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Hans-Joachim Heidelberg Neuer Verdachtsfall in der Liste der Todesopfer rechter Gewalt

Gedenken an Hans-Joachim Heidelberg am 24.10.2024 am Berliner S-Bahnhof Schöneweide. (Quelle: Gedenkinitiative Berlin 24. Oktober 1993)

Wie gewöhnlich fährt Hans-Joachim Heidelberg Samstagnachts mit der S-Bahn, wie gewöhnlich steigt er – auf dem Weg nach Hause in Johannisthal – in Schöneweide um. Stunden später findet man ihn dort: brutal zugerichtet, er ist tot.

Es ist kein gewöhnliches Wochenende in Schöneweide: eine Explosion im Keller eines Mietshauses fordert zwei Tote, Jugendgruppen greifen Menschen in der S-Bahn an, ein (möglicher?) Einbruch in einen S-Bahn-Kiosk, und – mit Hans-Joachim Heidelberg – ein weiteres Todesopfer.

Warum musste der 28-jährige junge Mann sterben? War Hass auf Menschen mit Behinderungen, war Ableismus der Grund, warum die Täter*innen sein Leben entwerteten, mehr noch: es ihm absprachen? Waren es die Neonazis, die sich seit einiger Zeit am S-Bahnhof herumtrieben?

Fragmente eines Lebens

Hans-Joachim Otto Erich Heidelberg wird am 1. Februar 1965 in Berlin-Lichtenberg geboren. Er lebt mit seiner Mutter und zunächst auch einem Geschwister, das 1993 bei der Reichsbahn, vermutlich am S-Bahnhof Schöneweide in der Zugabfertigung arbeitet, am Sterndamm 120 in Berlin-Johannisthal. Beide Angehörige sind inzwischen verstorben. Ein Freund von Heidelberg, dessen Name leider nicht bekannt ist, ist bei der S-Bahn am Ostkreuz tätig. Abends besucht Heidelberg diesen regelmäßig. Oft soll Hans-Joachim Heidelberg eine Plastiktüte mit Katzenfutter bei sich gehabt haben, um die streunenden Tiere am Ostkreuz zu versorgen. Danach fuhr er meist die letzten vier Stationen nach Schöneweide und von dort mit dem Nachtbus nach Hause.

Hans-Joachim Heidelberg war ein großer S-Bahn-Fan. Wenn er Glück hatte, ließen ihn „Reichsbahner“ aus dem Bezirk vorn mitfahren, schreibt die taz über ihn am 28. Oktober 1993. Das dürfte eine Art Dankeschön gewesen sein. Denn der junge Mann erledigte für sie gelegentlich kleine Einkäufe, half auf den Bahnsteigen von Schöneweide, suchte nach verlorenen Gegenständen in Zügen und weckte schlafende Fahrgäste.

Einer Erzählung zufolge wurde er als Jugendlicher auf seinen Spaziergängen durch den Stadtteil oft von einem kleinen Hund begleitet.

Im Zeitungsartikel zu seinem Tod beschreibt seine hilfsbereite Art und seinen grausamen Tod. (B.Z. 27.10.1993, Axel Springer Syndication GmbH)

Hans-Joachim Heidelberg war in seinem Wohnbezirk und rund um den S-Bahnhof bekannt: als kontaktfreudiger Mensch, der offen auf andere zuging. „Er half alten Leuten, trug Gepäck – und warnte immer vor Gewalt“, schrieb die B.Z. wenige Tage nach seinem Tod. Denn auch über seinen Lieblingsort, den S-Bahnhof, hinaus, war Hans-Joachim Heidelberg sehr hilfsbereit: Er unterstützte andere Menschen mit Behinderung und Ältere beim Einkaufen, heißt es in einem Artikel in der behindertenpolitischen Zeitung Die Stütze.

