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Halle-Prozess „Ich möchte, dass mehr Fakten ans Licht kommen“

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Naomi Henkel-Gümbel ist eine der Nebenkläger*innen im Prozess gegen den Attentäter von Halle.
(Quelle: Adela Lovric)

Naomi Henkel-Gümbel ist in Deutschland geboren und aufgewachsen. Nach der Schulzeit wanderte sie nach Israel aus und teilt ihre Zeit zwischen Israel und Deutschland auf. In Israel wie auch in Berlin engagiert sie sich für die Entwicklung und Gestaltung jüdischer Communities und der jeweiligen Gesellschaft. Naomi war als Teil der Base Berlin Gruppe in Halle zu Gast.

Am 21. Juli begann vor dem Oberlandesgericht Naumburg der Prozess gegen den Halle-Attentäter*, der am 9. Oktober 2019 einen Anschlag auf die Synagoge in Halle und den nahegelegenen Imbiss Kiez-Döner verübte, dabei zwei Menschen ermordete und weitere verletzte. Mehr zum Tathergang lesen Sie hier.

Das folgende Gespräch ist Teil einer Interviewserie mit einigen Nebenkläger*innen des Gerichtsverfahrens. Rachel Spicker hat mit ihnen darüber gesprochen, wie sie den Anschlag erlebt haben, warum sie sich für eine Nebenklage entschieden haben und was sie sich von dem Gerichtsverfahren erhoffen.

Belltower.News: Wie haben Sie den Anschlag erlebt?

Naomi Henkel-Gümbel: Ich habe nicht sofort verstanden, was passiert ist. Nachdem ich den ersten Knall gehört habe, habe ich noch Witze darüber gemacht – nach dem Motto „Ah, jetzt bin ich ja wenigstens wach“. Wir haben bereits seit dem Abend davor gefastet und während der Gebete längere Zeit gestanden. Das Stehen, die Konzentration auf den Inhalt des Gebets, die Auseinandersetzung mit sich selbst – das ist ja durchaus auch kräftezehrend. Dann habe ich einen zweiten Knall gehört und durch die Fenster eine Art Lichtkörper gesehen. Ich dachte zunächst, dass es Jugendliche wären, die Böller werfen. Mir war sofort bewusst, dass es antisemitisch motiviert war. Aber ich hätte nicht gedacht, dass jemand Sprengsätze auf die Synagoge und den angrenzenden Friedhof geworfen hat. Ich erinnere mich, dass alle ziemlich ruhig geblieben sind, niemand hat eine Panikattacke bekommen oder ähnliches. Wir sind in Deckung gegangen und dann in die Wohnung gelaufen, die sich oberhalb der Synagoge befindet, während andere Personen alle Zugänge zur Synagoge verriegelt und verbarrikadiert hatten. Eine Person hat angefangen, Bettlaken und Bettbezüge abzuziehen und eine Notleiter zusammen zu knoten, eine andere religiös observante Person hat ihr Telefon eingeschaltet, um zu erfahren, was genau eigentlich gerade vor sich geht – wohl aus einer guten Intuition heraus, dass hier Leben bedroht sind, denn es waren nicht alle aus unserer Gruppe in der Synagoge anwesend. Obwohl ich das als ein Zeichen für den Ernst der Lage wahrgenommen habe, bin ich erstaunlich ruhig geblieben und wollte weiterhin wie gewohnt den Tag traditionell einhalten – etwas, was mir im Nachhinein sehr zugesetzt hat. Das nicht richtige Einschätzen der Situation und diese Ungewissheit, dieser Kontrollverlust war besonders schwierig: Wir wussten nicht, sind es vielleicht mehrere Täter? Wer ist die Person, die vor der Synagoge angeschossen wurde? Lebt die Person noch? Wer kann ihr helfen? Wir konnten ja nicht raus. Das war ziemlich bedrückend.

