Zum Ende des Jahres 2020 musste Christian Klammer seinen Schuhladen „Schuhtingstar“ in Starnberg schließen. Dieses Jahr gründete er dann mit seiner Ehefrau, der promovierten Politikwissenschaftlerin Dr. Jana-Maria Lehnhardt, die „Hannah Arendt Akademie“. Dort dozieren viele bekannte “Querdenker:innen”. Auch mit von der Partie ist Matthias Burchardt vom verschwörungsideologischen Internetblog „Rubikon News”.
Auf diesem Blog wurde die Akademie auch zum ersten Mal im September öffentlich beworben. Auf der Internetpräsenz des Vereins sah man das bekannte Foto, auf dem Hannah Arendt mit durchdringendem Blick in die Kamera schaut, während sie eine Zigarette raucht. Daneben zierte die Startseite das Arendt-Zitat „Es gibt keine gefährlichen Gedanken, das Denken an sich ist gefährlich“.
Allerdings ist das alles nicht mehr zu sehen, wenn man jetzt die URL eingibt. Die Seite wurde von „Anonymous Germany” gehackt und leitet mittlerweile auf eine Seite der Hacker-Gruppe weiter. Dort verbreiten die Internet-Aktivist:innen Mails und Dokumente, die sie angeben, auf den Servern der Querdenker:innen abgegriffen haben.
Doch zurück zur Akademie. In einem Interview mit dem „Querdenken”-nahen YouTuber Gunnar Kaiser erklärte Burchardt die Idee hinter dem Verein. Die Akademie wolle sich zwar an alle Menschen richten, aber insbesondere an Abiturient:innen und Studierende in den ersten Semestern, „die sich nicht länger dem System unterwerfen wollen“. Für sie wolle die Akademie einen Ort bieten, an dem „unabhängig vom Impfstatus und politischer Einstellung wirklich frei studiert werden kann“, wird in einer Telegram-Gruppe der Szene geworben. „Universität“ oder „Hochschule“ dürfte sich die Initiative nicht nennen. „Akademie“ schon. Das bisher rein digitale Angebot wolle Burchardt irgendwann in Präsenz anbieten. Sein Traum wäre es „ein altes Kloster [zu] kaufen und es dann wie ‘Hogwarts’ [zu] betreiben“.
Für 150 Euro pro Semester könne man sich an der Akademie für ein „Studium Generale“ anmelden, wie es auf der Website zu lesen war. Als Gegenwert erhielte man Vorlesungen und Seminare; sogar eine Ringvorlesung hätte es geben sollen.
Die Liste der Dozent:innen las sich zumindest wie ein Bouquet der Verschwörungsideolog:innen. Dort fanden sich unter anderem Daniele Ganser, ein promovierter Historiker, der in seinen Büchern Zweifel an der „offiziellen Version“ der Anschläge vom 11. September 2001 streut. Der Hamburger Professor und Klimawandelleugner Ralf Otterpohl sollte Geowissenschaften unterrichten. In einem Vortrag auf einer Esoterikmesse erklärte er, dass durch Chemtrails „Menschen mit Aluminium“ aufgefüllt würden. Für Philosophie wäre Gunnar Kaiser zuständig gewesen. Dieser fragte im Januar auf Facebook, ob ältere Menschen, die die Grundrechtseinschränkungen von Jüngeren in Kauf nähmen, ihre letzten Lebensjahre überhaupt verdient hätten. Andere angebliche Dozent:innen verschwanden erklärungslos von der Website, wie etwa der Schauspieler Jan-Josef Liefers.
Der Vorsitzender der „WerteUnion“, Professor Max Otte, sollte Ökonomie lehren. Dieser war Kuratoriumsmitglieder bei der AfD-nahen Desiderius-Erasmus-Stiftung. Zudem veranstaltete er das “neue Hambacher Fest”, dort traten diverse Redner aus dem rechtspopulistischen Lager auf.
Zum Ende des Semesters müssten die Studierenden der Akademie laut Website eine verpflichtende Prüfungsleistung erbringen. Wenn man besteht, könne man die dazu gelieferte Bescheinigung „zur Vorlage bei Bewerbungen“ nutzen.