+++ Stilles Gedenken am 24. Oktober 2024 am S-Bahnhof Schöneweide: Alle Infos hier +++

Einzelnen Zeitzeug*innen zufolge wirkte er auf Kinder wohl befremdlich. Hans-Joachim Heidelberg hatte eine leichte kognitive Beeinträchtigung. Denn bei der Geburt hatte sich die Nabelschnur um seinen Hals gewickelt, sodass sein Gehirn kurze Zeit nicht mit Sauerstoff versorgt war. Insofern ist das Befremden der Kinder wohl eher die Angst oder Unsicherheit der Erwachsenen, die sich im Verhalten der Kinder spiegelt. Das hat viel mit der Vorstellung von Menschen mit kognitiven Behinderungen zu tun, die in der DDR wie auch in der BRD alltäglich war und weitgehend noch ist – und mit Besonderung beim Lernen und Wohnen in separierten Einrichtungen einhergehen, die Kontakt selten mach(t)en.

Sein Gesicht – auf dem einzigen bislang von Hans-Joachim Heidelberg überlieferten Foto aus einem Artikel der B.Z. – ist das eines lebenslustig wirkenden jungen Mannes mit einem schalkhaften Lächeln. Er hatte dunkle Haare, war 1,74 Meter groß und kräftig.

Leben mit Behinderungen in der DDR

Hans-Joachim Heidelberg ging in die sogenannte Hilfsschule „Otto Dunkel“ in Johannisthal. Die Schule wurde in einem Bungalowkomplex eigens als „Hilfsschule“ für Menschen mit Beeinträchtigungen eingerichtet und war nach dem Gewerkschafter und Widerstandskämpfer Otto Dunkel (1889-1945) benannt.

Die Beschulung in so genannten Hilfs- bzw. Sonderschulen war in der DDR wie auch in der BRD typisch. Dabei wurden je nach Beeinträchtigung verschiedene Schultypen unterschieden: Gehörlosen- und Schwerhörigenschulen, Blinden- und Sehschwachenschulen, Sprachheil- und Körperbehindertenschulen sowie Hilfsschulen für Kinder mit einer Lernbehinderung.

Über eine Berufsausbildung von Hans-Joachim Heidelberg nach seiner Schulzeit und eine Erwerbstätigkeit ist bislang nichts bekannt. In der Sterbefallanzeige wird unter der Rubrik Beruf „unbekannt“ vermerkt; in der Todesanzeige heißt es „ohne Beruf“.

In der DDR galt seit den 1970er-Jahren ein Recht auf Arbeit. Dies bedeutete auch, dass sich einzelne Betriebe dazu verpflichteten, eine bestimmte Anzahl an Menschen mit Behinderung einzustellen. In einem Bezirk wie Treptow, der maßgeblich durch die Industrie geprägt war, wäre es nicht ungewöhnlich gewesen, wenn Hans-Joachim Heidelberg dort eine Anstellung gefunden hätte.

Darüber hinaus hatten Menschen mit Behinderung einen strengeren Kündigungsschutz sowie ein Recht auf Invalidenrente. Dies änderte sich ab 1990, sodass sie auf dem Gebiet der ehemaligen DDR laut Bundesstiftung Aufarbeitung stärker von Entlassungen und Erwerbslosigkeit betroffen waren: „Denn viele ehemalige DDR-Betriebe mussten nun privatwirtschaftlich agieren oder die Produktion komplett einstellen, was zu einer hohen Arbeitslosigkeit innerhalb der ostdeutschen Gesellschaft und besonders von Menschen mit Behinderungen führte“.

Die Situation für Menschen mit Behinderung in der DDR ist differenziert zu betrachten. Einerseits wurden bedeutsame reformerische Ideen wie die Idee der „Förderpflege“ von Jürgen und Uta Trogisch entwickelt, die zuletzt Dagmar Herzog in ihrem Buch „Eugenische Phantasmen“ hervorgehoben hat, und es entstanden zivilgesellschaftliche Veränderungsanstöße wie die Wohngemeinschaft in Hartroda in Thüringen. Andererseits gab es auch in der DDR strukturelle Probleme wie Formen von Separierung und vermutlich ebenso physische, insbesondere sexualisierte, und psychische Gewalt gegen Menschen mit Behinderungen. Zumindest die Auswirkungen hat Hans-Joachim Heidelberg sicherlich in seinem Alltag zu spüren bekommen.

Mosaiksteinchen seines letzten Abends

Die letzten Stunden von Hans-Joachim Heidelberg zu rekonstruieren ist schwierig.

