Der zweite Verhandlungstag im Prozess gegen den Halle-Attentäter beginnt mit einem Sprung ins kalte Wasser: Im Sitzungssaal des Landgerichts Magdeburg wird das Video vorgespielt, das der in diesem Text aus Respekt für die Betroffenen namenlos bleibende Angeklagte während des Anschlags über die Streaming-Plattform Twitch live übertrug. Eine erschütternde, hautnahe 35-minütige Aufnahme des mörderischen Angriffs, die nur schwer auszuhalten ist. Einige Nebenkläger*innen verlassen währenddessen den Saal, andere senken den Kopf, einige schauen dem Angeklagten direkt ins Gesicht und beobachten seine Reaktion. Dieser wirkt vom Video gefesselt, studiert jeden Zug, analysiert jeden Fehler, grinst an manchen Stellen. Nach und nach verschwindet sein Lächeln, er scheint enttäuscht über das Scheitern seines Plans. Er schaut das Video heute zum zweiten Mal, nachdem es ihm bereits bei der Vernehmung vorgespielt wurde.
Im Video fällt auf, wie lange der Täter auf offener Straße ungehindert um sich herumschießen, Sprengkörper zünden und Menschen töten kann. Weit und breit ist nicht einmal ein einziger Polizist zu sehen – auch nicht vor der Synagoge. Er erschießt die 40-jährige Passantin Jana L. auf ihrem Heimweg wegen einer einfachen Frage: „Muss das sein, wenn ich hier vorbeilaufe?“ Jana L. hatte die Gefährlichkeit der Situation nicht erkannt. Er ermordete sie kaltblütig.
Nachdem es dem Angeklagten nicht gelingt, in die Synagoge einzudringen, fährt er zu einem Dönerladen. Hier schießt er auf den 20-jährigen Kevin S. Der junge Maler war in seiner Mittagspause. Er verlässt den Laden, fährt in seinem Auto kurz herum, steigt wieder aus, kann ungehindert den Dönerladen erneut betreten – und erschießt Kevin S.
Prozedurales Pingpong
Nach dem Video gibt es eine 15-minütige Pause. Danach folgt eine Runde prozeduralen Pingpongs mit Beanstandungen der Nebenkläger*innen, Anträgen der Verteidigung und mehreren kurzen Pausen. Es geht darum, ob der Angeklagte seine Aussage vom Vortag ändern darf, nach der er gewusst habe, dass sich Menschen in der Synagoge befanden. Er darf nicht, der Antrag wird vom Gericht abgelehnt.
Danach dürfen die Nebenklagevertreter*innen den Angeklagten befragen. Es gelingt ihnen immer wieder, ihn zu zügeln: Sie unterbrechen ihn, sobald er von einer konkreten Antwort auf die gestellte Frage abweicht. Und sie versuchen, ihm keinen Raum zu geben, um seine menschenverachtende Ideologie zur Schau zu stellen. So kontert die Rechtsanwältin Kristin Pietrzyk: „Ich werde Ihnen hier nicht die Bühne geben, zu sagen, was Sie wollen“ oder „Ich stelle hier die Fragen“. Trotzdem fallen immer wieder antisemitische und rassistische Äußerungen, so gefestigt ist der Angeklagte in seinem verschwörungsideologischen Weltbild.
Er redet viel – und gerne. Vor allem zu den technischen Fragen um die Tat und seine Waffen gibt er höchst detaillierte Antworten: Über den Bau seiner Sprengkörper, die Zusammensetzung seiner Nagelbomben, die Reichweite seiner Schrotflinten. Ganz so, als wolle er, dass künftige Attentäter aus seinen Fehlern lernen. Schließlich hatte er auch seine Lehrer: Er erweckt den Eindruck, dass er zahlreiche Anschläge minutiös studierte, um sich auf seine Tat vorzubereiten.
Ersetzt und entsetzt
Am zweiten Prozesstag bekommen vor allem Fragen zu seiner Radikalisierung mehr Raum. Auf der theoretischen Ebene nennt er den „Großen Austausch“, ein neurechter Kampfbegriff, der durch den französischen Autor Renaud Camus und sein gleichnamiges Essay aus dem Jahr 2011 popularisiert wurde. Darin beklagt Camus, dass Muslim*innen die französische Kultur und Gesellschaft zerstören und die weißen Franzos*innen ersetzen würden. Das hat der Angeklagte anscheinend verinnerlicht: Er spricht immer wieder von seiner Angst, „ersetzt“ zu werden.
„Der Große Austausch“ ist auch ein theoretischer Grundpfeiler der rechtsextremen Identitären Bewegung. Am Vortag erwähnte der Angeklagte die Gruppe als Beispiel dafür, dass es keine friedliche politische Lösung gebe, denn man werde sofort als „extremistisch“ abgestempelt und vom Verfassungsschutz beobachtet. Diese Paranoia war unter anderem ein wichtiger Grund, weshalb der Angeklagte keiner Gruppe beigetreten ist und alleine agierte.
