Etwa 1,5 Millionen Juden wurden während der Shoah in der Ukraine ermordet. Der 1935 in der Ukraine geborene Boris Zabarko ist einer der wichtigsten Forscher zum Thema. Im März diesen Jahres wurde die Situation für den 86-jährigen Shoahüberlebenden in der Ukraine unerträglich. Auf abenteuerlichen Wegen rettete er sich mit seiner Enkelin und Nichte über Lwiw und Budapest nach Deutschland. Also ausgerechnet in das Land, das ihn vor 80 Jahren systematisch verfolgt hatte.
Dass Boris Zabarko hierzulande nicht nur in Fachkreisen bekannt, dass seine bahnbrechenden Forschungen auch auf deutsch vorliegen, ist dem unermüdlichen Engagement der Kölner Ehepaares Margret und Werner Müller zu verdanken. Darüber später mehr.
Boris Zabarko, am 18. November 1935 in Kalininske geboren, studierte und arbeitete in Czernowitz am Institut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der Ukrainischen SSR. Der Überlebende, der von 1971 bis 1991 Mitglied der sowjetisch-deutschen Historikerkommission war, legte eine Vielzahl – insgesamt 200 – von Aufsätzen und Büchern vor, auch über die Shoah, obwohl das Thema in der UdSSR ein Tabu war. Er gilt als Initiator von Dokumenten über antisemitische Schriften und Gewaltakte in der Ukraine.
Boris Zabarko, der Überlebende, sammelte über Jahrzehnte das Wissen über die Shoah in der Ukraine. 2,7 Millionen Juden lebten vor dem Überfall der Deutschen auf Russland in der Ukraine, heute sind es noch gut 100.000. 1,5 bis 1,6 Millionen ukrainische Juden wurden getötet. Das fürchterlichste Pogrom war das von Babyn Jar am 29. und 30. September 1941. Etwa 33.000 Juden wurden ermordet, nur wenige überlebten. Deren Dokumente und Zeugenaussagen sammelte Zabarko.
Werner und Margret Müller
Dem Kölner Ehepaar Werner (86) und Margret Müller (83), noch während des Krieges geboren, ließ die mangelnde Aufarbeitung der Nazizeit keine Ruhe. Christlich geprägt engagierten sie sich über Jahrzehnte unermüdlich für einen Brückenschlag nach Osteuropa, nach Polen und in die Ukraine, anfangs im Rahmen des katholischen Maximilian Kolbe Werkes (MKW). Nach dem Zerfall der Sowjetunion erleichterten sich die Kontakte zu Überlebenden deutlich. So lud das MKW 1996 eine Gruppe von überlebenden ukrainischen Juden und Jüdinnen nach Polen ein. Bei ihrer Betreuertätigkeit lernten die Müllers auch Boris Zabarko kennen. Als sie dessen zahllosen wissenschaftlichen Materialien sahen – der heute 86-Jährige ist inzwischen Präsident der Allukrainischen Assoziation der Jüdischen KZ- und Ghettoüberlebenden – intensivierten sie ihre Arbeit noch einmal und übersetzten selbst, mit Unterstützung, unzählige Zeugenaussagen. Sieben mal reisten sie in die Ukraine, angetrieben auch von der Angst, die betagten Überlebenden nicht mehr rechtzeitig befragen zu können. Hieraus entstanden in den kommenden 25 Jahren ihre gemeinsamen wissenschaftlichen Werke.
2009 schlossen sie das Werk Nur wir haben überlebt. Holocaust in der Ukraine ab. Der Historiker Wolfgang Wette steuerte eine Einleitung bei. Hierin hebt er „das Tabu der Judenmorde“ hervor. Die Müllers beschreiben, noch vom Schock geprägt, die Kleinteiligkeit der unvorstellbaren deutschen Vernichtungsmaschine. Es habe „mehr als 600 Vernichtungsorte“ gegeben. Es sei ein Vernichtungsschlag gegen die europäische Zivilisation.