Wie gewöhnlich ist Hans-Joachim Heidelberg auch am letzten Oktoberwochenende 1993 in der Nacht von Samstag auf Sonntag am S-Bahnhof Schöneweide unterwegs. Um zwei Uhr sollen ihn noch Passant*innen auf dem Bahnsteig gesehen haben. Vielleicht sind es aber auch die Stationsmitarbeitenden, von denen er sich noch verabschiedet haben soll, wie es in einem anderen Pressebericht heißt. Was danach genau passiert, ist unklar.

Am frühen Sonntagmorgen, am 24. Oktober 1993, wird Hans-Joachim Heidelberg jedenfalls am S-Bahnhof Schöneweide tot aufgefunden. Auch die Angaben dazu variieren in der Presse: In einer Version heißt es, ein Passant habe ihn in seiner Blutlache liegend gefunden – neben ihm ein Plastikbeutel. Vermutlich handelt es sich bei dieser Person um die gleiche, die auch die Feuerwehr anonym alarmierte. In einer anderen Version wird die Leiche von einem Mitarbeiter der Stadtreinigung gefunden, in einer dritten von der Feuerwehr.

Während sich diese Versionen vielleicht noch irgendwie sinnvoll zusammensetzen lassen, gehen die medialen Angaben zu Fundorten bzw. Tatorten wie auch zum Tod selbst noch deutlich weiter auseinander: Hans-Joachim Heidelberg soll am oder „neben dem Eingang zum S-Bahnhof, auf dem Vorplatz, an der Straßenbahnhaltestelle“ oder „die alte Mauer links entlang bis zu der Stahltür mit den Büschen (…) im Sand vor der Mauer“ auf dem Bauch gelegen haben. Dagegen steht im Leichenschauschein, der im Landesarchiv Berlin überliefert ist, ohne weitere Information vermerkt: „liegt auf dem Rücken“.

Im Tagesspiegel wird 2005, also zwölf Jahre nach der Tat, in einer Reportage der Journalistin Pieke Biermann der damalige Leiter der Fünften Mordkommission, Gerd Hasse, mit den Worten zitiert: „Das Opfer starb erst nach einem längeren Zeitraum in Folge Erstickens“. Als Todeszeitpunkt wird dem*der Notärzt*in, die um 5 Uhr 45 Minuten eintrifft, ca. fünf Uhr angegeben. Kurz zuvor, so heißt es ebenso in den Unterlagen im Berliner Landesarchiv, sei Hans-Joachim Heidelberg „von Bahnhofsbesuchern“ „unmittelbar vor Eintritt des Todes“ noch gesehen worden.

Die Junge Welt und die taz erwähnen damals als einzige Zeitungen nachdrücklich die kognitive Beeinträchtigung von Hans-Joachim Heidelberg und sprechen damit ein mögliches Tatmotiv an. Zudem stellten sie kritische Fragen. In der taz ist vier Tage nach der Tat zu lesen: „Wie die Obduktion seiner Leiche ergab, waren Hs. Nasenbein und sein Kiefer gebrochen; auch seine Stirn war verletzt. Mit einem stumpfen Gegenstand soll er ‚bearbeitet‘ worden sein, lässt die Treptower Kriminalpolizei verlauten. Als Hans H. auf dem Boden lag, traten Unbekannte auf seinem Schädel herum. Wahrscheinlich hat die Summe dieser Verletzungen Hans H. den Tod gebracht; so genau wissen das die Obduktionsmediziner seltsamerweise nicht.“

Die Junge Welt stellt nüchtern fest, man wisse nicht, ob Hans-Joachim Heidelberg als „Zeuge eines Einbruchs oder weil er behindert war“ getötet wurde, dies sei „ungeklärt“. Außerdem gebe der Verfassungsschutzbericht von 1993 nicht die reale Lage der Gewalt gegen Menschen mit Behinderungen wieder; dies liege auch daran, dass sie „keine Lobby“ hätten.

Dem Leichenschauschein zufolge lag Hans-Joachim Heidelberg wie bereits erwähnt auf dem Rücken, er blutete sehr aus der Nase und Ohren; eine weitere Folge der Verletzungen war ein Hautemphysem. Außerdem wird festgehalten, dass er „sehr adipös“ war. Zur zentralen Verletzung notierte der Notarzt „vermutlich“ „Körperverletzung mit SHT“, also einem Schädelhirntrauma. Diese Verletzung wird durch die Obduktion in der Berliner Charité bestätigt. Auf dem Bestattungsschein der Staatsanwaltschaft beim Landgericht Berlin vom 25. Oktober 1993 wird als „festgestellte Todesursache“ „Schädelhirntrauma. Gesichtsschädelverletzungen“ vermerkt, was sich ebenfalls in den Akten des Berliner Landesarchivs nachlesen lässt.

