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Hass auf Israel Antisemitismus auf TikTok

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Desinformationen können auf TikTok verschiedene Formen annehmen. (Quelle: picture alliance / CFOTO | CFOTO)

Die große Frage ist: Hat die Plattform TikTok etwas gelernt von der Eskalation des israelbezogenen Antisemitismus im Mai 2021 im Zuge der Eskalation und der Verbreitung von Desinformation und Verbreitung von Gewalt und Terrorvideos? Hashtags, die 2021 schon populär waren, und in den meisten Fällen abwertend zu verstehen sind, wie das Israelflaggen-Emoji neben einem Schuh, einer Flamme oder Toilette fallen laut TikTok unter die freie Meinungsäußerung und würden in unterschiedlichen Kontexten Verwendung finden. Gerade wurde die Plattform jedoch von der EU-Kommission verwarnt wegen der Menge an Desinformationen, die auf der ForYou-Seite in den letzten Tagen zu finden waren. Über die Suchfunktion finden Nutzer*innen bei einschlägigen Begriffen zum Nahostkonflikt zunächst hauptsächlich Angebote offizieller Medienhäuser und auch der „Content Warning“-Filter findet häufig Anwendung. Das hebräisch und arabischsprachige Content-Moderationsteam wurde die letzten Tage verstärkt. Seit dem Beginn der Angriffe auf Israel am 7. Oktober 2023 hat die Plattform hunderttausende Videos von der Plattform entfernt und doch finden sich viele Inhalte, die Ereignisse entkontextualisieren, einen vermeintlichen Kampf zwischen Gut und Böse inszenieren und somit auch Feindbilder verstärken. Rassismus wird thematisiert, während man sich über den offenkundigen Vernichtungsantisemitismus und den Terror der Hamas ausschweigt oder diesen relativiert.

TikTok hat eine Blindheit für Desinformation. In Bezug auf die Richtigkeit der Inhalte, die auf der Plattform zirkulieren und der Unabhängigkeit des „Tagesgeschehens“ auf TikTok, zeigt eine vielfach zitierte Analyse von NewsGuard, dass fast 20 Prozent der als TikTok-Reels (Videos) ausschließlich Fehlinformationen enthalten. Konkret heißt es, dass TikTok-Benutzer*innen bei Suchanfragen zum tagesaktuellen Geschehen systematisch mit falschen und irreführenden Behauptungen gefüttert werden. Im aktuellen Kontext des Hamas Angriffes auf Israel hat TikTok in den ersten Tagen knapp 500.000 Inhalte gelöscht, eine Spitze des Eisberges, die auf der Plattform geflutet werden.

Alles verboten?! – Desinformation

So behaupten seit dem Wochenende Aktivist*innen in ihren Videos, es sei illegal in Deutschland, die palästinensische Flagge zu zeigen, sich gegen den Krieg in Gaza zu positionieren und für Palästina zu protestieren. Mit diesen Behauptungen soll verdeutlicht werden, wie unterdrückt unverhältnismäßig die Maßnahmen in Deutschland sind infolge des Pogroms der Hamas. Strikte Maßnahmen bei Demonstrationen in der Hauptstadt werden als allgemeingültig proklamiert, Angriffe und Gewalt finden lediglich Erwähnung, wenn diese vom Staat ausgeht. Neukölln wird als zweites Gaza inszeniert.

Dabei wird auch eine Täter-Opfer-Umkehr vollzogen, indem lediglich vom Krieg in Gaza gesprochen wird. Allerdings sind auch alle drei Punkte Falschinformationen. So gibt es kein Verbot, eine palästinensische Fahne zu tragen. Es gibt auch kein Verbot, sich gegen die israelische Reaktion in Gaza zu positionieren, allenfalls eine soziale Ächtung. Pro-palästinensische Demonstrationen wurden lediglich zum Freitag hin verboten, nachdem der Führer der Hamas dazu aufgerufen hatte, Juden *Jüdinnen, jüdische und israelische Einrichtungen anzugreifen. Bereits am Samstag fanden wieder Demonstrationen statt. Allgemein sind die Hürden sehr hoch eine Demonstration zu untersagen, dies ist lediglich möglich, wenn akute Gefahr von der Veranstaltung für den öffentlichen Frieden ausgeht, was im Rahmen dieser Drohungen der Fall war. Jüdische Einrichtungen hatten im Zuge dessen am Freitag geschlossen, viele Juden*Jüdinnen verließen Freitag nicht das Haus aus Angst vor Angriffen. Die Videos, die diese Falschinformationen verbreiten, haben über 50.000 Views. 

