İsmet Tekin lebt und arbeitet seit zwölf Jahren in Halle an der Saale. Gemeinsam mit seinem Bruder Rıfat Tekin ist er der jetzige Besitzer des Imbisses „Kiez Döner“, bei dem er zuvor als Mitarbeiter angestellt war. Zum Zeitpunkt des Anschlags befand er sich nicht im Imbiss. Sein Bruder informierte ihn per Anruf über den Anschlag. Als er Rıfat zu Hilfe eilen wollte und nur wenige Meter vom Eingang des „Kiez Döner“ entfernt war, zielte der Attentäter auf ihn. İsmet blieb unverletzt, der Schuss verfehlte ihn.
Am 21. Juli begann vor dem Oberlandesgericht Naumburg der Prozess gegen den Halle-Attentäter*, der am 9. Oktober 2019 einen Anschlag auf die Synagoge in Halle und den nahegelegenen Imbiss „Kiez Döner“ verübte, dabei zwei Menschen ermordete und weitere verletzte. Mehr zum Tathergang lesen Sie hier.
Das folgende Gespräch ist Teil einer Interviewserie mit einigen Nebenkläger*innen des Gerichtsverfahrens. Rachel Spicker hat mit ihnen darüber gesprochen, wie sie den Anschlag erlebt haben, warum sie sich für eine Nebenklage entschieden haben und was sie sich von dem Gerichtsverfahren erhoffen.
Belltower.News: Wie haben Sie den Anschlag erlebt?
İsmet Tekin: Es war der schlimmste Tag meines Lebens. Von solchen Anschlägen habe ich immer nur im Fernsehen gehört, ich hätte nie gedacht, dass das bei uns in Halle passieren könnte. Jetzt kann ich die Menschen verstehen, die so etwas erleben mussten, ihre Gefühle, ihre Schmerzen, ihre Erschütterung und die Schwierigkeiten damit umzugehen. Oft denke ich, es gibt keine Wörter, um zu beschreiben, wie ich den Tag erlebt habe und wie ich mich heute fühle. Ich habe gedacht es ist ein Tag wie jeder andere. Ich war kurze Zeit nicht im Laden und plötzlich bekam ich einen Anruf von meinem Bruder, dass es einen Übergriff auf den Laden gibt. Ich wollte so schnell wie möglich zurück zum Imbiss, um meinem Bruder zu helfen. Ich hatte sehr große Angst, dass er in Lebensgefahr ist. Also bin ich losgerannt. Es hat sich angefühlt wie eine Ewigkeit, ich hatte das Gefühl nicht vorwärts zu kommen. Erst war mir überhaupt nicht bewusst, was das für eine Situation war. Als ich bei der Apotheke ein paar Meter vor unserem Laden ankam, hörte ich einen Schuss, der neben mir an der Hauswand abprallte. Da habe ich gemerkt, dass der Attentäter auf mich gezielt hat. In meinem Kopf hat es sich so angefühlt als würde mein ganzes Leben innerhalb von wenigen Sekunden an mir vorbeiziehen, wie in einem Film. Mir rasten so viele Fragen durch den Kopf und ich hatte große Angst. Ich erinnere mich, wie ich hinter einem Auto Deckung suchte. Das Auto war jedoch sehr klein, daher ging ich noch drei Autos weiter zu einem großen PKW und versteckte mich dort. Dann hat sich die Polizei einen Schusswechsel mit dem Attentäter geliefert. Ich schaute unter dem Auto hindurch und habe gesehen, wie der Attentäter zu Boden ging, als er getroffen wurde. Ein paar Sekunden später ist er aufgestanden, zurück in sein Auto gestiegen und in Richtung Schillerstraße davongefahren, die Polizeiautos hinterher.
