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Holocaust-Verharmlosung Wie der Geschäftsführer der sächsischen Gedenkstätten Diskursverschiebung betreibt

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Der ehemalige DDR-Bürgerrechtler und Geschäftsführer der „Stiftung Sächsische Gedenkstätten“, Siegfried Reiprich, fällt auf Twitter negativ auf. (Quelle: Stiftung Sächsische Gedenkstätten / Foto: Steffen Giersch)

Mit alarmierenden Statements und weitgehenden Vergleichen haben Politik und Medien zur Verhandlung der ‚Krawallnacht von Stuttgart‘ wahrlich nicht gespart. Nun wurde das obere Ende der Messlatte erreicht: Bezug zum Nationalsozialismus. Der publizistische Provokateur Henryk M. Broder war wohl der erste, indem er auf seinem rechtspopulistischen Blog „Die Achse des Guten“ von „kleine[r] Kristallnacht“ schrieb (eine ebenfalls unpassende Analogie zur Kölner Sylvesternacht 2015 zog er außerdem auch). Aufgegriffen wurde das aber von einer Person mit fachlicher Funktion, von der ein solcher, keinesfalls haltbarer Vergleich umso mehr schockiert: Siegfried Reiprich, seit 2009 Geschäftsführer der „Stiftung Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft“. Bei Twitter kommentierte dieser einen Artikel, in dem ein politischer Hintergrund der Stuttgarter Vorkommnisse vermutet wird, mit „War da nun eine Bundeskristallnacht oder ‚nur‘ ein südwestdeutsches Scherbennächtle?“.

Historischer Vergleich mit den Novemberpogromen auf allen Ebenen unhaltbar

Was Reiprich, einst Bürgerrechtler in der DDR, damit aussagen will, erschließt sich schwerlich, ist der Vergleich doch auf sämtlichen Ebenen völlig falsch. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 – teilweise auch noch in den Tagen darauf – zerstörten Angehörige der „Sturmabteilung“ (SA) der Nationalsozialist*innen jüdische Gebäude und Geschäfte und drangsalierten brutal jüdische Personen. Diese Aktionen waren – anders als die NS-Propaganda versuchte darzustellen – im Vorhinein geplant und landesweit koordiniert – auch wenn sich spontan an vielen Orten Jugendliche anschlossen und reihenweise Nachbar*innen die Gelegenheit zum Plündern nutzten. Im Verlauf wurden über 1.400 Synagogen und Versammlungsräume in Brand gesetzt, massenhaft jüdische Friedhöfe geschändet und tausende Geschäfte und Wohnungen von Jüd*innen zerstört sowie 400 Menschen ermordet, viele mehr schwer verletzt. Unmittelbar danach wurden 30.000 männliche Juden in Konzentrationslagern inhaftiert, mindestens 400 weitere Personen wurden dabei getötet. Einerseits, um dem organisierten Charakter und extremen Ausmaß Ausdruck zu verleihen, andererseits, um nicht die verharmlosend und zynische Bezeichnung „Kristallnacht“ der Nationalsozialist*innen zu übernehmen, spricht die geschichtswissenschaftliche Forschung von den „Novemberpogromen“. Sie werden als Umschwung der antisemitischen Diskriminierung zur systematischen Verfolgung von Jüd*innen verstanden und markieren damit eine wichtige Zäsur des Prozesses, der im Holocaust mündete.

Antisemitismus-Verharmlosung und rechte Diskursverschiebung

Hier irgendwelche Parallelen zu den Geschehnissen in Stuttgart zu ziehen, ist aber nicht nur wissenschaftlich unhaltbar, sondern auch politisch und gesellschaftlich höchst problematisch. Wer die zeitlich und örtlich begrenzten Krawalle einer unorganisierten, heterogenen Gruppe, die sich gegen zufällig ausgewählte Geschäfte und Vertreter*innen des Staates richteten, vergleicht mit staatlich orchestrierten, flächendeckenden Aktionen gegen eine bereits brutal diskriminierten Minderheitengruppe – der muss sich vorwerfen lassen, beide Geschehnisse tendenziell gleichzusetzen. Das verharmlost massiv den Antisemitismus und relativiert die Verbrechen des Nationalsozialismus, die im Holocaust gipfelten. So werden nicht nur die Opfer des Holocaust und Betroffene von Antisemitismus verhöhnt und weiter marginalisiert, sondern die Grenze des Sagbaren nachdrücklich verändert. Eine Enthemmung im Verbalen sowie die davon verstärkte Radikalisierung im Handeln sind die Folgen.

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So argumentieren auch Vertreter*innen der sogenannten „Neuen Rechten”, wenn sie über Geschichtspolitik an Diskursverschiebungen arbeiten – ein Hauptbestandteil ihrer antidemokratischen Strategie. Ganz bewusst sollen die Grenzen des Sagbaren ausgeweitet werden, sodass am Ende der Nationalsozialismus und seine Verbrechen als ein Ereignis unter vielen anderen steht. Eine Verantwortung zur kritischen Auseinandersetzung mit Antisemitismus sowie die Anpassung des eigenen Handelns sollen damit nichtig werden. Im Gegenteil wollen die Akteur*innen weiterhin kritik- und verantwortungsfrei diskriminieren und hetzen. Als übergeordnetes Ziel steht neben dem simplen Bedürfnis, vorbehaltlos ‚stolz‘ auf Deutschland zu sein, auch ein System der Ungleichheit, da dieses Deutschland als homogene Nation verstanden wird, in der jegliche Minderheiten keinen Platz haben.

