Adiraxmaan Aftax Ibrahim lebt und arbeitet seit fünf Jahren in Halle. Auf der Magdeburger Straße stieg er gerade aus der Straßenbahn und wollte die Straße überqueren, als ihn der Attentäter mit hoher Geschwindigkeit mit dem Auto erfasste. Vor einigen Jahren kam er als Geflüchteter nach Deutschland.
Am 21. Juli begann vor dem Oberlandesgericht Naumburg der Prozess gegen den Halle-Attentäter*, der am 9. Oktober 2019 einen Anschlag auf die Synagoge in Halle und den nahegelegenen Imbiss Kiez-Döner verübte, dabei zwei Menschen ermordete und weitere verletzte. Mehr zum Tathergang lesen Sie hier.
Das folgende Gespräch ist Teil einer Interviewserie mit einigen Nebenkläger*innen des Gerichtsverfahrens. Rachel Spicker hat mit ihnen darüber gesprochen, wie sie den Anschlag erlebt haben, warum sie sich für eine Nebenklage entschieden haben und was sie sich von dem Gerichtsverfahren erhoffen.
Wie haben Sie den Anschlag erlebt?
Ich war auf dem Weg zu meinem Arbeitgeber, ich bin mit der Straßenbahn Nummer 5 bis zur Haltestelle „Magdebuger Straße“ gefahren. Als ich aus der Straßenbahn ausgestiegen bin, habe ich die Straße überquert. Es ging alles so schnell. Ich hörte noch einen Freund von mir rufen, dass ich aufpassen und zur Seite gehen soll. Ich schaute zur Seite und sah wie ein Auto mit hoher Geschwindigkeit auf mich zuraste und mich bewusst ansteuerte. Normalerweise muss man beim Überqueren der Straße nur in eine Richtung schauen, von der die Autos kommen. Der Attentäter war aber als „Geisterfahrer“ auf der falschen Fahrbahn unterwegs. Wie ich später mitbekommen habe, wollte er wohl einer Polizeistreife ausweichen, die auf der anderen Fahrbahn weiter oben an der Straße stand. Ich schaffte es noch zur Seite zu springen, konnte aber nicht vollständig ausweichen, sodass ich seitlich vom Auto erfasst wurde. Ich fiel auf mein rechtes Knie, erlitt dort eine schwere Prellung und hatte Verletzungen an der linken Hand. Mir war sofort bewusst, dass dieser Angriff vom Autofahrer rassistisch motiviert war. Ich dachte noch, naja, es ist ein ganz normaler rassistischer Vorfall, der in Sachsen-Anhalt und in Halle einfach häufiger passiert. Daher wusste ich sofort, wie ich das einzuordnen hatte. Er hat bewusst auf mich als Schwarzer gezielt. Um mich herum waren andere weiße Menschen, auf die er mit dem Auto hätte zufahren können. Ich wusste, dass er auf mich zielte und mich versuchte umzufahren. Nach kurzer Zeit kam ein Rettungswagen und brachte mich ins Krankenhaus. Als ich dort ankam war ich total verwundert, warum ich so viele Ärzt*innen und Pflegepersonal sah. Ich dachte mir, dass etwas passiert sein müsste. Einer der behandelnden Ärzte teilte mir mit, dass der Mann, der mich mit dem Auto erwischt hat, einen Terroranschlag verübt hat und dass ich Glück habe, dass ich noch lebe. Erst da ist mir bewusst geworden, dass diese Tat Teil eines viel größeren Anschlags war.
Wie geht es Ihnen heute?
Mittlerweile geht es mir wieder besser, aber ich denke nicht gern an dieses Ereignis zurück. In der ersten Zeit nach dem Anschlag war ich sehr verunsichert. Ich wusste nicht, wie ich diese Information einordnen sollte, also dass dieser Mann einen Terroranschlag verübt hat. Ich hatte oft Angst und mir ging es psychisch nicht gut. Auch heute noch habe ich manchmal Angst vor schnell fahrenden Autos oder wenn ich zu Fuß die Straße überquere und sich Autos nähern. Erst vor ein paar Tagen habe ich mit einem Freund bei Grün die Straße überquert und ein Linksabbieger hat uns angehupt und angebrüllt, was wir zum Glück nicht verstanden haben. Aber es war grün, also durften wir über die Straße gehen, der Autofahrer war wütend und schaute uns hasserfüllt an. Solche Erfahrungen nach diesem Angriff sind sehr belastend und erinnern mich daran, was passiert ist. Körperlich geht es mir sonst gut, nur manchmal habe ich noch Schmerzen im Knie, wenn ich Fußball spiele.
Warum haben Sie sich dafür entschieden, Nebenkläger zu werden?
Der Attentäter hat den Terroranschlag aus antisemitischen und rassistischen Motiven begangen. Durch seine Veröffentlichungen und durch das, was er in den Vernehmungen bisher gesagt hat, wissen wir: Er sieht jüdische und muslimische Menschen, aber auch Schwarze als seine Feinde. Das heißt die Taten, die er an dem Tag begangen hat, müssen wir in einem Kontext sehen und verstehen. Ich möchte, dass das Gericht und die Öffentlichkeit verstehen, dass es ein rassistischer Angriff war, den ich erlebt habe. Das muss öffentlich geklärt werden und es müssen Konsequenzen daraus folgen. Ich und einige meiner Freunde haben schon so viele Rassismuserfahrungen in Deutschland gemacht. Es gibt so viele rassistische Übergriffe in Deutschland, es werden immer mehr. Hier in Sachsen-Anhalt und auch in Halle gibt es zahlreiche Menschen, die rassistisch und flüchtlingsfeindlich sind. Sie gucken uns komisch an, beleidigen uns oder greifen uns an. Wir werden zu „Anderen“ gemacht. Für uns ist das Alltag. Der Attentäter von Halle hat mich aus einem bestimmten Grund angefahren und ich möchte, dass es als rassistischer Angriff anerkannt wird.
Was erhoffen Sie sich von dem Gerichtsprozess?
Ich war noch nie vor Gericht und habe noch nie einen Gerichtsprozess miterlebt. Daher kann ich auf keine Erfahrungen zurückgreifen und weiß dementsprechend nicht genau, was mich erwartet und wie viel ich erwarten kann. Ich kann nur für mich sagen, dass ich die Wahrheit sagen werde und berichten werde, wie sich dieser Tag für mich angefühlt hat. Ich wünsche mir, dass es ein faires Verfahren gibt und dass der Täter eine gerechte Strafe erhält. Und ich hoffe, dass wir dann mit diesem Erlebnis abschließen können.
Weitere Informationen zum Gerichtsprozess: Gemeinsam mit NSU-Watch dokumentiert der VBRG den Prozess auf Deutsch, Englisch und Russisch. Auf dem Blog halle-prozess-report.de werden Prozessdokumentationen, Berichte und Eindrücke aus Perspektive der Nebenklage im Austausch mit Nebenkläger*innen, Aktivist*innen und Unterstützer*innen veröffentlicht.
*Einige Nebenkläger*innen haben in ihrem Statement zum Prozessbeginn Medienschaffende dazu aufgerufen, den Namen des Attentäters nicht zu nennen, um ihm selbst keine Plattform zu bieten. Dieser Forderung wollen wir hier nachkommen.
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