Danach bin ich zu meinem Bruder gegangen, um mich zu vergewissern, dass ihm nichts passiert ist. Wenn ich daran denke, dass er hätte sterben können, diese Schmerzen würde ich nicht aushalten. Nachdem wir kurz gesprochen haben, bin ich in den Laden gegangen und habe gerufen, ob noch jemand da ist. Ich sah Kevin dort liegen und rief sofort den Notruf. Ich konnte sehen, dass er schon tot war. Ich wünsche niemandem so etwas zu erleben. Zwei Menschen, Jana und Kevin, sind an diesem Tag gestorben. Viele wurden verletzt und sind immer noch erschüttert.
Wie geht es Ihnen heute?
Seit zwölf Jahren lebe ich hier und ich habe mich immer wohl gefühlt. Das Gefühl hier zu leben ist jetzt ein anderes. Manchmal fühle ich mich gut, manchmal habe ich keine Lust, keine Kraft und fühle nichts, keine einzige Emotion. Manchmal bekomme ich keine Luft. Die Tage sind sehr unterschiedlich. Jeder Mensch hat in seinem Leben schon einmal Schwierigkeiten gehabt, auch mein Bruder und ich. Der Unterschied ist aber, dass wir seit dem Anschlag nur noch Schwierigkeiten haben. Das hängt hauptsächlich mit den finanziellen Schwierigkeiten des Ladens zusammen, den wir nach dem Anschlag übernommen haben. Durch den Anschlag gibt es weniger Betrieb im Imbiss, dann kam noch die Winterzeit und die Corona-Pandemie dazu. Es ist seit einiger Zeit sehr schwer, Rechnungen, Personal und Miete zu bezahlen.
Die ersten Wochen waren so viele Menschen hier, so viele Politiker*innen, die uns das Gefühl gegeben haben, das Leben geht weiter. Das war sehr wichtig und ein schönes Gefühl und dafür bin ich dankbar. Aber danach war es anders. Es gibt zwei Dinge, die nach dem Attentat geschehen sind, die für mich fast schlimmer waren als der Anschlag selbst. Der Innenminister von Sachsen-Anhalt und der Oberbürgermeister von Halle haben uns ihr Wort gegeben, dass sie bei uns sind, dass sie uns unterstützen. Bis heute ist nichts passiert. Darüber hinaus wollte das Gericht mich zuerst nicht als Nebenkläger zulassen. Die Generalbundesanwaltschaft sagt, dass der Attentäter mich nicht töten wollte und nicht auf mich gezielt hat. Ich war vor der Polizei beim Tatgeschehen, wie können sie dann sagen, dass er mich nicht treffen wollte? Während des Anschlags hat er auf so viele Menschen gezielt und ich bin einer von ihnen. Wenn ich näher am Laden gewesen wäre, hätte er mich vielleicht getroffen. Mein Anwalt hat gegen diese Entscheidung Widerspruch eingelegt. Erst zwei Tage vor Prozessbeginn wurde ich als Nebenkläger zugelassen. Ich verstehe diese beiden Punkte nicht. Das hätte ich nicht erwartet, es ist eine große Enttäuschung. Ich fühle mich nicht ernst genommen. Ich bin verunsichert und oft verzweifelt, aber ich weiß auch, mit Angst kann man nicht leben, denn das Leben geht weiter. Man muss Wege finden, mit der Angst umzugehen. Und wie die Deutschen gerne sagen, „Die Hoffnung stirbt zuletzt“, so sage ich auch, man muss positiv denken und in die Zukunft blicken. Vergessen kann ich nicht, aber wir können uns bemühen zu verarbeiten, was passiert ist und uns gemeinsam überlegen, wie es weitergehen kann.
Warum haben Sie sich dafür entschieden, Nebenkläger zu werden?