Wer Hans-Joachim Heidelberg diese Verletzungen zugefügt hat, wie und mit was, ist bis heute unklar. Auch hier gibt es verschiedene Aussagen in Presseberichten und Nachrichten, die zeitlich unterschiedlich nah an den Ereignissen sind.

Einmal ist von Verletzungen die Rede, die auf Faustschläge und Tritte deuten, und den Abdruck eines Schuhs im Gesicht. Diese Artikel sprechen entweder von Stiefeln (ANTIFA 12/1993) oder von in der rechten Szene typischen Turnschuhen (Tagesspiegel 15.10.2005). Denkbar wären hier die in den frühen 1990er Jahren vielgetragenen blauen Sneaker mit zwei weißen Streifen und einer harten Sohle aus DDR-Produktion mit einem Namen, der für die Szene assoziationsgeeignet gewesen sein könnte.

In anderen Presseberichten ist von „stumpfer Gewalteinwirkung gegen den Vorderschädel“ die Rede und von einem „stumpfen“ oder auch von einem „harten Gegenstand“ oder konkreter von einer „Stange“. Der damals involvierte Polizist wird in der Reportage von Pieke Biermann mit den Worten zitiert, dass Hans-Joachim Heidelberg wohl am Boden liegend malträtiert worden sei, da das Blut bis „oben an der Stahltür“ zu sehen war.

Täter*innensuche – polizeilich abgeschlossen

Behindertenfeindlichkeit als Motiv scheint den vorliegenden Presseartikeln zufolge von Polizei und Staatsanwaltschaft bei den Ermittlungen nicht in Erwägung gezogen worden zu sein. Das Antifaschistische Infoblatt schreibt im Januar 1994: „Das dieser Mord etwas damit zu tun haben könnte, dass Hans H. als leicht geistig behindert wahrgenommen wurde, kommt offenbar nicht in Betracht.“

Wenige Tage nach Heidelsbergs gewaltsamen Tod mutmaßt ein Kripo-Beamter, er könne Einbrecher im S-Bahnhof-Kiosk überrascht haben.

Mitte November gibt es kurzzeitig zwei tatverdächtige junge Männer im Alter von 16 und 17 Jahren: Die beiden hatten zuvor gestanden – so schreiben etwa Berliner Zeitung und Neue Zeit – in Johannisthal einen anderen Mann mit Schlägen und Fußtritten getötet zu haben: Das Opfer war Hans-Joachim Albrecht (1948-1993). Dieser erlag drei Wochen nach Heidelberg entsprechend der Sterbeurkunde, die im Landesarchiv einsehbar ist, massiven Verletzungen am Kopf und Körper. Die Tötung von Hans-Joachim Heidelberg bestreiten die beiden Verdächtigen jedoch.

Die beiden jungen Männer gehören wohl zum „kriminellen Umfeld des S-Bahnhofs“, wie es im Tagesspiegel heißt. Der Polizei sind sie bekannt mit Eigentumsdelikten wie auch mit Körperverletzung. Handelten die beiden lediglich kriminell oder waren sie auch politisch aktiv bzw. waren ihre Taten zumindest auch politisch motiviert? Das Antifaschistische Infoblatt verweist darauf, dass am S-Bahnhof Schöneweide schon seit längerer Zeit eine brutale Neonazi-Clique aktiv war. So auch in der Nacht vom 24. Oktober 1993. Dem taz-Bericht zufolge gibt es sogar zwei Vorfälle in der gleichen Nacht unmittelbar vor dem Tod von Hans-Joachim Heidelberg: „Sonntag früh um 1 Uhr pöbelten drei circa 18-jährige Jugendliche einen Fahrgast an und schlugen ihn zusammen.“  Eine halbe Stunde später gab es eine weitere Schlägerei – beides am S-Bahnhof Schöneweide.