Unklar ist, ob das derzeitige Wintersemester trotz des Hacks durchgeführt wird. Welchen Stellenwert die Namenspatronin Hannah Arendt hätte einnehmen sollen oder einnimmt, wird nirgends erläutert. In den von Anonymous veröffentlichen Unterlagen, angeblich direkt von Server der Akademie, wird allerdings auch klar, dass die Namensgebung nicht unumstritten war. So kam im Oktober eine Mail von der Treuhandgesellschaft “Hannah Arendt Bluecher Literary Trust”, die aufgrund Arendts letzten Wunsch gegründet wurde. Dort zeigte man sich konsterniert, dass zum ersten Mal überhaupt jemand den Namen der berühmten Autorin nutzt, ohne zu fragen. Daraus entstand eine interne Diskussion. Am Ende bleibt man dabei. Doch woher kommt die Vereinnahmung Arendts durch die Verschwörungs-Szene?
Die Vereinnahmung Hannah Arendts von Rechten und Verschwörungsideolog:innen
Als „the most used and abused philosophical source“ bescreibt der Yale-Professor Samuel Moyn Hannah Arendt in einem Artikel im Prospect Magazine. Erklären lässt sich ihre Beliebtheit durch ihr unkonventionelles Denken und die zeitlose Aktualität ihrer Ausführungen. Auch einige ihrer eingängige Zitate dürften eine Rolle spielen. Wie es bei Zitaten jedoch meistens so ist, können diese aus dem Kontext gerissen werden. So bietet Arendt Anschlussfähigkeit in viele politische Lager.
Ihr Zitat „Niemand hat das Recht zu gehorchen“ findet sich regelmäßig auf Demonstrationen der „Querdenken“-Szene. Aber auch andere Zitate von Arendt zeigen sich großer Beliebtheit unter Verschwörungsfreund:innen. Das liegt auch daran, dass sich die Philosophin mit dem Begriff der „Freiheit“ auseinandersetzte. Vermeintliche Freiheit ist ein zentrales Argument der der Anti-Corona-Demonstrant:innen.Allerdings verstand Arendt unter Freiheit etwas anderes als die Demonstrierenden heutzutage.
Nils Baratella ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Hannah-Arendt-Zentrums an der Carl-von-Ossietzky-Universität in Oldenburg und äußerte sich gegenüber der jungle world so: Die „Querdenker hängen einem totalen Freiheitsbegriff an, nach dem Motto: Ich lass’ mir gar nichts sagen.“ Für ihn ist „Querdenken” „eine neoliberale Bewegung, die zugunsten individueller Freiheit die Verantwortung für andere aufgeben will“. Für Arendt sei Freiheit hingegen ein politischer Begriff, der stets auch mit der Verantwortung für andere verknüpft sei. Dadurch dass es ein politischer Begriff ist, muss sich die Freiheit im öffentlichen Raum manifestieren.
Doch die trotzige Haltung vieler „Querdenker:innen“ verkennt Arendts Freiheitsbegriff. Denn Widerstand gegen die Verhältnisse ist noch keine Freiheit. Die Philosophin kritisiert explizit eine liberale Verkürzung des Freiheitsbegriffs.
Freifahrtschein für Faktenfreiheit
Der YouTuber Gunnar Kaiser stellt im Interview mit Burchardt die Frage, warum die Wahl auf Arendt als Namenspatronin gefallen ist. Für den Autor ist das naheliegend, da sie „für ein bestimmtes Konzept des Politischen und des Menschseins steht, das momentan massiv angefragt ist“. Der Name soll also „naheliegend“ sein, bei einem Verein, bei dem zu einem erheblichen Anteil rechte Scharfmacher und Verschwörungsideologen lehren? Auf den ersten Blick wirkt das abstrus. Arendt leistete Widerstand und musste als Jüdin selbst vor dem Nationalsozialismus fliehen. Doch es zeigt sich, was während der Pandemie wieder sehr deutlich wurde: Reaktionäre habe gelernt, sich Motive des linken Widerstands und emanzipatorische Begriffe anzueignen und umzudeuten. So wird der Mythos einer „Coronadiktatur“ immer weiter verbreitet, um sich selbst als „widerständige:n Freiheitskämpfer:in“ darstellen zu können.
Diese Diskursverschiebung ist für rechte Gruppen ein großer Gewinn. Sie können sich den Freiheitsbegriff aneignen. Dieser wird von ihnen auf einen Freifahrtschein des Faktenfreien reduziert. Sie legitimieren ihren Populismus und ihre diskriminierenden Einstellungen mit einem Verweis auf die notwendige Pluralität einer Demokratie, wie sie auch von Arendt gesehen wurde. Kritik an ihren Positionen wird dabei aber meist als „Cancel Culture“ abgetan. Ob das im Sinne der Philosophin Arend gewesen wäre? Wohl eher nicht.