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„Ich kann für die Sicherheit der Flüchtlinge nicht garantieren“

Blick in der Nacht zum 04.04.2015 auf das brennende Dach der geplanten Asylbewerberunterkunft in Tröglitz (Sachsen-Anhalt). (Quelle: picture alliance / dpa)

Nein, er will diesen Satz nicht zurücknehmen, auch nach einer Woche steht er dazu, zu jedem Wort. Man hätte ja denken können, dass er ihm einfach so rausgerutscht sei, in einer aufgeregten Situation: Eine Flüchtlingsunterkunft hatte gebrannt; die Journalisten waren ins Dorf eingefallen; das ganze Land war erschrocken. Da kann es schon sein, dass man etwas sagt, von dem man sich hinterher wünscht, es sei einem nie über die Lippen gekommen.

Ein Telefongespräch mit Götz Ulrich, 45 Jahre alt, Landrat im Burgenlandkreis in Sachsen-Anhalt, zuständig auch für Tröglitz, jene Gemeinde, in der vor Ostern eine Flüchtlingsunterkunft brannte. Ulrich ist ein ruhiger Mann. Keiner, der den großen Auftritt sucht. Und doch gab es vergangene Woche, als ihn die ZEIT besuchte, am Ende des Gesprächs diesen einen, verstörenden Moment. Da antwortete Ulrich auf die Frage, ob die Flüchtlinge in seinem Landkreis sicher seien: „Dafür kann ich nicht garantieren.“ Und auch jetzt, am Telefon, wiederholt er diesen Satz.

Ein Staat, der die Menschen nicht beschützen kann? Was ist das für ein Staat?

Deutschland ist kein Entwicklungsland, kein gescheiterter Staat wie der Irak oder Somalia. Wie kann es da sein, dass Menschen hier nicht sicher sind? Dass Flüchtlinge fürchten müssen, Opfer eines Anschlags zu werden? Und wenn der zuständige Landrat dieses Staatsversagen unumwunden einräumt: Müssten dann nicht andere einspringen und helfen? Etwa die Landesregierung? Oder der Bund?

Die Suche nach einer Antwort führt vom Landratsamt in Naumburg, wo Götz Ulrich arbeitet, über die Landeshauptstadt Magdeburg bis ins Bundesinnenministerium in Berlin. Und sie zeigt einen Staat, der sich bis zum Anschlag von Tröglitz in gewisser Weise aufgegeben hatte: Die Verantwortung wurde einfach weitergeschoben, von einer staatlichen Stelle zur nächsten.

Fragt man Götz Ulrich, ob im Burgenlandkreis wirklich alles getan wurde, um den Anschlag zu verhindern, weicht er aus. Der Landrat erzählt dann, dass man für die Überwachung derjenigen Unterkünfte, in denen bereits Flüchtlinge wohnen, eigens einen Sicherheitsdienst beauftragt habe – auf Kosten der jeweiligen Kommune. Er berichtet, dass die Polizei in Tröglitz stündlich das Haus in der Ernst-Thälmann-Straße observiert habe, dessen Dachstuhl später brannte. Und dass die Bereitschaftspolizei des Landes Sachsen-Anhalt jede Woche zugegen war, wenn in Tröglitz die Rechtsradikalen aufmarschierten. Nur genutzt hat es alles nichts.

Warum ist das so, Herr Ulrich?

Die Rechtsradikalen hätten sich Tröglitz ausgesucht, um einen Präzedenzfall zu schaffen, sagt Ulrich. Regionale Neonazi-Kameradschaften wollten gemeinsam mit der NPD das Flüchtlingsheim verhindern, um zu zeigen, dass der Staat schwach sei. Es hätte schon eine Art Aufstand der Anständigen gebraucht, um das zu verhindern. Und vor allem: deutlich mehr Geld.

Das also hört man, wenn man nachfragt, warum der Staat nicht für die Sicherheit der Menschen garantieren könne: weil es an Geld fehlt.

Das Geld fehlt – ist das alles?

In vielen wohlhabenden Gegenden Westdeutschlands mag das ein geringeres Problem sein; im Süden Sachsen-Anhalts jedoch sind die Städte und Gemeinden so arm, dass sie es sich nicht leisten können, jede leer stehende Flüchtlingsunterkunft 24 Stunden am Tag von einem privaten Sicherheitsdienst bewachen zu lassen. Die Polizei hätte dafür ohnehin zu wenig Beamte. Das Geld fehlt an allen Ecken und Enden, nicht nur für Sprach- und Integrationskurse für die Flüchtlinge.