In mehreren Zeitungen wie der Berliner Morgenpost, der Berliner Zeitung und im Tagesspiegel werden Ende Oktober Zeug*innen gesucht. Dabei wird auch geradegerückt, dass Hans-Joachim Heidelberg nicht wohnungs- bzw. obdachlos war und er auch nicht zur „Trinkerszene“ gehörte. In einem weiteren Aufruf wird eine Belohnung von 5.000 DM für Hinweise ausgelobt – beides vergeblich wie es später in der Radio-Reportage für Inforadio von Pieke Biermann heißt. Die polizeilichen Ermittlungen wurden erfolglos beendet. Presseberichterstattung findet nicht mehr statt.

Der Tatort: Hotspot extrem rechter Gruppierungen

Der S-Bahnhof in Schöneweide ist damals kein x-beliebiger Verkehrsknotenpunkt. Übergriffe von extrem rechten – zumeist männlichen – Jugendlichen und Jugenddelinquenz generell sind zu Beginn der 1990er Jahre dort keine Seltenheit. Vielfach beschreiben (ehemalige) Anwohner*innen eine Atmosphäre der Angst, wenn sie sich an den S-Bahnhof erinnern: Ein Ort, von dem man schnell wieder weg wollte.

In Laufnähe zum S-Bahnhof in der Gaststätte „Stern“ am Sterndamm in Johannisthal finden Anfang der 1990er-Jahre wöchentliche Treffen der Jungen Nationaldemokraten (JN) statt, der Jugendorganisation der NPD (heute heißt die Partei „Die Heimat“), wie in der antifaschistischen Publikation „Fight Back“ vom Mai 2003 berichtet wird. Zu den ersten aktiven Nazigruppen in Treptow zählt die Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei, kurz FAP. Einer der bekannten Akteure ist Detlef N.. Er hatte zunächst den Kreisverband der NPD KV Ost und die Jungen Nationaldemokraten in Treptow aufgebaut. 1993 wechselt er zum Kreisverband Treptow der FAP. Im April 1997 ist Detlef N. an einem Tötungsdelikt innerhalb der Neonazi-Szene beteiligt: an den beiden Wittenbergern Chris D. und Olaf Sch., wie u.a. im Antifaschistischem Infoblatt (AiB) (AiB 39, AiB 42) nachzulesen ist.

Kein politisches Motiv?

Trotz vorhandener Indizien ist sich die Polizei offenbar bereits sehr schnell nach der Tat sicher, dass es sich nicht um ein politisches Motiv gehandelt haben kann. Eine solche vorschnelle Einschätzung ist bis heute bei vielen Todesopfern rechter Gewalt und Verdachtsfällen häufig und verhindert vielfach die Ermittlung in rechten Szenen.

Rechte Gewalt wird insbesondere in den 1990er Jahren als exklusives Jugendproblem verstanden: Die politische Dimension von körperlicher Gewaltausübung wird ebenso ausgeklammert wie die geschlechtliche – beide Ausblendungen waren und sind nicht hilfreich für eine Analyse und auch nicht für Prävention.

Behindertenfeindlichkeit bzw. Ableismus sind ein polizeilich wie wissenschaftlich vernachlässigter Teil extrem rechter Ideologie. Die leichte kognitive Beeinträchtigung des Todesopfers wird – auch jenseits einer etwaigen extrem rechten Täter*innenschaft – polizeilich offenbar ebenfalls nicht in Betracht gezogen.

Die Kripo ist sich im Fall der Tötung von Hans-Joachim Heidelberg darüber hinaus anscheinend nicht nur schnell sicher, dass die Tat nicht politisch war, sondern den Presseberichten zufolge auch, dass es sich nicht um eine vorsätzliche Tötung gehandelt hat. Warum eigentlich? Die Polizei, so schreibt die Berliner Zeitung, ermittelte jedenfalls wegen „gefährlicher Körperverletzung mit Todesfolge“. Wie erwähnt: ohne Ergebnis.

Kontinuitäten extrem rechter behindertenfeindlicher Gewalt seit den 1990ern in West und Ost

Rechte Gewalt gegen Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung hält bis heute an. Erst im Mai 2024 gab es (mutmaßlich) extrem rechte Angriffe auf die Lebenshilfe in Mönchengladbach sowie im Juni auf eines Haus, in dem vor allem  Menschen mit kognitiven Behinderungen leben. Ende Juni 2024 werden Angriffe auf Wohneinrichtungen der AWO in Gevelsberg-Silschede öffentlich. Keiner der Vorfälle wurde bislang polizeilich aufgeklärt.