Erst nach und nach wurde mir bewusst, was uns da passiert ist. Das mag sich vielleicht lächerlich anhören, aber ich dachte, vielleicht wird darüber in den Lokalnachrichten berichtet. So wie in den Lokalnachrichten steht, dass eine Bank überfallen wird. Die Dimension des Erlebten und dass es ein stückweit deutsche Geschichte prägen würde, wurde mir erst viel später klar. Die ersten Tage nach dem Anschlag waren für mich schwer zu bewältigen. Einen Tag später wollten wir mit dem Zug zurück nach Berlin fahren. Dadurch, dass der Bahnhof zeitweise gesperrt wurde, konnten wir unsere ursprüngliche Verbindung nicht nehmen. Wir gingen zum Schalter der Deutschen Bahn und erklärten, dass wir unseren ursprünglichen Zug nicht nehmen konnten. Die Angestellte fragte warum. Wir guckten uns an und schwiegen einen Moment. Dann erzählten wir kurz, was passiert war. Die Bahnangestellte antwortete knapp, dass könnte ja jede*r behaupten und fragte, wie wir das beweisen könnten. Ja, wie können wir beweisen, dass wir einen antisemitischen und rassistischen Terroranschlag überlebt haben? Ich schaute auf meinen Arm und sah da noch das Bändchen, was uns im Krankenhaus nach dem Anschlag zur Registrierung angelegt wurde. Als wir das unangenehme Gespräch hinter uns gebracht haben und aus dem Bahncenter Richtung Gleise gehen wollten, sahen wir einen Neonazi mit der üblichen Kleidung und den üblichen Tattoos. Das war unser Abschied von Halle.

Wie geht es Ihnen heute?
Ich habe nach und nach versucht, diesen Kontrollverlust, den ich an dem Tag des Anschlags so deutlich gespürt habe, zu bearbeiten und wieder näher zu mir selbst zu finden. Ich möchte nicht, dass dieses Erlebnis dauerhaft meinen Alltag bestimmt. Und das gelingt mir jetzt wieder besser. Es gibt sehr viele Bereiche, bei denen ich sagen würde, da bin ich stärker als vor Halle und auch stärker als direkt danach. Einen großen Teil dessen habe ich dem Support der jüdischen Community in Berlin und meinen Freund*innen zu verdanken, ich habe viel Solidarität erfahren. Natürlich gibt es Ereignisse, die mich zurückwerfen. Der Anschlag in Hanau am 19. Februar 2020, bei dem neun Menschen aus rassistischen Motiven getötet wurden, hat mich zutiefst erschüttert und wütend gemacht. Gleichzeitig werden dadurch Erinnerungen an den 9. Oktober in Halle wach. Mit der Zeit und durch die Corona-Pandemie habe ich gemerkt, es sind nicht nur Menschen für mich da, sondern es gibt auch Menschen in meinem Umfeld, die auf mich zählen und für die ich Verantwortung trage. Das, was uns passiert, und was zum Beispiel in Hanau passiert ist, hat mich zu dazu gebracht abzuwägen und mich selbst zu fragen, gut, ich kann entweder eine passive Rolle einnehmen oder ich werde aktiv: ich kann den Aufarbeitungsprozess und die gesellschaftlichen Entwicklungen aktiv mitgestalten und mein Bestes geben, um dagegen zu halten.

