Liebe Leser:innen,
es kommen in Deutschland immer mehr Menschen aus der Ukraine an, die Schreckliches erlebt haben. Der Wunsch zu helfen ist sehr groß und somit werde auch ich als Psychotherapeutin, welche selbst aus Kiew stammt und seit 20 Jahren in Berlin arbeitet und lebt, immer öfter gefragt, ob man die traumatisierten Ankömmlinge zur Therapie bringen soll.
Aber… liebe Leser:innen! Die wirksamste Therapie für die Menschen in den ersten Wochen nach der Flucht sind Sie! Die menschliche Psyche ist so beschaffen, dass sie große Selbstheilungskräfte in sich birgt. Und diese fangen an zu wirken, wenn man, nachdem man vom Bösen verwundet wurde, das Gute erfährt.
In diesen ersten Wochen geht es für die Geflüchteten darum, zu realisieren, dass sie jetzt in Sicherheit sind. Stellen Sie sich vor, Sie würden plötzlich ihre Heimat und alles, was sie aufgebaut haben, verlieren und in einem fremden Land ankommen. Da ist Hilfe für existenzielle Fragen – wo wohnen, was essen, wie telefonieren, wie sich registrieren etc. – das Wichtigste! Und diese Hilfe geschieht jetzt mit einem unglaublichen Engagement, das berührt und das heilt! Und wird langfristig heilen!
Nachdem man existenzielle Fragen zumindest im Gröbsten geklärt hat, kann man sich den anderen Themen öffnen. Und auch da werden Sie Menschen, die wegen des schrecklichen Kriegs furchtbar leiden, trotzdem sehr wirksam helfen können. Indem Sie Gutes tun. Vielleicht unspektakulär und im Kleinen. Am besten einfach da Hilfe anbieten, was Sie gut können oder gerne machen: Kindern Nachhilfe oder Gesangsstunden geben, Familien zum gemeinsamen Kochen einladen, zum Sport oder Ausflug mitnehmen, mit der Bürokratie helfen etc. Besonders für Kinder ist es heilsam, dass nachdem sie etwas Schreckliches erlebt haben, sie wieder spielen, lachen, sich freuen, lernen und sich entwickeln können. Vielleicht werden Sie solchen Kindern in ihrem Beruf oder in ihrem Alltag begegnen und sie bei diesen Themen unterstützen können.
Wenn man nach einem Trauma in einer sicheren und freundlichen Umgebung ankommt, in der man selbstwirksam sein Leben gestalten kann, entwickelt ein Großteil der Betroffenen keine anhaltende psychische Störung. Ein kleinerer Teil schon, und wir, Psychologinnen und Psychologen, werden sehr viel zu tun haben, um diesen Menschen zu helfen. Aber was ich betonen möchte, ist, dass die beste Therapie nach dem Trauma das Leben ist, in dem man auf Menschlichkeit und Hilfsbereitschaft trifft!
Auch das Thema „Psychische Gesundheit der Helfenden“ darf hier nicht unerwähnt bleiben: Für diejenigen von uns, die den Krieg zwar nur von außen erleben, aber von Gefühlen des Entsetzens, der Wut, Angst, Mitleid oder Hilflosigkeit überwältigt sind, ist es auch heilsam, aktiv reagieren zu können. Indem wir anderen helfen, auch wenn es etwas Kleines ist, helfen wir auch uns selbst. Das für andere tun, was man am besten kann, sich damit nicht überfordern, aber auch nicht aufgeben, damit erschaffen wir in unserer eigenen Welt das Licht angesichts der Dunkelheit. Und wie viel Licht ist schon in diesen ersten schrecklichen Tagen des Krieges entstanden!
Auf meinem Youtube- Kanal biete ich Ukrainern psychologische Informationen und konkrete Übungen an, wie man mit der psychischen Belastung in Zeiten des Krieges umgehen kann:
Vera Neufeld, Psychotherapeutin in Berlin