Die Kontinuitäten von Behindertenfeindlichkeit und Ableismus in der deutschen Gesellschaft reichen zurück bis zu den „Euthanasie“-Verbrechen während der Nazi-Herrschaft und historisch noch weiter in Weimarer Republik bzw. das Kaiserreich und die Entwicklung von sogenanntem rassenhygienischem Denken, in dem die Abwertung sowie (z.B. eugenische, pränatale) Verhinderungs- und Vernichtungslogik bereits angelegt war.

Der gewaltsame Tod von Hans-Joachim Heidelberg steht im Kontext der rechten, rassistischen, antisemitischen wie auch behindertenfeindlichen Bedrohungen und Übergriffe, Anschläge und Morde in den 1990er Jahren im Westen wie im Osten. Presseberichte aus den 1990er Jahren sowie Artikel in Zeitungen der Behinderten- und Krüppelbewegung – wie zum Beispiel domino und Die Stütze – dokumentieren eindrücklich ein Bild dieses ableistischen Klimas. Zivilgesellschaftliche Organisationen wie die Lebenshilfe und auch vereinzelte politische Akteur*innen waren alarmiert. Dies zeigt etwa die Kleine Anfrage der Abgeordneten Ilja Seifert, Gregor Gysi und der Gruppe der PDS/Linke Liste an die Bundesregierung mit dem Titel „Gewalt gegen Menschen mit Behinderungen“ 1993.

Gleichzeitig wurden die Gewaltvorfälle kleingeredet, ausgeblendet oder als bloßes Medienereignis dargestellt. Solche Leerstellen zeigen sich bis heute in einer fehlenden Be- und Aufarbeitung von Gewalt gegenüber Menschen mit Behinderung, womöglich auch von Polizei und Justiz und sind insgesamt ein deutliches Zeichen für den weiterhin verbreiteten Ableismus in der Gesellschaft.

Zivilgesellschaftliche Protest-Aktionen und Gedenkveranstaltungen

Im lokalen Gedächtnis des Bezirks Treptow-Köpenick, insbesondere rund um den S-Bahnhof Schöneweide und in Johannisthal hat sich die Erinnerung an Hans-Joachim Heidelberg und seinen gewaltsamen Tod erhalten. Gedenkinitiativen, insbesondere antifaschistische und weitere zivilgesellschaftliche Akteur*innen, waren und sind seit 1993 weiter auf der Suche nach Antworten zu den Umständen und der mangelnden Aufklärung. Mit Protesten trugen sie ihre Erinnerung an den jungen Mann und ihre Forderungen etwa nach Anerkennung als Todesopfer rechter Gewalt in die Öffentlichkeit.

So organisiert die Gruppe „Jugend gegen Rassismus in Europa“ wenige Tage nach der Tötung für Freitag, den 5. November 1993, am Tatort eine Gedenkkundgebung gegen „rechten Terror und rassistische Spaltungspolitik“. Sie ziehen dabei eine Traditionslinie zu den Nazis: „Die Mörder sind die Erben derer, die (…) behinderte Menschen umbrachten“, heißt es in einer dpa-Meldung. Schon zu diesem Zeitpunkt reihen sie die Tat in einem Flugblatt sowohl in die vorherigen rechten Morde in Berlin ein, wie an Nguyễn Văn Tú (24. April 1992) in Marzahn und Günther Schwannecke (5. September 1992) in Charlottenburg, als auch in den bundesweiten Kontext der extrem rechten Brandanschläge in Rostock-Lichtenhagen (ab 22. August 1992), Mölln (23. November 1992) und Solingen (29. Mai 1993). Es sind die bitteren Höhepunkte extrem rechter Gewalt der 1990er Jahre im gesamten Bundesgebiet.

Etwa 80 bis 100 Menschen nehmen an der Kundgebung für Hans-Joachim Heidelberg an diesem Novembernachmittag teil. Auf dem zentralen Transparent machen die Demonstrierenden auch auf die Behinderung von Hans-Joachim Heidelberg als Tatmotiv aufmerksam. Ein*e Zeitzeug*in berichtete, dass sich Neonazis in der Nähe aufhielten und über die Demonstrierenden lachten.