Die Flüchtlinge werden den Burgenlandkreis in diesem Jahr voraussichtlich 11 Millionen Euro kosten. Gerade mal ein Zehntel davon will der Bund beisteuern. Und ausgezahlt wurde bisher noch kein Cent. „Wenn sich daran nichts ändert“, sagt Landrat Ulrich, „sind alle Bekundungen aus der Bundespolitik, uns in Tröglitz und anderswo helfen zu wollen, nur Lippenbekenntnisse.“

Anruf in Magdeburg, bei Holger Stahlknecht. Der Innenminister von Sachsen-Anhalt war selbst bis vor vier Jahren Bürgermeister eines kleinen Ortes in seinem Bundesland. Er weiß, wie die Leute ticken. Er weiß, wie fremd die Flüchtlinge in manchen Kommunen tatsächlich sind und wie groß die Ressentiments. Und Stahlknecht weiß auch, was man als Landrat und Bürgermeister leisten kann und muss – und was nicht. Er kennt die finanziellen Engpässe der Kommunen.

Wieso versagt der Staat, wenn es darum geht, Menschen zu beschützen, Herr Stahlknecht?

Den Vorwurf der Untätigkeit will der Landesminister nicht auf sich sitzen lassen. Er selbst sei doch im Ort gewesen, bei den Gottesdiensten, sagt er. Der Schutz der leeren Immobilie sei doch vernünftig bemessen gewesen, sagt er.

Nur: Warum hat es dennoch nicht gereicht?

Auch Holger Stahlknecht sagt: weil das Geld fehlt. Und weil Sachsen-Anhalt kein reiches Bundesland ist, fühlt auch er sich ziemlich alleingelassen – von der nächsthöheren Ebene, dem Bund. Die Bundesregierung, sagt Stahlknecht, könne nicht immer nur drängeln und auf das in den Dörfern Sachsen-Anhalts ohnehin spärliche Engagement von Ehrenamtlichen hoffen. „Die Kommunen müssen sich darauf verlassen können, dass die Aufnahme und Unterbringung von Asylsuchenden finanziell sichergestellt ist“, sagt der Landesinnenminister. „Dazu gehört auch, dass die Mittel im erforderlichen Umfang durch den Bund bereitgestellt werden. Permanentes Nachjustieren ist zu langsam und ineffektiv.“

Stahlknecht will in seinem Land künftig sogenannte Integrationslotsen einsetzen, die Flüchtlinge zum Beispiel bei Behördengängen begleiten. Diese Helfer seien zwar ehrenamtlich tätig, brauchten aber eine „entsprechende Aufwandsentschädigung“. Und wenn man wolle, dass sich eine Zivilgesellschaft in solchen Fällen engagiere, sagt der Innenminister, dann müsse man erst einmal eine schaffen.

Es war eine Umschreibung für: Wir zahlen nix

Die Zivilgesellschaft also. Man hat von ihr in den vergangenen Wochen auch vom Bundesinnenminister immer wieder gehört, nur dass er, leicht abgewandelt, von der „Bürgergesellschaft“ sprach. Aktionspläne seien „jetzt nicht so gefragt wie gutes, handfestes Arbeiten von Bürgermeistern, Initiativen und den Menschen vor Ort“, sagte Thomas de Maizière nach dem Tröglitzer Brandanschlag. „Die Bürgergesellschaft ist sehr stark.“ Es war eine Umschreibung für: Wir zahlen nix.

Auftritt de Maizière am Dienstag dieser Woche in Berlin. Das Innenministerium veranstaltet eine Konferenz über Zuwanderung und Migration, der Minister hält die Eröffnungsrede. Ein souveräner Auftritt, de Maizière ist erkennbar im Thema, er sucht die Rolle des Antreibers, will nicht der Getriebene sein. Er spricht über das Zuwanderungsland Deutschland, über das schlanke Punktesystem der EU namens Blue Card, über erfolgreiche Biografien von Migranten, über die WebsiteMake it in Germany, über die begrenzte Steuerungsfähigkeit des Rechts. „Wir reden zu viel über ‚erlauben‘, aber zu wenig über ‚einladen‘ oder ‚bleiben'“, sagt er.

Das Wort Tröglitz fällt erst nach einer halben Stunde.