Realität, optional?

Die BBC berichtet von einem TikTok Reel, das eine Frau zeigt, die brutal von Hamas-Kämpfern verschleppt wird. Die Redaktion der BBC prüft das Video auf Echtheit, stellt fest, dass es sich um ein echtes Video handelt, welches an der Peripherie von Gaza City in Sheijia aufgenommen wurde. Während das Reel eine wahre Begebenheit illustriert, wird in der Kommentarspalte eine andere Realität verhandelt. So füllt sich die Kommentarspalte, neben den schockierten Stimmen, mit falschen Behauptungen, in denen Nutzer*innen entgegnen, bei der verschleppten Frau handele es sich um eine Schauspielerin. Mehr noch, das Video verfolge lediglich das Ziel, den Ruf der Hamas zu schädigen. Andere kommentieren, dass es keine Beweise für die Echtheit gäbe und es sich vielmehr um ein „Fake“ der Mainstream Medien handele. Solche Ablenkungsmanöver sind keine isolierten Einzelfälle, sondern Teil einer größeren Strategie, die die Absicht verfolgt, Realität und Faktizität zu verwischen. Es ist der Versuch, den Online-Diskurs zu kapern und Zuschauer*innen zu verwirren und ihnen eine alternative Wirklichkeit an Stelle einer faktischen Realität zu verkaufen. Und auf TikTok geht diese Strategie auf. Kleine Accounts, die erst vor kurzem gegründet wurden, tauchen wie Pilze nach dem Regen auf, posten ihren Content, um sich anschließend wieder in der Informationsflut zu verlieren. Andere Creator*innen inszenieren sich als live Berichterstatter*innen oder gar Palästinenser*innen, veröffentlichen ihren Content jedoch aus Pakistan oder Saudi-Arabien. Immer wieder muss TikTok solche Accounts löschen, doch bis dahin ist bereits ein Schaden entstanden. Sie können Misstrauen sähen und mit Falschmeldungen viral gehen. Auf TikTok lassen sich von Duett-Videos pro-palästinensischer Aktivist*innen, zu dekontextualisierten Sounds bis hin zu selbsternannten politischen Kommentator*innen, die vom vermeintlichen Genozid in Gaza sprechen.

Falsche Gleichsetzungen und hinkende Vergleiche

„Doppelmoral“ lautet die Caption von Marija Bratucha, einer selbsternannten TikTok Politik-Kommentatorin mit knapp 80k Follower*innen. In ihrem „Doppelmoral“-Reel kritisiert die Creatorin Ursula von der Leyen für ihre vermeintliche Doppelmoral und zieht eine falsche Analogie zwischen dem Krieg in der Ukraine und Israels vermeintliche „Massenmorde“ in Gaza. Dabei zieht Bratucha einen Vergleich zwischen einem älteren Tweet von der Leyens über den russischen Angriffskrieg zu einem neuen Tweet, in dem es um das Selbstverteidigungsrecht Israels geht. Zynisch greift sie das Narrativ der Selbstverteidigung auf und kommentiert: „Selbstverteidigung nennt man also die Massenvernichtung in Gaza also,… ok. Sie hat also ihre Meinung binnen eines Jahres also vollständig geändert.“ Ihre Schlüsse sind verkürzt, dekontextualisiert und emotionalisierend. Ein gutes Beispiel für Desinformation also. Denn was Bratucha macht, ist durch einen hinkenden Vergleich zu der Situation in der Ukraine, Schlüsse zu ziehen über Israel. Gleichzeitig delegitimiert sie dabei die Politik der Europäischen Union und verbreitet institutionelle Skepsis. Man würde fast meinen wollen, die Creatorin habe das russische Desinformation-Playbook vorab gesichtet. Andere Nutzer*innen zeigen sich weniger komplex und ziehen plumpe Parallelen zwischen Israel und der Ukraine. So postet ein TikTok Nutzer ein Video, das einen Zug mit militärischem Equipment zeigt, mit der Caption: „Wohin gehts nach Ukraine oder Israel“. Um die Unmissverständlichkeit der Botschaft zu verstärken, hinterlegt der Nutzer seinem Reel eine bedrohlich klingende Orchestermusik. Damit soll suggeriert werden, dass Deutschland als böser Waffenlieferant, Kriege alimentiere. Andere Nutzer*innen arbeiten mit Satire als Mittel der Desinformation, um Stimmung gegen Ukraine und Israel zu machen.

