An Yom Kippur am 9. Oktober 2019 griff ein bewaffneter Attentäter in Halle eine Synagoge und den nahegelegenen Imbiss „Kiez Döner“ an. Dabei ermordete er zwei Menschen und verletzte viele weitere.
Am 21. Juli 2020 begann vor dem Oberlandesgericht Naumburg der Prozess gegen den Halle-Attentäter*, der am 9. Oktober 2019 einen Anschlag auf die Synagoge in Halle und den nahegelegenen Imbiss „Kiez Döner“ verübte, dabei zwei Menschen ermordete und weitere verletzte. Mehr zum Tathergang lesen Sie hier.
Ezra Waxman ist in Boston, Massachusetts, USA geboren und aufgewachsen. Nach der Schule zog Ezra nach Israel, wo er in Rehovot und Tel Aviv studierte und promovierte. Vor eineinhalb Jahren kam er für eine Postdoc-Stelle in Mathematik nach Deutschland. Als Teil der Gruppe „Base Berlin“ war Ezra in der Hallenser Synagoge für den Yom Kippur Gottesdienst zu Gast.
Das folgende Gespräch ist Teil einer Interviewserie mit einigen Nebenkläger*innen des Gerichtsverfahrens. Rachel Spicker hat mit ihnen darüber gesprochen, wie sie den Anschlag erlebt haben, warum sie sich für eine Nebenklage entschieden haben und was sie sich von dem Gerichtsverfahren erhoffen.
Belltower.News: Wie haben Sie den Anschlag erlebt?
Ezra Waxman: Für mich war der Anschlag vor allem eine religiöse Erfahrung. Genauer gesagt, erlebte ich es aus der Sicht von Yom Kippur und den religiösen Motiven dieses Tages. Yom Kippur ist ein Tag wie kein anderer und die Energie unterscheidet sich sehr deutlich von anderen Tagen während des gesamten Jahres. Die klassische religiöse Bildsprache von Yom Kippur ist äußerst dramatisch: die eines himmlischen Gerichts, das für jeden einzelnen Menschen auf der Erde über Leben und Tod entscheidet. Wir essen und trinken nicht über den gesamten Zeitraum von Yom Kippur. Das einzige was wir den ganzen Tag tun sollen, ist beten.
Der Anschlag fühlte sich wie eine ungewollte Unterbrechung dieser Gebete an. Nach anfänglicher Verwirrung begannen wir zu realisieren, dass etwas nicht stimmte. Obwohl nicht genau klar war, was jetzt getan werden musste, haben die Menschen in der Synagoge versucht, etwas hilfreich zu sein. Dabei erinnere ich mich, dass ich positiv überrascht war, wie ruhig und gefasst jede*r um mich herum zu sein schien. Nachdem wir uns zunächst in den oberen Teil der Synagoge in Sicherheit gebracht hatten, sah ich meinen eigenen “Beitrag” darin, einfach zu versuchen, ruhig zu bleiben und diese Ruhe nach außen hin auszustrahlen, um in der Gruppe als Ganzes ein kollektives Gefühl der Gelassenheit aufrechtzuerhalten. Ich habe sogar ein paar blöde Witze gemacht. Andere waren womöglich erfolgreicher darin, wirklich nützlich zu sein.
Nachdem die unmittelbare Bedrohung vorüber war, kehrten wir einfach zum Gebet zurück und haben da weitergemacht, wo wir vorher aufgehört hatten. Zu diesem Zeitpunkt fühlte es sich wie das natürlichste an, was wir tun konnten. Ich glaube, niemand hat es gestört oder es hinterfragt. Schließlich war Yom Kippur.
Wir haben den Gottesdienst noch für ein paar Stunden fortgesetzt, bevor die Polizei beschloss, uns in ein nahe gelegenes Krankenhaus zu evakuieren. Nach der Ankunft führten wir unsere Gebete fort. Ich bin mir nicht sicher, was ich zu diesem Zeitpunkt genau wusste, denn es waren so viele widersprüchliche Gerüchte über das Geschehene im Umlauf. Aber als wir in das Krankenhaus evakuiert wurden, war klar, dass, was auch immer passiert ist, sehr „groß“ war. Natürlich haben wir dann dieses “Große” direkt in unsere letzte Gebetsrunde einfließen lassen. Das abschließende Neilah Gebet war das überwältigendste Gebet meines gesamten Lebens. Ich bin dankbar gegenüber den Polizist*innen und dem liebenswerten Krankenhauspersonal, aber vor allem gegenüber Rabbi Jeremy Borovitz, der es uns ermöglicht hat, unsere Gebete unvermindert bis zum Ende fortzusetzen. Stell dir vor, du bist in einer religiösen Trance versunken, und dann klopft Gott an die Tür, um dir auf wundersame Weise das Leben zu retten. Ziemlich genau so habe ich dieses Yom Kippur erlebt.
Wie geht es Ihnen heute?
Am nächsten Morgen fühlte sich alles bereits komplett anders an als am vorherigen Tag. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich meiner Familie mein Erlebnis geschildert und auch realisiert, dass bei diesem Angriff zwei Menschen getötet wurden. In den darauffolgenden Wochen versuchte ich den Anschlag mit der emotionalen Unterstützung von engen Freund*innen, vor allem von anderen Überlebenden des Anschlags, zu verarbeiten. Im Verlauf der nächsten Monate begann ich allmählich, die politische Dimension dieses Anschlags zu begreifen – nämlich, dass dieser Anschlag im Kontext verschiedener öffentlicher Diskurse entstand, wie zum Beispiel Online-Radikalisierung, des Aufstiegs der extremen Rechten und Sicherheitsvorkehrungen an Synagogen. Seitdem spüre ich eine wachsende Verantwortung, mich besser über diese verschiedenen Debatten zu informieren, obwohl ich normalerweise kein großer Fan von Politik bin.