Warum haben Sie sich dafür entschieden, Nebenklägerin zu werden?
Als Nebenklägerin habe ich die Möglichkeit darüber zu berichten, was ich erlebt habe und wie ich es erlebt habe. Aber mir geht es um mehr als das: Ich möchte das Narrativ rund um dieses Ereignis aktiv mitgestalten. Ich möchte wissen, welche Umstände dazu geführt haben, dass dieser Anschlag sich so ereignen konnte. Ich möchte dazu beitragen, dass mehr Fakten ans Licht kommen. Ich habe das Gefühl, dass die Öffentlichkeit diesen Anschlag schon ad acta gelegt hat, es geht mal wieder um einen Einzeltäter, der die Tat auch noch gefilmt hat, das heißt die Beweislage ist doch klar und wir können damit abschließen. Ich kann damit nicht abschließen, ich habe noch viele Fragen. Ich frage mich, ob wir wirklich von einem Einzeltäter sprechen können, wenn er sich in Online-Communitys gemeinsam mit anderen ausgetauscht hat und sich mit seinem Anschlag in englischer Ansprache auf einen anderen Attentäter bezieht und zur Nachahmung auffordert. Ich frage mich, wie das möglich ist, dass seine Online- und Offline Aktivitäten und seine Pläne weder seinem Umfeld, noch den Behörden bekannt gewesen sein sollen. Mir ist wichtig zu erfahren, wie die Behörden zu der Einschätzung kommen, dass vor der Synagoge kein Schutz notwendig war und wo beim Polizeieinsatz am Tag selbst Fehler gemacht wurden. Ich frage mich auch, warum die Presse lieber darüber berichtet, dass uns eine Tür aus guter deutscher Eiche gerettet hat, anstatt darüber zu berichten, dass jüdische Gemeinden seit Jahrzehnten mit oft sehr wenig zur Verfügung stehenden Mitteln ihre Sicherheitskonzepte in der Regel selbst erarbeiten und mit ihren eigenen Budgets umsetzen müssen. Es ist der jüdischen Gemeinde in Halle zu danken, dass sie selbst ein Sicherheitskonzept erstellt haben und der Person zu danken, die die Tür schlussendlich abgeschlossen hat.

Dieser Prozess bedeutet für mich aber auch, mich mit meiner persönlichen Geschichte auseinanderzusetzen. Ich bin als Enkelin von Holocaust-Überlebenden in Deutschland aufgewachsen und habe mich lange Zeit fehlplatziert gefühlt. In Gesprächen mit meinen Verwandten, die Deutschland verlassen haben, kam immer wieder die Frage auf, wie wir, wie meine Großeltern, sich dafür entscheiden konnten in Deutschland zu bleiben. Ich selber konnte es nicht verstehen. Ich habe mich bewusst dafür entschieden, nach der Schulzeit nach Israel auszuwandern. Einer der Gründe dafür waren Antisemitismuserfahrungen. Seit kurzer Zeit verbringe ich wieder mehr Zeit in Deutschland aufgrund meines Studiums. Und dann ist Halle passiert. Nach dem Anschlag habe ich länger mit der Frage gehadert, ob es nicht ein Fehler war, ein Leben in Deutschland zu versuchen. Mittlerweile sehe ich mich mehr in der Verantwortung, gegen rechte Kräfte zu halten – an beiden Orten, die ich als meine Heimat betrachte, auch wenn es zeitweise schwierig und schmerzhaft ist.

Was erhoffen Sie sich von dem Prozess?
Ich hoffe, dass ich besser verstehen kann, wie es zu dieser Tat kommen konnte und welche Perspektiven und Möglichkeiten es gibt, solche Taten in Zukunft zu verhindern. Ich möchte Brücken statt Mauern bauen. Auch wünsche ich mir, dass der Prozess dazu beitragen kann, dass es ein besseres Verständnis der Mehrheitsgesellschaft für die Lebenswelten von uns Minderheiten gibt und wir solidarische Verhältnisse aufbauen und intensivieren können. Wir brauchen mehr solidarische Bündnisse mit- und untereinander. Die gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahre und die Zunahme rechter Gewalt und rechten Terrors zeigen, dass das wichtiger denn je ist.

Weitere Informationen zum Gerichtsprozess: Gemeinsam mit NSU-Watch dokumentiert der VBRG den Prozess auf Deutsch, Englisch und Russisch. Auf dem Blog halle-prozess-report.de werden Prozessdokumentationen, Berichte und Eindrücke aus Perspektive der Nebenklage im Austausch mit Nebenkläger*innen, Aktivist*innen und Unterstützer*innen veröffentlicht.

*Einige Nebenkläger*innen haben in ihrem Statement zum Prozessbeginn Medienschaffende dazu aufgerufen, den Namen des Attentäters nicht zu nennen, um ihm selbst keine Plattform zu bieten. Dieser Forderung wollen wir hier nachkommen.

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