Falsche Töne und verzerrte Soundkulissen

Was wäre TikTok ohne Sound? Auf der Kurzvideoapp wird besonders in Konfliktzeiten gern Realität laut- und klangmalerisch verzerrt. Soundschnipsel sind ebenfalls ein beliebtes Mittel im Desinformationskrieg. Sie unterfüttern Botschaften mit Emotionen und verstärken Affekte. Aktuell macht das Wellerman „Sea Shanty“, ein großer TikTok Trend von 2020, mit propagandistischen neuem Text die Runde. In den Strophen geht es hier um eine verkürzte Geschichte Palästinas inklusive Delegitimierung Israels.

Zahlreiche Creator*innen haben bereits diesen Trend aufgegriffen und ihre eigene Interpretation veröffentlicht. Der „Palästina-Shanty“-Trend lässt sich auf eine 32-jährige, ägyptische Content Creatorin namens Eman Askar zurückverfolgen, die mit dem Lied mehr als 10 Millionen Views innerhalb von 48 Stunden verzeichnen konnte. Im Songtext präsentiert Askar eine sehr kondensierte Geschichte, in der Christen, Muslime und Juden einst in einem Land namens Palästina in Frieden lebten, bis ein „bärtiger Mann“ (Theodor Herzl) beschloss, diese Ruhe zu stören. Am Ende der Neuinterpretation wird Israel als Apartheidstaat diffamiert. Der Liedtext gibt statt einer komplexen Geschichte ein Narrativ wieder, in dem die Rolle der Guten und Bösen ganz klar verteilt sind. Viele Aspekte werden ausgelassen. 

Die Behauptung der Kolonialisierung steht im direkten Widerspruch zum Text, wo nicht mal geleugnet wird, dass Juden auch auf diesem Stück Land schon lange Zeit lebten. Gleichzeitig suggeriert sie, dass auch Juden*Jüdinnen wie Siedler*innen agieren würden. Die Siedler*innen-Erzählung unterschlägt auch die Umstände, die dazu führten, dass Juden*Jüdinnen, die zunächst aus Russland und später aus anderen Ländern nach Palästina kamen, selbst Flüchtlinge waren, die vor Verfolgung flohen. Mehr noch, versuchten sie, eine neue Gesellschaft aufzubauen, die auf ihren alten Wurzeln basierte, einschließlich einer Wiederbelebung der semitischen Sprache. Schließlich betraten die jüdischen „Kolonisten“ keine Terra incognita, zu der sie keine historische Verbindung hatten.

Ein paar Scrolling-Minuten später findet sich direkt das nächste Video, das unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen soll: Ein Content-Creator namens Moe stitcht ein Reel einer jungen IDF-Soldatin zu seinem Musik-Reel, um Desinformation anhand falscher Besatzungskarten zu streuen. In diesem Lied besingt der Creator die vermeintliche israelische Siedlungspolitik, durch welche angeblich die palästinensischen Gebiete von der israelischen Regierung getilgt wurden. Auch dieser Song geht viral und verzeichnet innerhalb einer Woche fünf Millionen Aufrufe.

Parallel zu diesen internationalen Trend-Songs und Musik-Reels, versuchen auch deutsche Creator*innen mit Sounds junge Zielgruppen auf TikTok zu erreichen. So auch eine Creatorin namens Haylimaria, die sich in ihrem „Ich supporte Menschenrechte“-Video, als palästinensische Freiheitskämpferin mit Flagge und Pali-Tuch inszeniert. Im Subtext ihres Videos kursiert die Annahme, dass Israel ein Aggressor sei. Haylimaria arbeitet nämlich mit einer Täter-Opfer-Umkehr, das durch „Free Palestine“ Hashtags die Brutalität der jüngsten Hamas-Angriffe absolut verkennt. Wer sich das Profil der Creatorin genauer anschaut, findet sie bei pro-Palästina Demos, auf welchen sie antisemitische Parolen wie „From the River to the Sea“ nachruft. Wer fordert, dass Palästina vom Fluss Jordan bis zum Mittelmeer reichen soll („From the River to the Sea“), lehnt nicht nur eine Zwei-Staaten-Lösung ab, sondern spricht Israel das Recht ab, zu existieren. Zwischen Fluss und Meer befinden sich heute Israel, der Gazastreifen und das Westjordanland. Ein „freies Palästina“ in diesem ganzen Gebiet, wie in der Parole „From the river to sea, Palestine will be free!“ gefordert wird, würde die Auslöschung des einzigen jüdischen Staates und somit des einzigen Schutzraums für Jüdinnen*Juden bedeuten.