Gedenkkundgebung für Hans-Joachim Heidelberg am S-Bahnhof Schöneweide 1993. (Foto: Eric Richard)

In den Folgejahren und Jahrzehnten lenken zivilgesellschaftliche, insbesondere antifaschistische Gruppen immer wieder die Aufmerksamkeit auf den gewaltsamen Tod des jungen Mannes aus Johannisthal. Die vermutlich extrem rechten Täter*innen werden nie gefasst, die Tat nicht aufgeklärt. So wird zum 20. Todestag im Jahr 2013 wieder zu einer Kundgebung am S-Bahnhof mobilisiert. Die Aktivist*innen forderten u.a. „die grundsätzliche Überprüfung aller Morde seit 1990, die vom Staat bis heute nicht als politisch motiviert anerkannt werden!“.

Am 24. Oktober 2023, jetzt 30 Jahre nach dem gewaltsamen Tod, organisiert eine neue Initiative ein Stilles Gedenken am S-Bahnhof Schöneweide. Diese Idee und die Initiative zur Erinnerung an Hans-Joachim Heidelberg entwickelt sich aus einer Erinnerungswerkstatt am 17. Oktober im Zentrum für Demokratie Treptow-Köpenick. Die Gedenkinitiative regt außerdem an, Hans-Joachim Heidelberg in der Liste von Todesopfern rechter Gewalt der Amadeu Antonio Stiftung als „Verdachtsfall“ zu führen, was inzwischen umgesetzt ist.

Die Mutter von Hans-Joachim Heidelberg und sein Geschwister sind inzwischen ebenfalls verstorben. Für beide kommt die Erinnerungsarbeit und das öffentliche Gedenken an Sohn und Bruder zu spät. Das ist bitter.

Der gewaltsame Tod von Hans-Joachim Heidelberg 1993 wurde nie aufgeklärt. Die kognitive Beeinträchtigung des Opfers, der Tatort und die Tatumstände sprechen dafür, dass er von extrem rechten TäterInnen durch die ihm zugefügten massiven Verletzungen zu Tode gebracht wurde – beweisen lässt es sich nicht. Es sei denn, es finden sich doch noch Zeug*innen oder andere Hinweise. Am 24. Oktober 2024, 31 Jahre nach seinem Tod, findet am S-Bahnhof Schöneweide, ein stilles Gedenken statt.

Sie wissen mehr zu Hans-Joachim Heidelberg, seinem Leben oder den Umständen seines Todes? Dann melden Sie sich beim Zentrum für Demokratie Treptow-Köpenick (zentrum[at]offensiv91.de) mit Betreff „Gedenkinitiative Berlin 24. Oktober 1993“.

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Liste der gesichteten und verwendeten Zeitungs- und Zeitschriftenartikel zum Tod von Hans-Joachim Heidelberg seit 1993 (chronologisch aufsteigend sortiert)

o.A.: Leiche gefunden. In: Neue Zeit, 25.10.1993, S. 18 (Kurzmeldung)

o.A.: 28jähriger erschlagen. In: Berliner Zeitung 25.10.1993, S. 17 (Kurzmeldung)

tsp: Mann am S-Bahnhof Schöneweide erschlagen. In: Tagesspiegel (tsp) 25.10.1993, S. 7. (Kurznachricht).

o.A.: Erschlagen am S-Bahnhof. In: Berliner Morgenpost 25.10.1993, S. 13. (Kurzmeldung)

o.A.: Töteten Einbrecher Zeugen? In: Berliner Morgenpost 27.10.1993, S. 11. (Kurzmeldung)

o.A.: Mithilfeersuchen der Polizei. In: Berliner Zeitung 27.10.1993, S. 17. (Kurzmeldung)

o.A.: Zeuge erschlagen? In: BILD Berlin-Ausgabe 27.10.1993, S. 6. (Kurzmeldung)

Engelke, Jan: S-Bahn-Engel Hans totgetreten. Er half allen Leuten, trug Gepäck – und warnte immer vor Gewalt. In: BZ 27.10.1993, S. 1 (Hinweis: Schlagzeile auf Titelseite). Fortsetzung: Engelke, Jan: Todes-Tritte für den Engel vom S-Bahnhof. In: BZ 27.10.1993, S. 23.

dpa: Behinderter am Bahnhof Schöneweide wurde erschlagen. In: Neues Deutschland (ND) 27.10.1993.

weso: Zeugen zu Tötungsdelikt auf S-Bahnhof gesucht. In: Tagesspiegel (tsp) 27.10.1993, S. 10.

