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„Ich lebe in diesem Land, und ich gehöre zu diesem Land“

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Die Witwe Elif Kubaşık (l) sowie Angehörige und Vertreter der Stadt Dortmund gedenken 2016 in Dortmund (Nordrhein-Westfalen) dem vom NSU ermordeten Kioskbesitzer Mehmet Kubaşık. (Quelle: (c) dpa)

Als Elif Kuba??k mit starker Stimme über ihren Mann sprach, wie sehr sie ihn liebte, und was sie an ihm schätzte, ließ sich erahnen, wie groß der Verlust für sie sein muss: „Mein Herz ist mit Mehmet begraben.“ Zum Prozess zu kommen, sei niemals leicht für sie gewesen; die Aussage von Zschäpe „ekelhaft“, die Erkenntnis darüber, welchen Beweisen die Polizei nicht nachgegangen war, eine ungemeine Belastung. Ein Prozess, dem es – entgegen des Versprechens der Bundeskanzlerin von 2012 – nicht um Aufklärung gegangen war, und der zentrale Fragen offen lässt: „Warum Mehmet? Warum ein Mord in Dortmund? Gab es Helfer in Dortmund? Sehe ich sie vielleicht heute immer noch? Es gibt so viele Nazis in Dortmund. Für mich ist das so wichtig. Was wusste der Staat?“

Die mangelnde Aufklärung thematisierte auch Gamze Kuba??k einen Tag später. In ihrer Aussage vor Gericht hatte sie gesagt, sie sei ein „Vaterkind“, mit ihrem Vater habe sie über alles sprechen können, sie habe ihm vertraut. Kritisch äußerte sie sich zur Rolle der Bundesanwaltschaft: „Sie haben vielleicht viel dafür getan, dass diese fünf hier verurteilt werden. Aber was ist mit den ganzen anderen?“ Sie betont – auch an Zschäpe gerichtet –, dass Aufklärung weiterhin möglich sei, auch wenn der Prozess vorbei ist. Wie wichtig und ernst ihr dieses Anliegen ist, zeigt sich auch in dem Angebot, das sie Zschäpe über ihren Nebenklageanwalt Sebastian Scharmer ausrichten lässt: Sollte sich Zschäpe im Nachhinein – während der wahrscheinlich anstehenden Haftzeit – ernsthaft von den Taten distanzieren und zur Aufklärung beitragen, würde sich Gamze Kuba??k für eine frühzeitige Haftentlassung einsetzen. Und das, obwohl sie Zschäpes Rolle als gleichwertiges Mitglied begreift. „Ich habe großen Respekt vor diesem Angebot von Frau Kuba??k“, kommentiert Scharmer.

 

„Nach der Ermordung von Mehmet war nichts mehr für mich wie zuvor“

„Ich habe in Deutschland zwei Leben gelebt, ein schönes bis zum 4. April 2006 und ein schlechtes. (…) Nach der Ermordung von Mehmet war nichts mehr für mich wie zuvor“, so gibt der Rechtsanwalt Carsten Illius die Worte seiner Mandantin Elif Kuba??k wieder. Sie habe große Angst gehabt um ihre drei Kinder, Neurodermitis entwickelt, nicht mehr schlafen können. Die diskriminierend geführten Ermittlungen der Polizeien verschlimmerten die Situation: Sie richteten sich ohne konkreten Anhaltspunkt gegen die Familie. Die Wohnung wurde drei Mal durchsucht, das Auto und der Kiosk zwei Mal. Bei der Beerdigung notierte die Polizei die Kennzeichen der parkenden Autos. In den intensiven Befragungen der Nachbar_innen brachte die Polizei rassistische Klischees auf: Heroin, Beziehungen mit anderen Frauen, Drogen, Glücksspiel, Mafia, PKK, „Blutrache“. Als ein Nachbar sagte, das stimme nicht, „korrigierte“ die Polizei ihn: Das stimme, der Nachbar wisse es nur nicht. Die Polizei fertigte Stammbäume der Familie bis in die dritte Generation an und arbeitete mit der türkischen Polizei zusammen. Die falschen Verdächtigungen wogen schwer: „Für Gamze Kuba??k ist ihr Vater dadurch ein zweites Mal ermordet worden“, so Scharmer.

„Dass überhaupt noch im Umfeld der Familien ermittelt wurde, ist wegen des spezifischen Seriencharakters der Taten, der zu diesem Zeitpunkt schon eindeutig feststand, unverständlich“, sagte Illius. Denn es handelte sich bei dem Mord an Mehmet Kuba??k bereits um den achten Mord, der mit derselben Waffe in derselben Vorgehensweise durchgeführt wurde. Immer wieder wurden Migranten ermordet, zwischen denen es keinerlei Verbindungen gab. Den zahlreichen Hinweisen für ein rechtes Tatmotiv ging die Polizei hingegen nicht nach.

