von Olga Wendtke
Die Beratungsstelle Reach Out recherchiert und dokumentiert alle ihr bekannten Übergriffe und Bedrohungen in Berlin. Mit Hilfe der Registern, Berliner Antifagruppen, Zeitungen und den Pressemitteilungen der Polizei konnte sie im letzten Jahr 158 Übergriffe auswerten. Im Jahr 2011 wurden 229 Menschen Opfer von massiven Bedrohungen oder Übergriffen. Die Stadtteilregister veröffentlichen dazu rechte, rassistische, antisemitische und homophobe Vorfälle. Diese reichen von Hakenkreuzschmierereien bis hin zu Brandanschlägen auf alternative Wohnprojekte. Die unabhängige Chronik war eine Antwort auf die Zahlen der Sicherheitsbehörden. Auch heute noch werden Taten nicht als rassistisch bewertet, Übergriffe nicht konsequent ermittelt und Opfer kriminalisiert. Sabine Seyb, Mitarbeiterin der Opferberatungsstelle ?ReachOut?, berichtete von Beamten, die Opfer zuerst trotz Schwerverletzungen nach Ausweisen oder Schulden befragen. Betroffene werden durch dieses Verhalten der Polizei und Justiz retraumatisiert.
Nachmeldungen könnten 2011 höchste Zahlen bescheren
Zu Opfern rechtsextremer Gewalt werden Menschen, die nicht als vermeintlich ?deutsch? wahrgenommen werden, homosexuell sind, Juden und Jüdinnen, Antifaschist/innen sowie nicht rechte Jugendliche und Erwachsene. Weil es erfahrungsgemäß noch Nachmeldungen von Betroffenen gibt, hat das Jahr 2011 die traurige Chance, zum Jahr mit einem Höchststand seit dem Beginn des Chronik-Führens der Opferberatungsstelle im Jahr 2003 zu werden. Aber auch hier gilt, dass die Register und zuständigen Behörden nur einen Bruchteil der Vorfälle registrieren können, weil die Dunkelziffer hoch ist. Gerade im Westen der Stadt zeigen die Zahlen nur die ?Spitze des Eisberges?, da dort weniger KooperationspartnerInnen vorhanden sind. Es fehlen dort Stadtteilregister, die nicht nur aufzeichnen, sondern auch eine Sensibilisierung für rechte, rassistische, antisemitische und homophobe Aufkleber, Sprüche und Übergriffe schaffen. Diese Projekte sind wie im gesamten Bundesgebiet auch in Berlin besser im Osten aufgestellt und werden verstärkt dort von der Bundesregierung gefördert.
Zahlen ist Ost-West- Vergleich nähern sich an
Das dieses ?Ost- West?- Denken aufhören muss, zeigen allerdings erneut die Zahlen aus dem Jahr 2011. Die Gewalttaten ziehen sich über die komplette Stadt. Der Osten und Westen Berlins nähern sich an. Im Jahr 2011 ereigneten sich in den Westberliner Stadtteilen (80) mehr Angriffe als im Osten (78) der Stadt. Die Schwerpunkte liegen in Kreuzberg (17), Neukölln (15) , im Wedding (13), Lichtenberg (16) und Friedrichshain (16). Wie in den vergangenen Jahren ist das häufigste Tatmotiv Rassismus (2011:70, 2010:57).Höher als im vergangenen Jahr (20) wurden 2011 wurden Linke 32 Mal Opfer von Gewalttaten. Die meisten Angriffe fanden im öffentlichen Raum (2011: 77, 2010: 58) und in öffentlichen Verkehrsmitteln und Bahnhöfen statt (2011: 40, 2010: 27). Im unmittelbaren Wohnumfeld, der bis dato ein Rückzugsraum gewesen ist, wurden 14 Angriffe verzeichnet. Die Brutalität der Übergriffe hat zugenommen.