Warum haben Sie sich dafür entschieden, Nebenkläger zu werden?
Zunächst habe ich mich dafür entschieden Nebenkläger zu werden, weil ich neugierig war und mehr darüber erfahren wollte, wer der Täter war, was er denkt und warum. Irgendwann hat mich auch der Gedanke fasziniert, persönlich zu dem Täter durchzudringen – besonders, weil das Hauptthema von Yom Kippur Buße und Vergebung ist oder, wie wir es nennen, Teshuva (Umkehr zu Gott). Leider waren diese anfänglichen Hoffnungen meinerseits ein bisschen zu naiv, angesichts der emotional verkümmerten Einstellungen, die der Täter während des Prozesses an den Tag legt. Mittlerweile realisiere ich, dass er wahrscheinlich meine Zeit einfach nicht mehr wert ist. Trotzdem konnte ich bisher als Nebenkläger ein wenig mehr über seine persönliche Geschichte und Erziehung erfahren und darüber, welche Auswirkungen das auf seine Radikalisierung und Ideologie hatte. Dabei scheint seine Mutter eine wichtige Rolle gespielt zu haben. In einigen Gerichtsdokumenten scheint sie eine kreative Neigung zu haben, “die anderen” als Sündenbock darzustellen und “den anderen” die Schuld zu geben, anstatt eigene Verantwortung zu übernehmen. Wie sagt man so schön: Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.
Es gibt auch den Aspekt meiner jüdischen Familiengeschichte und der kollektiven Erinnerung. Ich persönlich bin jemand, der seine jüdische Identität aus kreativen, jüdischen Inhalten zieht: aus jüdischer Musik, Torah-Weisheiten oder aus der hebräischen und jiddischen Sprache. Antisemitismus hat sich für mich immer wie eine lästige Ablenkung von all dem angefühlt. Ich selbst komme aus einer Familie von Holocaust-Überlebenden. Immer wieder habe ich bei mir festgestellt, wie ich bestimmte generationenübergreifende Traumata und Ängste, die eindeutig von Antisemitismus geprägt waren, zurückdrängte. Und jetzt bin ich selbst in einer Situation, in der Antisemitismus mein erstes Jahr in Deutschland signifikant beeinflusst und geprägt hat. Einerseits finde ich das frustrierend, andererseits bietet es mir aber auch die Möglichkeit, dem näher zu kommen, was ich hier eigentlich erreichen möchte: Ich möchte meine eigene jüdische Identität und meine eigenen jüdischen Werte nutzen, um ein Stück zur Farbe und Seele des sehr reichen und diversen kulturellen Lebens hier in Deutschland beizutragen.
Der Prozess erlaubt mir außerdem, Gott dafür zu danken, dass er mich mit dem Leben beschenkt hat. Judentum ist zeitlos, und seine Botschaft an die Menschen, dass das menschliche Leben heilig ist, ist zeitlos. Darüber hinaus ist das jüdische Volk eine ewige Nation, und wir werden immer Wege finden, um zu überleben. Der Attentäter vergleicht uns zwar mit einem Virus. Aber das bedeutet eigentlich, dass wir ein unglaublich widerstandsfähiges Volk sind. Und wenn sie versuchen, uns zu töten, kommen wir einfach stärker als je zuvor zurück. Was Hassverbrechen jedoch bewirken können, ist, dass sie die Gesellschaften, aus denen sie entstehen, in Verunsicherung stürzen. In diesem Zusammenhang möchte ich den Menschen in Sachsen-Anhalt, die zu Unrecht durch diesen Angreifer gelitten haben, mein tiefes Mitgefühl aussprechen.
Was erhoffen Sie sich vom Prozess?
Ich hoffe, dass der Attentäter bis zu dem Tag im Gefängnis bleibt, an dem er keine Bedrohung mehr für diese Gesellschaft darstellt.
Weitere Informationen zum Gerichtsprozess:
Gemeinsam mit NSU-Watch dokumentiert der VBRG den Prozess auf Deutsch, Englisch und Russisch. Die Initiative democ veröffentlicht Prozessberichte auf Deutsch, Englisch und Hebräisch. Auf dem Blog halle-prozess-report.de werden Prozessdokumentationen, Berichte und Eindrücke aus Perspektive der Nebenklage im Austausch mit Nebenkläger*innen, Aktivist*innen und Unterstützer*innen veröffentlicht.
Ein Kollektiv internationaler Künstler*innen und Forscher*innen hat in Zusammenarbeit mit nsu-watch eine interaktive Web-Plattform mit dem Namen Global White Supremacist Terror erstellt, in der sie die Offline- und Online-Aktivitäten des Attentäters von Halle vom Beginn des Angriffs bis zu seiner Verhaftung visuell beschreiben – und andere separate, aber miteinander verbundene Fälle rechten Terrors in Städten wie Oslo, Christchurch, Poway, El Paso und Hanau in den letzten Jahren chronologisieren.
* Zu Beginn des Prozesses veröffentlichte eine Gruppe von Nebenkläger*innen eine gemeinsame Erklärung, in der sie die Medienvertreter*innen aufgefordert haben, den Namen des Attentäters nicht zu nennen, um ihm eine Plattform zu verweigern. Wir haben diesen Wunsch in diesem Interview respektiert.