Migration berge „auch Potenzial für Konflikte“, sagt de Maizière. Das sehe man an aggressiven Anti-Israel-Demos von Palästinensern am Brandenburger Tor. An Übergriffen gegen Juden in Frankreich. Oder eben in Tröglitz. Später fügt er ganz allgemein noch hinzu, es gebe „keine Integration ohne Konflikte, ohne Reibung“.

Keine Intergration ohne Reibung?

In der anschließenden Podiumsdiskussion sagt Uwe Lübking vom Deutschen Städte- und Gemeindebund, er habe in seinen dreißig Jahren in der Kommunalpolitik noch niemals solche Anfeindungen gegen Bürgermeister und Verwaltungen erlebt wie im Moment. Selbst in den neunziger Jahren, als in Deutschland Asylbewerberheime brannten, habe es keinen solchen Hass gegeben.

Und Demetrios Papademetriou vom Migration Policy Institute in Washington erschreckt die Anwesenden mit der Prognose, wonach die Zahl der Flüchtlinge und Asylbewerber sich im kommenden Jahr fast verdoppeln könnte, auf 500.000. „Wann müssen wir umdenken?“, fragt der US-Professor eher rhetorisch, und wendet sich dann direkt an den Minister, der in der ersten Reihe des Publikums sitzt: „Herr Minister, ich kann hier viel denken und reden. Aber Sie, Sir, müssen handeln.“

Der Druck wächst

Tatsächlich wächst der Druck auf de Maizière, den Kommunen mehr Geld zu verschaffen. SPD-Chef Sigmar Gabriel will die Gemeinden dauerhaft entlasten. Die Grünen verlangen einen Flüchtlingsgipfel. Und am Mittwoch dieser Woche fanden alle 631 Bundestagsabgeordneten einen Brief der FDP in ihrer Post. Absender: die stellvertretende Parteichefin Marie-Agnes Strack-Zimmermann. „Beenden Sie die würdelose Diskussion um die Finanzierung der Flüchtlingshilfe der Kommunen“, schreibt Strack-Zimmermann, „und bringen Sie einen Gesetzentwurf zur Finanzierung ein!“ Was die Kommunen erstattet bekämen, decke in der Regel noch nicht einmal die Kosten für die Unterkunft der Flüchtlinge. Notwendig sei ein „Sofort-Fonds in Milliardenhöhe“. Und wenn die Regierung sich weiter weigere, könnten wenigstens die Parlamentarier tätig werden.

Rückkehr nach Tröglitz, am vergangenen Sonntag, Tage nach dem großen Trubel. Männer machen Gartenarbeit. Frauen hängen Wäsche auf. Normalität, könnte man meinen – bis der Blick noch einmal auf den verkohlten Dachstuhl jenes Hauses fällt, in das eigentlich bald Asylbewerber einziehen sollten. Und auf die Polizisten in ihrem Streifenwagen, die noch immer am Straßenrand wachen.

Schon seit Januar, seit den ersten Protesten gegen das Flüchtlingsheim, organisieren der Pfarrer Matthias Keilholz und ein Kollege an jedem Sonntag ein Friedensgebet. Fast bis auf den letzten Platz ist die Kirche an diesem Abend gefüllt, man singt Nehmt einander an, man betet, dass der Herr bei denen sein möge, „die zu uns nach Tröglitz kommen werden“ und „dass wir unser weiches Herz behalten“. Als zwei junge Asylbewerber aus Syrien, die im Nachbarort Hohenmölsen leben, ihre Fluchtgeschichten erzählen, geht ein Schluchzen durch die Kirche.

Später am Sonntagabend, als es schon dunkel wird, noch ein Spaziergang durchs Dorf. Nicht weit entfernt von dem Haus, dessen Dachstuhl brannte, stehen ein paar Menschen auf der Straße, allesamt Mitte 40. Die Männer tragen Glatze, die Frauen Jogging-Klamotten. Ein kurzes, beiläufiges Gespräch ergibt sich. Aber als man weitergehen will, sagt einer der Männer, ganz leise: „Hoffentlich brennt’s bald noch mal.“ Was?, fragt man zurück, wie bitte? „Hoffentlich brennt’s bald noch mal“, wiederholt er. „Damit die auch wirklich wegbleiben.“

Er meint: die Ausländer.

 

Der Text erschien zuerst am 16.04.2015 in DIE ZEIT. Mit freundlicher Genehmigung der Autoren.

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