„Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.“ So lauten die zentralen Sätze der Arbeitsdefinition. Ergänzt wird die Definition mit einigen Beispielen, die auch israelbezogenen Antisemitismus und Verschwörungserzählungen miteinbeziehen: „Erscheinungsformen von Antisemitismus können sich auch gegen den Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, richten. Allerdings kann Kritik an Israel, die mit der an anderen Ländern vergleichbar ist, nicht als antisemitisch betrachtet werden. Antisemitismus umfasst oft die Anschuldigung, die Juden betrieben eine gegen die Menschheit gerichtete Verschwörung und seien dafür verantwortlich, dass ‚die Dinge nicht richtig laufen‘. Der Antisemitismus manifestiert sich in Wort, Schrift und Bild sowie in anderen Handlungsformen, er benutzt unheilvolle Stereotype und unterstellt negative Charakterzüge.“
Die Definition ist auch deswegen so wichtig, weil sie Betroffenen, aber auch Behörden und Zivilgesellschaft die Möglichkeit gibt, Antisemitismus verbindlich zu benennen. Für Benjamin Steinitz, Geschäftsführer des Bundesverbandes RIAS e. V., ist die Arbeitsdefinition „essenziell“ für die Bekämpfung von Antisemitismus, „da sie alle unterschiedlichen Facetten des heutigen Antisemitismus beschreibt, einschließlich jener Formen, die sich gegen Israel als jüdisches Kollektiv richten.“ Denn oft zeigt sich, auch wenn Menschen antisemitisch handeln oder argumentieren, antisemitisch genannt werden wollen sie keinesfalls. Anetta Kahane, Vorstandsvorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung, schreibt dazu in der Frankfurter Rundschau: „Eingefleischte Verschwörungsmystiker:innen bestreiten jeden Antisemitismus in den eigenen Reihen, Antisemitismus in Einwanderermilieus gibt es auch nicht. Bürgerliche Deutsche verwahren sich dagegen – mit Fingerzeig auf Muslim:innen –, und fast alle sind sich einig, dass israelbezogener Antisemitismus gar nicht existiert. Nur die Neonazis dürfen, so scheint es, noch unbeanstandet Antisemiten sein.“
Obwohl niemand Antisemit*in sein will, kommt Antisemitismus aber immer wieder vor. Er zeigt sich im rechtsextremen Terror, wie in Halle, aber auch bei Angriffen auf Schulhöfen oder in alltäglichen Gesprächen. „Angriffe, Beleidigungen, Schmierereien, Terror, Bedrohungen, das erleben wir Juden in Deutschland jeden Tag. Von allen Seiten. Auch über den Umweg sogenannter Israelkritik, die meistens mehr mit Projektion als mit Politik zu tun hat“, so Kahane weiter.
Das aktuelle Handbuch von RIAS (hier als PDF-Download verfügbar) erläutert die unterschiedlichen Dimensionen der Arbeitsdefinition anhand von 22 konkreten Vorfällen und Straftaten in ganz Europa. Dazu kommen 35 Beispiele, die zeigen, wie die Arbeitsdefinition in den Bereichen Bildung, Sport, Justiz, staatliche Förderung, Zivilgesellschaft, aber auch Strafverfolgung zum Einsatz gekommen ist. Felix Klein, der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, attestiert dem Handbuch einen „echten Mehrwert“.
Tatsächlich bilden die Beispiele im Handbuch die unterschiedlichen Facetten von Antisemitismus sehr gut ab: In Wien wird eine 15-Jähriger, der Kippa trägt, in einem U-Bahnhof beschimpft und bedroht. In Antwerpen fährt ein Auto gezielt auf einen orthodoxen Juden und seinen Sohn zu, die gerade die Straße überqueren wollen. In Prag werden an einer privaten Hochschule die „Protokolle der Weisen von Zion“, eine antisemitische Hetzschrift von Beginn des 20. Jahrhundert, für bare Münze genommen. Im belgischen Aalst fahren immer zu Karneval Wägen mit antisemitischen Karrikaturen durch die Stadt. Dazu kommen Relativierungen oder gleich die Leugnung des Holocausts, Täter-Opfer-Umkehr und NS-Relativierungen. Dazu kommen noch einige mehr. Sie zeigen, wie alltäglich Antisemitismus in Europa ist, aber auch, dass die Definition eine Handhabe bietet, um Hass auf Juden und Jüdinnen klar zu benennen.
Das Handbuch liefert auch Beispiele dafür, wie Sicherheitsbehörden und Zivilgesellschaft für Antisemitismus sensibilisiert werden können. Dazu gehören einerseits klare Standards, wie etwa die Arbeitsdefinition, die es Institutionen, aber eben auch Beamt*innen und Ansprechpartner*innen vor Ort erlauben, verbindliche Entscheidungen zu treffen. Andererseits ist Bildung zentral. In einigen europäischen Ländern ist die Arbeitsdefinition Grundlage von Weiterbildungen und Sensibilisierung der Sicherheitsbehörden. Auch in Deutschland wird sie zum Teil bereits in diesem Bereich angewandt. Das bedarf es allerdings ncoh mehr. Benjamin Steinitz fasst zusammen: „Die konsequente Verwendung dieser Definition in der Ausbildung von Polizei und Justiz sowie von Lehrkräften und anderem Personal des öffentlichen Dienstes würde die Sensibilität für aktuelle Erscheinungsformen von Antisemitismus verbessern und so einen gemeinsamen Bezugsrahmen mit den jüdischen und zivilgesellschaftlichen Wahrnehmungen von Antisemitismus herstellen.“
Foto oben: Wikimedia / EmDee / CC BY-SA 4.0