Die Angst des Angeklagten, ersetzt zu werden, hat auch eine ironische Dimension. Seit Jahren war er beschäftigungslos, sozial isoliert, lebte im Kinderzimmer bei seiner Mutter mit einem Schloss an der Tür. Er war schon längst nicht mehr Teil der Gesellschaft, der er den Rücken kehren wollte. Er behauptet, dass ihm Nichtdeutsche die Arbeit weggenommen hätten. Welche Arbeit genau, fragt Rechtsanwältin Pietrzyk wiederholt. Die Frage bleibt unbeantwortet. Tatsächlich ging es nie darum, dass dem Angeklagten eine konkrete Sache verwehrt blieb, sondern um seine menschenverachtende Wahrnehmung von vermeintlich Anderen. Das Problem liegt hingegen woanders: In seiner Radikalisierung.
8chan, Bitcoins und das Darknet
Auf den Text „Der Große Austausch“ stieß der Angeklagte 2015 während des Sommers der Migration nach Europa. Neu sind die Behauptungen darin nicht – und auch zuvor hatte sich der Angeklagte mit ähnlichen rechtsextremen Thesen online beschäftigt. Wo genau, will er nicht sagen. Er wolle niemanden „anscheißen“, wolle seine eigenen Leute schützen – und widerlegt somit erneut die von Medien und Politik viel verbreitete Behauptung, dass er ein Einzeltäter sei. Denn er war Teil einer größeren gleichgesinnten Online-Community, die größtenteils noch nicht aufgedeckt werden konnte.
Nach wiederholten Fragen erwähnt der Angeklagte schließlich eine Chatgruppe im Darknet und das mittlerweile gelöschte Imageboard 8chan, dessen Moderator ihm bei einem Treffen eine Bitcoin-Spende im Wert von umgerechnet 1000 Euro auf einem USB-Stick übergab, damit er Angriffe gegen Muslim*innen verüben konnte. Zu den weiteren Umständen und Hintergründen davon gibt er allerdings nichts preis.
Die Geschichte, die er preisgibt, klingt so: Der Angeklagte politisierte und radikalisierte sich seit 2015, verweigerte aber angeblich, mit anderen Menschen im analogen Leben über Politik zu reden – auch nicht mit seiner Familie. Für diesen sozial sonst vollkommen isolierten Mann war das Internet Ort der politischen Sozialisierung und Kommunikation. Und dort war er auch nicht alleine.
Die feministisch-jüdische Weltverschwörung
Eine bislang vernachlässigte Dimension seiner Menschenverachtung ist sicherlich der Antifeminismus. Diesen bringt er explizit zum Ausdruck, indem er dem Feminismus die Schuld dafür gibt, dass zu wenig „weiße Deutsche“ geboren werden. Und er betont: Der Feminismus sei jüdisch. Die absurde Behauptung sorgt tatsächlich für Gelächter im Saal. Doch es ist zugleich eine von vielen zutiefst antisemitischen Äußerungen von ihm im Laufe des Tages, die trotz der Strategie der Nebenklage-Anwält*innen durchdringen kann.
Eine große Frage bleibt: Wie genau wurde aus seiner Muslimfeindlichkeit ein eliminatorischer Antisemitismus? Ursprüngliches Ziel seines Anschlags war eine Moschee, räumt er ein. An den beiden ersten Verhandlungstagen betont er aber immer wieder, dass er die „Ursache“ (Jüdinnen und Juden) und nicht das „Symptom“ (Muslim*innen) des von ihm imaginierten Austausches bekämpfen wollte. Denn nach seiner verschwörungsideologischen Weltanschauung hätten Jüdinnen und Juden die „Flüchtlingskrise“ organisiert.
Am Ende des zweiten Prozesstags wirkt der Angeklagte selbstbewusster als am Vortag. Er lacht, grinst, unterbricht. Er verweigert, Fragen zu beantworten. Er weist auf seine Rechte hin, will keine Personen, keine Strukturen belasten. Nach und nach entsteht ein Bild seiner Radikalisierung. Doch der Angeklagte weiß, sich den Prozess zunutze zu machen, antwortet nur, wenn es ihm passt. Ihm ist klar, dass die Welt zuschaut. Und er glaubt, dass der nächste Attentäter mitschreibt. Ein ernstzunehmendes Problem, welches zeigt, dass die juristische Aufarbeitung des Anschlags längst nicht auch die gesellschaftliche und politische ist.
Der Prozess wird am Dienstag, den 28. Juli fortgesetzt. Ein Bericht über den ersten Verhandlungstag lesen Sie hier.