Nun beginnt der Gerichtsprozess gegen Stephan B. vor dem Oberlandesgericht Naumburg. 43 Nebenkläger*innen haben sich dem Verfahren angeschlossen. Angeklagt ist der Attentäter u.a. wegen des Mordes in zwei Fällen, des 68-fachen versuchten Mordes sowie der gefährlichen Körperverletzung und versuchten räuberischen Erpressung mit Todesfolge. Darüber hinaus hat die Bundesanwaltschaft Anklage erhoben wegen besonders schwerer räuberischer Erpressung, Volksverhetzung und fahrlässiger Körperverletzung. Neben dem NSU-Prozess ist es eines der größten Gerichtsverfahren der deutschen Nachkriegsgeschichte im Bereich Rechtsterrorismus, das mit erheblichem internationalen Interesse begleitet werden wird.
Während der Feierlichkeiten zum jüdischen Versöhnungstag Yom Kippur am 9. Oktober 2019 versuchte der rechtsextreme Attentäter gewaltsam in die Synagoge im Paulusviertel von Halle an der Saale einzudringen mit dem Ziel, die dort anwesenden 52 Menschen zu ermorden. Unmittelbar vor der Synagoge erschoss er dabei Jana L., die zufällig vorbeikam und ihn auf sein Verhalten angesprochen hatte. Nach mehreren missglückten Versuchen, sich Zutritt zu verschaffen, fuhr er zum nahegelegenen Imbiss “Kiez-Döner” in der Ludwig-Wucherer-Straße und erschoss dort Kevin S.
Während seiner Taten zielte er wiederholt auf Passant*innen, die durch mehrfache Ladehemmungen der Tatwaffe(n) unverletzt blieben. Auf der Flucht fuhr er einen Passanten an und verletzte einen Mann und eine Frau teils schwer, als er versuchte, sich ein weiteres Fluchtfahrzeug zu beschaffen. Nach einem von ihm verursachten Unfall rund 40 Kilometer von Halle entfernt wurde er von der Polizei festgenommen.
Einen Teil der Tat streamte er online auf Twitch, einem Videoportal aus der Gaming-Szene: Um 11.57 Uhr, zwei Minuten bevor er das Attentat begann, postete er einen Link zum Livestream auf dem Imageboard „meguca“ zusammen mit schriftlichen Ausführungen zu seinen Tatmotiven sowie Hinweisen und Anleitungen zu den Waffen, die er für diesen Tag selbst gebaut hatte.
Aufklärung über Hintergründe und Netzwerke ist eine zentrale Aufgabe des Prozesses. Sie ist wichtig für die 43 Nebenkläger*innen, die bis heute unter der Tat von Stephan B. leiden. Wie hat die Tat die Lebensumstände der Angehörigen von Jana L. und Kevin S. beeinflusst? Womit haben die Angehörigen heute noch zu kämpfen? Die gleiche Frage muss den Überlebenden gelten. Wie hat sich ihr Leben verändert und was bedeutet die Tat heute für sie? Der Prozess muss auch einen gesellschaftspolitischen Anspruch erfüllen, in dem klargestellt wird, wie und wo sich der Täter radikalisieren konnte. Auch die Fehler der Polizeibehörden in Halle und Sachsen-Anhalt müssen beleuchtet werden.
Tatmotiv und Ideologien
Die politische Dimension der Tatmotive von Stephan B. müssen klar benannt werden. Der Täter handelte offenbar in erster Linie aus Hass auf Juden und Jüdinnen, aber auch extremer Antifeminismus wird in seinem „Manifest“ und dem Stream der Tat deutlich. Dazu kommen offensichtlich Rassismus, aber auch Sozialdarwinismus. Beispielsweise, wenn B. seine Opfer als „minderwertig“ bezeichnet oder die ermordete Jana L. offenbar aufgrund ihres Aussehens beleidigt. Was hat das alles mit der Heldenverehrung für Rechtsterroristen zu tun, die in der rechtsextremen Blase immer wieder zu beobachten ist?
Online-Radikalisierung und neue Formen des Rechtsterrorismus
Die Behörden hatten Stephan B. vor seiner Tat offenbar nicht auf dem Schirm. Womöglich hat sich der Täter im Internet radikalisiert. Hier gilt es herauszufinden, wie das geschehen konnte. Letztendlich ist dies eine gesamtgesellschaftliche Frage, deren Antwort dafür sorgen könnte, zukünftige Terroranschläge zu verhindern. Das betrifft auch die gern erzählte Geschichte vom „Einzeltäter“, die die Rolle des Offline- wie auch des Online-Umfeldes meist ignoriert. Schon seit Jahren kommt es aus dem Umfeld von Imageboards wie 4chan und 8chan zu rechtsterroristischen Anschlägen. Wissen die Behörden um diese Gefahr?
Die Rolle der Sicherheitsbehörden
Im Prozess muss auch das Verhalten der Sicherheitsbehörden Beachtung finden – vor, während, aber auch nach dem Attentat. Dabei ist die wahrscheinlich zentralste Frage: Warum wurden jüdische Einrichtungen in Sachsen-Anhalt vor dem 9. Oktober 2019 nur unzureichend bewacht? Nach Angaben der Behörden war ihnen der jüdische Feiertag Yom Kippur, an dem das Attentat stattfand, nicht bekannt. Dieser Aussage widersprechen die Jüdische Gemeinde in Halle und der Landesverband Jüdischer Gemeinden Sachsen-Anhalts. Wie jedes Jahr hatte sie auch zu Beginn des Jahres 2019 einen Kalender mit allen wichtigen Daten und Ereignissen „an die Staatskanzlei, einige Ministerien, darunter auch das Innenministerium, und die kreisfreien Städte“ gesandt.