Nicht der erste Vorfall, durch den Siegfried Reiprich auffiel

Umso fataler, wenn sich sogar Personen an solchen Argumentationen beteiligen, die es durch ihre Arbeit und Funktion besser wissen sollten. Und Geschäftsführer Siegfried Reiprich hat nicht nur den Antisemitismus verharmlosenden Tweet gepostet. Nur einen Tag später setzt das ehemals in der SPD aktive, heutige CDU-Mitglied einen weiteren Tweet ab. Diesmal geht es um Weiße, die seiner Meinung nach „in die Position einer bedrohten Minderheit“ geraten – ergänzt mit einem Link auf einen Artikel aus „Die Achse des Guten“. Auch sonst bewegt sich Reiprich auf Twitter offensichtlich überwiegend in rechtsalternativen Kreisen: Affirmativ retweetet er beispielsweise den ehemaligen, überraschend AfD-nahen Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen, Roland Tichy und seinen Blog „Tichys Einblick“, den Welt-Kolumnisten Rainer Meyer aka „Don Alphonso”, Vera Lengsfeld und mit Udo Hemmelgarn sogar einen Bundestagsabgeordneten der AfD.

In Kritik standen er und seine Arbeit bereits 2016, als ihm „diktatorische Machtausübung“ vorgeworfen wurde, sowie dass er den Verbrechen der DDR höhere Priorität zukommen lasse als denen des Nationalsozialismus. 2015 geriet dank seines Stellvertreters Bernd Pampel – den er ebenfalls gerne retweetet – zudem die ganze Stiftung in unrühmliches Licht. Pampel hatte über die offizielle Seite einen Tweet verfasst, in dem der „Regierung, die sich nicht an Recht & Gesetz hält“ eine „Mitschuld, wenn Bürger sich [gegen] illegale Einwanderung wehren“, attestiert wurde. Im Editorial des hauseigenen Newsletters sprach er sich zudem mehrmals für Verständnis gegenüber der Pegida-Bewegung aus.

Deutliche Kritik und Rücktrittsforderungen, bisher aber noch keine Konsequenzen

An Siegfried Reiprichs aktuellem Tweet hagelt es nun erneut harsche Kritik, von den kulturpolitischen Sprecher*innen der Grünen und Linken verbunden mit Forderungen eines sofortigen Rücktritts. Frank Richter, ehemaliger Leiter der sächsischen Landeszentrale für Politische Bildung und nun parteiloser Landtagsabgeordneter für die SPD, sieht dies ähnlich und wird noch deutlicher: „Bewusst, willentlich und öffentlich“ spiele Reiprich mit Vergleichen aus der NS-Zeit. „Er gibt sich als Anhänger rechten Gedankenguts zu erkennen. Er, der in seiner Funktion mit höchster Sensibilität und kluger Ausgewogenheit argumentieren sollte, verletzt damit genau diese Opfergruppen, für die er eine besondere Verantwortung an prominenter Stelle wahrzunehmen hätte“. Dieser Einschätzung schließen sich auch die „sächsische Landesarbeitsgemeinschaft Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus (sLAG)“, die „AG der KZ-Gedenkstätten in der Bundesrepublik Deutschland“ und das „FORUM der Landesarbeitsgemeinschaften, der Gedenkstätten, Erinnerungsorte und -initiativen in Deutschland“ in einem gemeinsamen offenen Brief an.

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Zudem distanzierte sich Barbara Klepsch (CDU), sächsische Kulturministerin und damit Vorsitzende des Stiftungsrates der Gedenkstätten, „scharf von den jüngsten Äußerungen“ und berief eine kurzfristige Sitzung zur Besprechung der Angelegenheit ein. Reiprich selbst scheint allerdings keinerlei Handlungsdruck zu spüren, zumindest ließ er alle Tweets bisher ungelöscht. Vielleicht ist die Kritik ihm aber auch einfach egal, da er – wie erst kürzlich mitgeteilt wurde – auf eigenen Wunsch sowieso zum Dezember 2020 in Ruhestand geht.

Update 03.07.2020:

Laut Nachrichtenagentur epd (vgl. evangelisch.de) hat sich Siegfried Reiprich (65) für seine umstrittenen Äußerungen auf Twitter entschuldigt. „Der Tweet war ungeschickt und ein Fehler. Es war eine ironische Frage, die auch gefährlich provozierend war. Ich würde es so nicht mehr schreiben.“ Allerdings relativierte er die Aussage im Fortgang des Gesprächs: „Ich habe unterschätzt, wie groß das Erregungspotenzial und Skandalisierungsbedürfnis ist und wie intolerant das Meinungsklima“, sagte Reiprich dem epd. „Mich in die neurechte Ecke zu stellen ist absurd“, sagte er mit Blick auf Rassismus-Vorwürfe.

Update vom 22.07.2020:

Die „Stiftung Sächsische Gedenkstätten“ stellt Reiprich „mit sofortiger Wirkung unwiderruflich“ frei. Der Beschluss des Stiftungsrates erfolgte einstimmig in einer Sondersitzung in Dresden. Reiprich wurde nichtsdestotrotz für seine Verdienste und zehnjährige Tätigkeit gedankt. Seine Bezüge laufen bis zur von ihm bereits beantragten vorzeitigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses Ende November weiter.

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