?Feindeslisten? im Internet als Ursache von rechter Gewalt
Die fünf Berliner Register verzeichnen Vorfälle, die einen rechten, antisemitischen, rassistischen oder homophoben Hintergrund haben. Unter diesen Vorfällen werden Sprühereien, Aufkleber, Veranstaltungen und alltägliche Pöbeleien gefasst. Anders als in den bestehenden Kriminalitätsstatistiken werden auch Vorfälle gefasst, die nicht zur Anzeige gebracht werden. Im Großbezirk Pankow wurden 116 rechtsextreme Vorfälle registriert. Auffällig ist dabei die Zunahme und Qualität der Gewalt gegen politische Gegner/innen. Hinzu kommen zwei versuchte Brandanschläge auf alternative Wohnprojekte. Die Netzwerkstellen ?Licht- Blicke? konnte im Bezirk Lichtenberg 145 Vorkommnisse registrieren. Verdoppelt dabei hat sich die Zahl der Sachbeschädigungen an Stolpersteinen oder dem Interkulturellen Bildungszentrum im Weitlingkiez. Ein hohes Potenzial an organisiertem Rechtsextremismus ist die Ursache für 197 Vorfälle in Treptow- Köpenick. Dort haben sich Neonazis rund um die Brückenstraße in Schöneweide eine neonazistische Infrastruktur mit Kneipe, Militärshop und 1-Euro-Buchhandlung geschaffen. Die Zahl an Übergriffen und massiven Nötigungen ist im Vergleich zum Vorjahr von 6 auf 17 gestiegen. Im Bezirk Friedrichshain- Kreuzberg (178) wurden ?Linke- Läden? vermehrt Angriffsziele von Rechten. Das kann als Ursache der ?Feindesliste? des Nationalen Widerstands Berlin gesehen werden. Auf dieser öffentlichen Liste im Internet haben Neonazis aus Berlin politische GegnerInnen, Journalist/innen und ?Linken Läden? gelistet. Die Hälfte der Personen wurden danach Opfer von rechter Gewalt.
Hohe Zahlen korrespondieren mit Stimmung in der Gesellschaft
Die neuesten Zahlen der Opferberatungsstelle und der Registern zeigen, wie wichtig eine unabhängige Recherche und Dokumentation ist. Täter/innen, die ihren Alltagsrassismus in Übergriffen und Pöbeleien zum Ausdruck bringen werden nur selten von Sicherheitsbehörden strafrechtlich belangt. Und die Zahlen der Übergriffe mit einer rassistischen Motivation sind auch in diesem Jahr wieder die Höchsten (2011:70, 2010: 57). Diese korrespondieren mit der Stimmung in der Gesellschaft. Auch 2011 wurden wieder Tabus mit dem allseits beliebten Satz: ?Das wird man ja wohl noch sagen dürfen? gebrochen. Diese ?geistigen Brandstifter? der Öffentlichkeit sind somit verantwortlich für diesen Alltagsrassismus, der einem in der Bahn, beim Bäcker oder in der Sauna begegnet. Und auch der bekannt gewordene ?Nationalsozialistische Untergrund? und damit einhergehenden Ermittlungsskandale haben keinen positiven Einfluss auf öffentliche ?Anti- Antifa?-Listen der Neonazis gehabt. Diese inspirieren für Übergriffe auf Antifaschist/innen und können etwa als Motivation für Brandanschläge auf Jugendeinrichtungen gesehen werden.
Ergebnisse belegen Lückenhaftigkeit der Ermittlungsbehörden
Deshalb wird auch im Jahr 2012 die Arbeit der Opferberatung und der Registerstelle eine enorm wichtige bleiben. Sie haben die Möglichkeit, mit ihren Ergebnissen die Lückenhaftigkeit und das teilweise Versagen der Ermittlungsbehörden dokumentieren. Außerdem können die Registerstellen mit ihrer Arbeit vor Ort Einfluss auf die Anwohner/innen nehmen. Denn erst, wenn Jugendliche im Kiez rechte Aufkleber entfernen oder die Busfahrerin rassistische Pöbeler/innen aus dem Bus wirft, tritt eine Solidarisierung mit den Betroffenen ein. Und diese Solidarisierung ist die Voraussetzung für eine angstfreie Atmosphäre, in der sich alle Menschen frei bewegen können.