Fraglich bleibt auch, warum das Imageboard „Meguca“, auf dem der Täter das Attentat angekündigt hatte, so lange von den Behörden ignoriert wurde. Noch Tage nach dem Anschlag waren der entsprechende Post sowie B.s Nutzerdaten abrufbar. Erst später wurden sie durch einen Administrator des Forums gelöscht. Alle Daten von B., inklusive seiner Privatnachrichten und seiner Beiträge, die ein Schlaglicht auf seine Ideologie hätten werfen können, sind verloren. Wie konnte es zu einer solchen Panne kommen? Auch mit Blick auf die Behörden stellt sich die Frage, inwieweit Stephan B. schon vor der Tat hätte bekannt sein können. 2014 soll er an einer Veranstaltung in der ehemaligen NPD-Parteizentrale in Leipzig teilgenommen haben, seine Kontakte in die rechtsextreme Szene waren also offenbar nicht nur virtuell.
Auch unmittelbar nach der Tat scheint es zu einigen Pannen gekommen sein. Beispielsweise zeigt das Video einer Überwachungskamera, dass die ermordete Jana L. auch nach dem Eintreffen der Polizei minutenlang ignoriert wurde. Weder kam es zu Wiederbelebungsmaßnahmen, noch zur Feststellung des Todes. Stephan B. soll auf dem Rückweg vom Kiez-Döner sogar nochmals an der Synagoge vorbeigefahren sein, vor der zu diesem Zeitpunkt Polizist*innen standen. Nach seinem Auto wurde zu diesem Zeitpunkt bereits gefahndet. Gestoppt wurde es nicht.
Wie viele Polizeistreifen überhaupt am 9. Oktober einsatzfähig waren, ist bisher unklar. Offenbar waren mehrere Streifen bei einem Einbruch zugange. Dass dieser gegenüber dem Notruf aus der Synagoge priorisiert wurde, bleibt unverständlich. Der letzte große Prozess gegen Rechtsterrorist*innen in Deutschland, das Münchner NSU-Verfahren, konnte viele Fragen nicht beantworten. Weder die Struktur des NSU und die Netzwerke dahinter wurden aufgeklärt, noch die offensichtlichen Verstrickungen der Behörden in die Neonazi-Szene. Im Prozess gegen Stephan B. darf sich das nicht wiederholen.
Fragen zu Ideologie und Tatmotiv
- Wie äußert sich Stephan B.s Antisemitismus, Rassismus, Frauenhass und Antifeminismus und welche Formen vertritt er in seinen Schriften und Aussagen?
- Welche Rolle spielen antisemitische Verschwörungserzählungen?
- Wie sind die unterschiedlichen ideologischen Versatzstücke Antisemitismus, Rassismus, Frauenhass und Antifeminismus miteinander verknüpft?
- Welche Geschlechterbilder oder Rollenvorstellungen vertritt B. und lassen sich aus seinen Schriften und Aussagen erkennen?
- Sieht er sich selbst in einer Opferrolle oder als Sündenbock? Wie ist diese Opferrolle mit Antisemitismus, Rassismus, Frauenhass und Antifeminismus verknüpft?
- Über welche Kanäle hat er sich informiert und radikalisiert?
- Welche Medien hat er konsumiert?
- Welche Bedeutung hatte das Attentat von Christchurch für ihn?
- Welche Bedeutung haben die Attentate von Breivik (Utoya & Oslo 2011), Bowers (Pittsburgh Tree of Life Synagoge 2018), Earnest (Synagoge Poway 2019), Crusius (El Paso 2019), Manshaus (Moschee Oslo Baerum 2019)? Gibt es Äußerungen von ihm dazu? Sonstige Bezugnahme, die aus seiner Tat spricht?
Fragen zum neuen Rechtsterrorismus, Ermittlungen und Online-Radikalisierung
- Was sind die wesentlichen (neuen) Aspekte dieser Form von Rechtsterrorismus? Wie lassen sich diese benennen?
- Welche Notwendigkeiten ergeben sich daraus für die Weiterentwicklung des Rechtsextremismus- und Rechtsterrorismusbegriffs für Politik, Sicherheitsbehörden und Justiz?
- Welche Imageboards, Foren, sonstige Online-Communitys spielten eine Rolle bei der Entwicklung und Verfestigung seiner extrem rechten Einstellungen und politischen Positionen? Welche Inhalte wurden dort geteilt?
- Wie sind Männerrechtler*innen und Antifeminist*inne mit der extremen Rechten verknüpft? Wie überschneiden sich ihre Ideologien bzw. welche teilen sie?
- Hatte der Angeklagte Kontakt zu organisierten Rechtsextremen? In welchen Ländern wohnen die Personen, zu denen er Kontakt hatte (über USA, Australien, Neuseeland hinaus)?
- Mit welchen Personen und Gruppierungen war er zur Zeit seines Bundeswehrdienstes in Kontakt?
- Welche Maßnahmen haben der BfV, BND, LfV und BKA unternommen, um Online-Radikalisierung und extrem rechte Inhalte auf Imageboards, etc. zu überwachen, auszuwerten und zu verhindern, wenn ihnen bekannt war, dass sowohl die rechtsterroristischen Anschläge in Christchurch vom März 2019, Poway April 2019 und El Paso von August 2019 online angekündigt wurden?
Foto: Wikimedia / Yellowcard / CC BY-SA 3.0