Vor dem Anschlag hatte ich meinen Mut, ich hatte meine Kraft und ich konnte alles tun und erreichen, was ich mir als Ziel gesetzt habe. Mit dem Anschlag ist alles weg. Ich hätte mir gewünscht, das nicht zu erleben. Aber ich habe es erlebt. Jetzt möchte ich mein Recht wahrnehmen, Teil der Aufklärung zu sein. Ich habe viele offene Fragen. Es ist wichtig aufzuklären, wer hinter dem Täter steht, wer ihn unterstützt hat, wer ihm geholfen hat oder von seinen Plänen wusste. Warum will niemand in der Familie etwas mitbekommen haben, wenn er zu Hause wohnte und die Tat dort plante und zu Hause Waffen und Sprengsätze baute? Wie kann ein Arbeitsloser so viele Waffen kaufen und bauen? Welches Geld hat er dafür verwendet? Ich kann das nicht glauben, dass niemand etwas wusste und das glaube ich auch nicht. Bis heute kann ich mir auch nicht erklären, wie die Polizei so lange brauchen konnte. Zwischen der Synagoge und dem „Kiez Döner“, also zwischen dem ersten und zweiten Tatort, liegen mehr als zehn Minuten Zeit. Und die Polizeiwache ist nicht weit von unserem Laden entfernt.
Auch möchte ich wissen, was im Prozess gemacht wird, wer geladen und gehört wird, welche Fragen gestellt werden. Ich will wissen, wie ist das Geschehen am Ende, was wird das Urteil sein? Ich möchte mit meinen Augen sehen und mit meinen Ohren hören, was vor Ort passiert. Deshalb gehe ich jede Woche zum Prozess und werde das Verfahren bis zum Ende persönlich verfolgen, das ist mir wichtig. Ich möchte verhindern, dass der Täter eine Bühne bekommt und auch, dass er als „krank“ abgestempelt wird. Der Täter war und ist nicht krank. Er hat das aus einer ideologischen Motivation und Überzeugung heraus getan.
Seit dem Anschlag ist es mir umso wichtiger, Gutes zu tun. Unterstützung zu leisten und Beistand zu geben. Deshalb fahre ich zum Beispiel auch nach Hanau, wenn sie mich dort brauchen. Die Angehörigen haben ähnliche Erfahrungen gemacht mit den Behörden und mit dieser Gesellschaft. Es gibt Parallelen zwischen den Attentätern und die Anschläge stehen in Verbindung zu anderen Attentaten. Deshalb ist Solidarität untereinander wichtig. Ich habe große Hoffnung, dass danach auch gute Zeiten kommen werden.
Was erhoffen Sie sich vom Prozess?
Ich möchte, dass es ein gerechtes Urteil gibt und er eine lebenslange Haftstrafe bekommt. Ich wünsche mir aber auch, dass sich die Fronten zwischen Minderheiten und der Mehrheitsgesellschaft nicht weiter verhärten. Deutschland nennt sich bunt, aber Deutschland sieht das Bunte nicht. Die Erfahrungen, Leistungen und Talente von Migrant*innen und Minderheiten werden oft nicht gesehen oder gar ignoriert. Dabei halten wir dieses Land mit am Laufen. Wir sind alle Teil dieser Gesellschaft und wir müssen mehr voneinander lernen und zueinander finden, wir brauchen gemeinsam gute Ideen für die Zukunft dieses Landes. Vielleicht kann der Prozess dazu einen Beitrag leisten.
Weitere Informationen zum Gerichtsprozess: Gemeinsam mit NSU-Watch dokumentiert der VBRG den Prozess auf Deutsch, Englisch und Russisch. Die Initiative democ veröffentlicht Prozessberichte auf Deutsch, Englisch und Hebräisch. Auf dem Blog halle-prozess-report.de werden Prozessdokumentationen, Berichte und Eindrücke aus Perspektive der Nebenklage im Austausch mit Nebenkläger*innen, Aktivist*innen und Unterstützer*innen veröffentlicht.
*Einige Nebenkläger*innen haben in ihrem Statement zum Prozessbeginn Medienschaffende dazu aufgerufen, den Namen des Attentäters nicht zu nennen, um ihm selbst keine Plattform zu bieten. Dieser Forderung wollen wir hier nachkommen.