Trotz deutlich rückläufiger Zahlen von Asylsuchenden bleibt rassistisch motivierte Gewalt gegen Geflüchtete ein deutschlandweites, flächendeckendes Problem. Die Amadeu Antonio Stiftung und Pro Asyl dokumentieren für das Jahr 2017 in ihrer gemeinsamen Chronik flüchtlingsfeindlicher Vorfälle bundesweit 1.713 Straftaten, die sich gegen Geflüchtete richten. Das sind im Schnitt 4,6 Straftaten täglich.
Von Schüssen, Brand- und Sprengstoffanschlägen
Unter den 1.713 Angriffen auf Asylsuchende und ihre Unterkünfte 2017 sind 23 Brandanschläge und 1.364 sonstige Übergriffe wie Sprengstoffanschläge, Steinwürfe, Schüsse, aber auch Hakenkreuz-Schmierereien und andere Formen von Volksverhetzung und weitere Hass-Propaganda. Daneben dokumentiert die Chronik 326 tätliche flüchtlingsfeindliche Übergriffe wie Angriffe mit Messern, Schlag- oder Schusswaffen und Faustschläge.
Besonders erschreckend ist die Willkür und Brutalität mit der dabei vorgegangen wird. Unvermittelte Hammerschläge ins Gesicht eines Geflüchteten am helllichten Tag im mecklenburg-vorpommerschen Neubrandenburg oder Angreifer, die im niedersächsischen Burgdorf einen Flüchtling niederschlagen und anschließend ihre Hunde auf ihn hetzen, sind nur zwei Beispiele aus den letzten Wochen des Jahres 2017.
Nach Angaben des BKA konnten bei 54 Delikten insgesamt 84 Tatverdächtige ermittelt werden. Viele Verfahren seien aber noch nicht abgeschlossen.
Geht der Trend zum Verschweigen?
Die Datengrundlage der Chronik sind öffentlich zugängliche Berichte in Zeitungsartikeln, Pressemitteilungen der Polizei sowie Meldungen lokaler und regionaler Register- und Beratungsstellen für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt. Dabei zeigt sich, dass Gewalt gegen Geflüchtete in vielen Fällen keine Meldung mehr wert ist. Die Berliner Polizei hat 2017 beispielsweise nur zu 24 von insgesamt 344 Vorfällen eine Pressemitteilung veröffentlicht. Ähnlich ist die Situation unter anderem in Bayern.
Tahera Ameer, Leiterin des Projektes „Aktion Schutzschild“ der Amadeu Antonio Stiftung, das die Chronik führt, spricht von einem bundesweiten Trend. „Wir sehen, dass sich die Arbeit verändert hat. Die Quartalszahlen der Bundesregierung waren vor einigen Jahren lediglich ein Mittel, die Chronik auf ihre Vollständigkeit hin zu überprüfen und gegebenenfalls Polizeien auf Lücken in ihrer Zählung hinzuweisen. Nun findet sich darin Wissen, das die Zivilgesellschaft auf anderem Wege gar nicht erreicht.“ Zu Beginn der Chronik 2014 wurden die flüchtlingsfeindlichen Vorfälle täglich den bundesweiten Polizei-Pressemitteilungen, den Berichten der Opferberatungsstellen und den Medien entnommen. Da Übergriffe mittlerweile jedoch kaum noch durch Pressemitteilungen der Polizei an die Öffentlichkeit gelangen, bekommen die Quartalszahlen des BKA eine neue Bedeutung: Sie enthalten Informationen, die sonst niemand hat. Und die Zahlen des BKA durchzuarbeiten und abzugleichen sei eine aufwändige Arbeit, so Tahera Ameer. „Es ist beinahe so, als werde der Zivilgesellschaft der Zugang zu den Daten absichtlich erschwert.“
Kathrin Fändrich, stellvertretende Pressesprecherin des bayerischen Innenministeriums, merkt jedoch gegenüber dem BR an, um der Polizei hier einen Vorwurf machen zu können, müsse man sich erstmal anschauen, „wie hoch der prozentuale Anteil der Pressemeldungen bei allen in Bayern registrierten Straftaten ist.“
„Teil des Problems“
Timo Reinfrank, Geschäftsführer der Amadeu Antonio Stiftung, bilanziert: „Wer bei über 1.700 Übergriffen gegen Asylsuchende von einer Entspannung der Lage spricht, verharmlost die Normalisierung rechter Gewalt. Rassistisch motivierte Täter_innen verüben Anschläge auf bewohnte Unterkünfte und nehmen dabei den Tod von Menschen in Kauf. Dass Brandanschläge und gewaltsame Angriffe auf Geflüchtete heute kaum noch eine Randnotiz wert sind, ist Teil des Problems.“
Dieser bundesweite Trend, dass flüchtlingsfeindliche Vorfälle nicht mehr in die Öffentlichkeit gelangen, sondern von polizeilicher Seite in vielen Fällen möglicherweise schlicht als „irrelevant“ bewertet werden, ist erschreckend.