Schmitz, Thorsten: Wer hat Hans H. ermordet? Geistig Behinderter von Unbekannten zu Tode getrampelt. In: tageszeitung (taz), 28.10.1993.

o.A.: Gut zu wissen: Protest-Demo. In: tageszeitung (taz), 04.11.1993, S. 18.

dpa: Demonstration gegen rechten Terror. In: Tagesspiegel (tsp) 06.11.1993, S. 9.

dpa: Demonstration gegen rechten Terror. In: Neues Deutschland (ND) 06.11.1993.

Kröger, Astrid: Endstation Bahnhof. In: Junge Welt 08.11.1993.

o.A.: Belohnung im Mordfall am S-Bahnhof. In: Berliner Morgenpost 09.11.1993, S. 12. (Kurzmeldung)

o.A.: Belohnung im Mordfall am S-Bahnhof. In: Berliner Morgenpost 09.11.1993, S. 12. (Kurzmeldung)

o.A.: Belohnung im Mordfall am S-Bahnhof. In: Berliner Morgenpost 09.11.1993, S. 12. (Kurzmeldung)

weso: Neue Spur im Fall des getöteten Heidelberg? In: Tagesspiegel (tsp) 19.11.1993, S. 8.

Dr. Rudolf Turber: Geistig Behinderter in Treptow brutal ermordet. In: Die Stütze 11/1993, S. 22.

o.A.: Ein Mord in Berlin-Oberschöneweide. In: ANTIFA 12/93, S. 20.

o.A.: Berlin-Treptow: Antifa Kundgebung nach Mord. In: AiB – Antifaschistisches Infoblatt 25/ 1.1994, 03.1.1994.

Biermann, Pieke (2005): Endstation Schöneweide. Berliner Verbrechen. Krimi-Autorin Pieke Biermann erzählt wahre Fälle. In: Tagesspiegel Nr. 18 985, 15.10.2005, S. 11.

Sundermeier, Jörg (1993): sichtet die sozialen Bewegungen in der Stadt. In: taz 28.10.2013, S. 12. Online: https://taz.de/POLITIK/!438261/

 

Artikel zu dem weiteren Mord in Johannistal/Treptow 1993

o.A.: 50-jähriger erschlagen. In: BZ 14.11.1993, S. 6. (Kurzmeldung).

tsp: Im Treppenhaus lag ein Toter. In: Tagesspiegel (tsp) 14.11.1993, S. 12.

o.A.: Raubmord? Leiche lag im Treppenhaus. In: Berliner Morgenpost 14.11.1993, S. 16. (Kurzmeldung)

o.A.: Toter in Treptow gefunden. Die Täter sind vermutlich zwei Jugendliche. In: Berliner Zeitung 15.11.1993, S. 20.

o.A.: Tot in Johannisthal. In: Neue Zeit, NZ 15.11.1993, S. 18 (Kurzmeldung)

Klinner, Bettina: Mann tot – weil er seine Geheimzahl nicht verriet! In: BZ 15.11.1993, S. 10.

weso: Jugendliche gestehen brutale Bluttat. In: Tagesspiegel (tsp) 15.11.1993, S. 10.

o.A.: Verhaftet. In: Berliner Zeitung 16.11.1993, S. 18. (Kurzmeldung)

o.A.: Tat gestanden. In: Neue Zeit 16.11.1993, S. 18. (Kurzmeldung)

Goldstein, P.: Geheimzahl oder Leben: Brutale Erpressung am Geldautomaten. Kriminalität mit Scheckkarten nimmt zu. In: Berliner Morgenpost 16./17.11.1993, S. 1.

weso: Neue Spur im Fall des getöteten Heidelberg? In: Tagesspiegel (tsp) 19.11.1993, S. 8.

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