oder Menschen zu verletzen.
222 Fälle haben wir nach unserer Prüfung als schwer eingestuft. Berücksichtigt haben wir alle Taten, die sich zwischen dem 1. Januar und dem 30. November ereignet haben.
Die Zahl von 222 Fällen ist deutlich höher als jene, die das Bundesinnenministerium im November veröffentlicht hat. Das Ministerium spricht offiziell nur von 120 Gewalttaten gegen Flüchtlingsunterkünfte. Insgesamt haben die Behörden im laufenden Jahr 747 so genannte „lagerrelevante Delikte zum Themenfeld ‚Straftaten gegen Asylunterkünfte'“ registriert. Darin enthalten sind jedoch auch einfache Sachbeschädigungen, Propagandadelikte, Schmierereien und Volksverhetzungen.
Die Rechercheure konfrontierten Polizisten und Staatsanwaltschaften im ganzen Land mit etlichen Fragen: Kam jemand bei dem Angriff zu Schaden? Gibt es schon Tatverdächtige? Wurde ein Beschuldigter angeklagt oder sogar verurteilt? Auf diese Weise ist ein Datensatz entstanden, der erstmals zeigt, wie lückenhaft die Taten bisher aufgeklärt sind. Den ganzen Datensatz finden Sie hier.
Zusammenfassung: Die Untersuchung
Mehr als 200 Angriffe und kaum überführte Täter: Eine Recherche von ZEIT ONLINE und ZEIT offenbart, wie wehrlos der Rechtsstaat angesichts der Gewalt gegen Flüchtlinge ist.
Ein Rechercheteam ist acht Wochen lang 222 Angriffen auf Flüchtlingsunterkünfte nachgegangen, die in diesem Jahr registriert wurden. Ausgewertet wurden die bundesweiten Daten von Angriffen, deren Ziel es war, Flüchtlingsunterkünfte zu beschädigen oder zu zerstören und/oder die darin lebenden Menschen zu verletzen oder zu töten. Rassistische Schmierereien an den Hauswänden wurden nicht mitgezählt, ebenso wenig fremdenfeindliche Hetze von Demonstranten vor Asylbewerberheimen. Um in der Statistik erfasst zu werden, mussten mindestens Steine geflogen sein.
Das Ergebnis im Detail
Zwischen dem 1. Januar und 30. November dieses Jahres wurden mindestens 222 Gewalttaten gegen Flüchtlinge und ihre Unterkünfte verübt, darunter 93 Brandanschläge, 93 Sachbeschädigungen, 8 Wasserschäden (die rechtlich zwar auch Sachbeschädigungen sind, aber in dieser Statistik gesondert aufgeführt werden, weil auf diese Art eine Unterkunft schnell unbewohnbar gemacht werden kann), 28 tätliche Angriffe.
119 der Anschläge richteten sich gegen bewohnte, 85 gegen unbewohnte Unterkünfte, in den übrigen 18 Fällen konnte trotz Nachfrage nicht geklärt werden, ob in den Gebäuden zum Zeitpunkt des Angriffs bereits Flüchtlinge untergebracht waren.
Kein Bundesland blieb von diesen Überfällen verschont, am schwersten betroffen ist Sachsen, sowohl in absoluten Zahlen als auch im Verhältnis zur Einwohnerzahl.
Nur in 4 Fällen haben Gerichte bisher Täter verurteilt, in weiteren 12 Fällen wurde Anklage erhoben. Das sind gerade fünf Prozent aller Angriffe. In weniger als einem Viertel der Fälle konnte die Polizei überhaupt einen Tatverdächtigen ermitteln. Fast alle Taten sind bis heute nicht aufgeklärt. Dagegen wurde 24 Verfahren mittlerweile eingestellt. Und das, obwohl 104 Menschen bei Übergriffen verletzt wurden.
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Übernahme mit freundlicher Genehmigung der Redaktion. Der Artikel erschien zuerst am 03. Dezember 2015 auf ZEIT Online. Hier sind auch die Grafiken animiert.