Daher fordern PRO ASYL und die Amadeu Antonio Stiftung mehr Transparenz seitens der Sicherheitsbehörden und ein entschlosseneres Vorgehen gegen die Täter_innen. Wenn polizeiliche Pressestellen nicht mehr regelmäßig über flüchtlingsfeindliche Straftaten informieren und die Taten erst mit großer Verzögerung in offizielle Statistiken eingehen, muss davon ausgegangen werden, dass Straftaten gegen Geflüchtete nicht mit der gebotenen Priorität verfolgt werden. Es ist ein Versagen des Rechtsstaates, wenn Menschen, die Schutz vor Krieg und Verfolgung suchen, hierzulande ebenfalls Angst haben, vor die Tür zu gehen und unter psychischen Belastungen leiden.
Da die Mitarbeiter_innen der Chronik die BKA-Zahlen noch nicht gänzlich durchgearbeitet haben, ist es sehr wahrscheinlich, dass die Zahl flüchtlingsfeindlicher Übergriffe für das Jahr 2017 weiter steigen wird. Das Ausmaß an rassistisch motivierten Angriffen ist jedoch ohnehin um ein Vielfaches höher, als es die Chronik erfasst. Denn hier werden nur Übergriffe dokumentiert, wenn der Status der Betroffenen als Geflüchtete bestätigt wurde. Auch Übergriffe auf Unterstützer_innen werden in dieser Chronik nicht dokumentiert.
Studie: AfD-Facebook-Seite schürt die Gewalt
In einer Studie unter dem Titel “Fanning the Flames of Hate: Social Media and Hate Crime” der University of Warwick wurde die Verbindung von Hasskommentaren auf der Facebook-Seite der Alternative für Deutschland (AfD) und Übergriffen auf Geflüchtete in Deutschland analysiert. Das Ergebnis dieser Untersuchung zeigt eine starke Verbindung zwischen Kommentaren zu Geflüchteten auf der Facebook-Seite der AfD und zu rassistischen Übergriffen. Demnach finden Angriffe auf Geflüchtete gehäuft in den Wochen statt, in denen es auch mehr Hasskommentare über Flüchtlinge auf der AfD-Facebook-Seite gibt. Das heißt: Die Posts auf der AfD-Seite nehmen Einfluss auf die Wahrnehmung ihrer User_innen. Post zum Flüchtlingsthema auf den Facebook-Seiten anderer großer Parteien haben keinen solchen Einfluss.
Studie: Mehr Hasskommentare führen zu mehr Gewalt
Der Hass und die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit der Nutzer_innen, unterstützt von den Mechanismen von Twitter, Facebook und Co., schaffen es somit, entscheidend dazu beizutragen, das aus Posts, Kommentaren oder Hashtags Brandsätze oder Übergriffe werden.