2020 folgte — von den Müllers und Zabarko verfasst — Leben und Tod in der Epoche des Holocaust in der Ukraine, es gilt heute als Standardwerk. Die Lektüre ist, wie bei vielen der Bücher, die sich mit diesem Thema befassen, oft unerträglich, die Zeitzeugenberichte einfach furchtbar. Die meisten Morde waren von den Deutschen organisiert worden. Aber es waren auch, wohl unter Druck, u.a. rumänische Einheiten beteiligt. Zehn Prozent der Morde sollen von ihnen begangen worden sein. Wer sich weigerte, dem drohte selbst der Tod.
Aber es gab auch Helden, Gerechte: 2.624 Ukrainer wurden von Yad Vashem als Gerechte unter den Völkern geehrt. Der Band enthält 215 Berichte von Überlebenden. Die Berichte werden den jeweiligen Tatorten zugeordnet.
Bei der Lektüre fragte man sich, wie das Kölner Ehepaar Müller – der Autor dieses Beitrages kennt sie langjährig etwas – eine solche im wahrsten Sinne des Wortes übermenschliche Tätigkeit über Jahrzehnte zu leisten vermochte. „Es musste getan werden“, bemerkten sie 2020 lakonisch.
Ab und zu erzählen sie doch von ihrer eigenen familiären Biografie: Margret Müllers Vater war weder in der NSDAP noch im Krieg, Werners Müllers Vater hingegen kämpfte als Soldat bei der Wehrmacht. Die Filme über die Konzentrationslager rüttelten seinen Vater wach. Das Wissen, dass zwei seiner Onkel bei der Gestapo und der SS war, ließ Werner Müller keine Ruhe. Der Kampf gegen die deutschen Verbrechen und deren „Aufarbeitung“ wurde zu seiner Lebensaufgabe.
Eine exemplarische Geschichte, von denen man zahlreiche erzählen könnte: Vor knapp drei Jahrzehnten sprachen sie bei einer ihrer Begegnungen in Warschau mit dem Überlebenden Pjotr Ruwinowitsch Rabzewitsch aus Kiew an: „Ihr müsst meinen Retter finden“, forderte sie dieser am Ende nachdringlich auf. Pjotr war einer der ganz wenigen Überlebenden des Ghettos in Pinsk. Ein deutscher Offizier hatte 1942 sein Leben riskiert, um Pjotr zu retten. Nur Wenige vermochten diese Geschichte zu glauben, so unglaublich klang sie.
Werner Müller machte sich an die Arbeit, erforschte Piotrs Lebensgeschichte. 2001 erschien das von Werner Müller herausgegebene: Aus dem Feuer gerissen. Die Geschichte des Pjotr Ruwinowitsch Rabzewitsch aus Pinsk.
Neuanfang in Deutschland
55 betagte, pflegebedürftige Überlebenden haben bisher den Weg nach Deutschland gefunden, ganz gewiss mit Ambivalenzen. Der Zentralrat der Juden achtet darauf, dass sie in Altersheime kommen, in denen auch russisch- und ukrainischsprachige Menschen arbeiten. Sie alle tragen die furchtbaren Bilder ihrer Jugend in sich, nur dass diesmal Putins Russland für den Zerstörungskrieg die Verantwortung trägt.
Zwei Monate nachdem Boris Zabarko im März in Stuttgart ankam, erhalten die Müllers nun eine besondere Ehre: Werner (86) und Margret Müller (83) wurden im Mai für ihr unermüdliches Engagement mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. „Man könne nicht die Hände in den Schoss legen“ benannte Margret Müller das Motiv für ihr Engagement. Eine Untertreibung für ihr Lebenswerk gegen das Zerstörerische.
Am 30.6. um 19 Uhr werden sie in Köln im NS DOK gemeinsam auftreten: Nach Deutschland geflohen. Dr. Boris Zabarko im Gespräch mit Margret und Werner Müller
Bild oben: Wikimedia / Alex long / CC BY-SA 4.0
Dieser Text ist in einer längeren Version zuerst bei Hagalil erschienen.