Wir alle sind in der Verantwortung: Lassen wir junge Menschen nicht allein zurück, mit den Bildern

Diese Beispiele zeigen, welch unterschiedliche Formen von Desinformation und geschichtklitternder Propaganda auf TikTok annehmen können. Bleiben diese Videos ohne Kontext, und Jugendliche, mit diesen Inhalten allein, verschließen sich nach und nach die Weltbilder und finden auch außerhalb der For-You-Page auf TikTok ihren Ausdruck. Das zeigt sich zum Beispiel auch in Videos von Jugendlichen, die darüber berichten, wie sie Schweigeminuten für Israel in der Schule ablehnen und kommentieren. Eine junge Creatorin schreibt unter ihr Video „Können die vergessen, wenn dann mache ich es für die unschulduge menschen die gesto//en sind“. Ein weiterer Creator kommentiert sein Video damit, dass er doch kein Herrensohn sei. Viele diese Videos fallen unter die freie Meinungsäußerung und doch sind sie nur schwer zu ertragen. Sie tragen zur Drohkulisse für Juden*Jüdinnen bei. Reale Rassismuserfahrungen im Alltag vermischen sich mit Propagandanarrativen aus dem Nahostkonflikt. Krisen und Konflikte werden auf TikTok unvermittelt, entkontextualisiert und in starken schwarz-weiß Gegenüberstellungen gezeigt. Die digitalen Kluften von heute verstärken somit die sozialen Kluften von morgen, wenn wir diese unadressiert lassen.

Neben der Plattform sind wir alle gefragt. Eltern, Erziehungsberechtigte, Lehrer*innen und Sozialarbeiter*innen sind angehalten, dieser Tage besonders aufmerksam Kinder und Jugendliche auf Social Media zu begleiten. Zu Fragen, was die jungen Menschen sehen, wie sie sich informieren und im nächsten Schritt neue Zugänge zu Informationen und Perspektiven zu schaffen. Wir dürfen junge Menschen nicht allein lassen mit Falschinformationen, den Bildern von Gewalt und Terror.

Wie kann ich die Medienkompetenz junger Menschen stärken?

  • Funktionen von Plattformen anschauen, z.B. Wie sperre ich bestimmte Begriffe? Wie kann ich meinen TikTok Algorithmus neu aufsetzen?
  • Eltern können einen Begleitaccount erstellen
  • Pausen machen, Screentime kontrollieren
  • Videoinhalte ohne Ton oder im Schwarz/weiß Modus anschauen, um emotionalisierende Effekte zu reflektieren
  • Content Check Übungen machen mit Videos
  • Grübelstop Übung vermitteln
  • Wie kann ich Fakten gegenchecken?  Zum Beispiel mit der Bilderrückwärtssuche


Unser pre:bunk Digital Streetwork Angebot auf TikTok: https://www.tiktok.com/@prebunk?_t=8gcI5iGpCz3&_r=1

Andere Kanäle, die aktuell über Desinformationen aufklären:

Die Tagesschau: https://vm.tiktok.com/ZGJTD94tH/

offen und ehrlich: https://vm.tiktok.com/ZGJTDg4m7/

Correctiv: https://www.tiktok.com/@correctiv_faktencheck?_t=8gcI3CdVZFw&_r=1

reporterfabrik: https://www.tiktok.com/@reporterfabrik?_t=8gcI2aYiIXQ&_r=1

Bait: https://www.tiktok.com/@bait.faktencheck?_t=8gcIAk0epv7&_r=1

 

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Eine junge Zielgruppe, ein aufmerksamkeitsbindender Algorithmus, der polarisierende, teils radikale Inhalte belohnt und das alles unter dem Deckmantel einer Lifestyle-Ästhetik: Mit TikTok haben rechtsextreme und andere demokratiefeindliche Akteur*innen eine neue Möglichkeit zur Radikalisierung und Verbreitung ihres menschenfeindlichen Weltbilds gefunden.

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Eine Plattform der