 

„Wäre das so bei einem Gastronomen namens Müller auch passiert?“

Erst vor dem Hintergrund eines institutionellen Rassismus in Deutschland wird die Ermittlungspraxis der Polizei erklärbar. Auch in den vorangegangenen Jahrzehnten ermittelten Polizeien immer wieder in den Communities der Ermordeten anstatt rechten Motiven nachzugehen, so etwa nach den antisemitisch motivierten Morden an Shlomo Lewin und Frida Poeschke in Erlangen 1980, die einem Mitglied der extrem rechten „Wehrsportgruppe Hoffmann“ zugeschrieben werden. Auch in den 1990ern – darauf wiesen die Nebenklagevertreter hin – kam es zu diskriminierenden Ermittlungen gegen Angehörige von Opfern rassistischer Gewalt, bspw. in den Jahren 1993 bis 1994 in Hattingen, Erbendorf, Stuttgart und Herford.

Auch innerhalb des NSU-Komplexes sind die beschriebenen Ermittlungen gegen die Angehörigen kein Einzelfall. Rechtsanwalt Mehmet Daimagüler berichtet in seinem Plädoyer etwa von sehr ähnlichen Erfahrungen, die seine Mandantschaft, die Familien von Abdurrahim Özüdo?ru und ?smail Ya?ar, mit der Polizei machen musste. Obwohl es keine Anhaltspunkte dafür gab, habe die Polizei Mordmotive im Zusammenhang mit Drogengeschäften und organisierter Kriminalität konstruiert. Im Fall von ?smail Ya?ar untersuchte die Polizei sogar die Dönerspieße auf Rauschgift. Daimagüler bringt es auf den Punkt: Hätte auch bei einem „Gastronomen namens Müller“ eine Rauschgiftsache im Raum gestanden? „Sicher nicht“.

 

„Weit weg vom postnazistischen deutschen Staat und der dazugehörigen Gesellschaft“

Doch die rassistischen Ermittlungen der Polizeien vor dem Öffentlichwerden des NSU im November 2011 sind nicht der einzige Kritikpunkt der Nebenklage: Scharmer benennt in seinem Plädoyer auch das Versagen der Bundesanwaltschaft seit 2011. Im Zentrum der Kritik steht dabei, dass die Behörde an der These festhält, dass der NSU aus drei Personen (Uwe Böhnardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe) und vier Unterstützern (André E., Carsten S., Holger G. und Ralf Wohlleben) bestanden habe. Falsch sei, dass – wie die Bundesanwaltschaft angegeben hatte – in dem Verfahren jeder Stein umgedreht und nichts gefunden worden sei.

Die Beweisanträge, die Gamze Kuba??k im Prozess zu weiteren Unterstützer_innen und Beteiligten – zu dem „Netzwerk“ NSU – gestellt hat, seien größtenteils abgelehnt worden. Das betrifft etwa Anträge zu Nazi-Strukturen in Dortmund, zur Rolle von V-Personen und der „Aktion Konfetti“, dem Vernichten von auskunftsfähigen Akten durch den Verfassungsschutz.

Trotz der vielen abgelehnten Beweisanträge, trotz fehlender, weil geschredderter oder unter Verschluss gehaltener Akten, können Illius und Scharmer mögliche, am NSU Beteiligte benennen und damit verbundenen Ermittlungs- und Strafverfolgungsbedarf: Illius geht von einer „überregionalen Unterstützerstruktur“ aus und bei der Frage ins Detail, welche Neonazis der Dortmunder Szene beim Ausspionieren des Kiosks von Mehmet Kuba??k beteiligt gewesen sein könnten. Scharmer zeigt in seinem Plädoyers exemplarisch die nicht ausermittelte Rolle von zahlreichen V-Männern auf – mit dem Fazit: „Die Verantwortlichkeit der Angeklagten konnte festgestellt werden. Aber darüber hinaus nichts.“ Gegen Unterstützer_innen habe es viel zu wenige Ermittlungsverfahren gegeben, wegen staatlicher Mithilfe gar keine.

Dieses Narrativ der Bundesanwaltschaft ordnet Illius in seinem Plädoyer in den gesellschaftlichen Kontext ein und klopft es auf seine Funktion hin ab: „Gibt es kein bundesweites Nazinetzwerk, keine bundesweit ähnlich strukturell rassistisch handelnden Mordermittler, sondern nur drei ‚Einzeltäter‘ am Rand des Psychopathischen, mit ein paar Kumpels, die aushelfen, dann rücken die Morde eben weit, weit weg vom postnazistischen deutschen Staat und der dazugehörigen Gesellschaft“.

Umso wichtiger werden Initiativen wie „Kein Schlussstrich“, die zu der Urteilsverkündung eine bundesweite Demonstration und Kundgebung planen und sich dafür einsetzen, dass die Auseinandersetzung mit dem NSU-Komplex – sei es juristisch, sei es hinsichtlich der gesamtgesellschaftlichen Aufarbeitung – weitergeht.

Die Autor_in dankt für die unterstützende Arbeit der Blogs nsu-watch.infonsu-nebenklage.de und dka-kanzlei.

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NSU Prozess

NSU – Wir müssen über strukturellen Rassismus reden!

Seit Mai 2013 stehen fünf Angeklagte im NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht München vor Gericht. Was dort allerdings kaum zur Sprache kommt: Der Rassismus bei der Polizei, der lange die Aufklärung verhinderte. In Berlin diskutierten hierzu Liz Fekete vom „Institute of Race Relations“ in London und die Nebenklagevertreterin Antonia von der Behrens bei der Veranstaltung „Why the NSU Case matters – Structural Racism in Europe” in der Humboldt-Universität. Ihr Fazit: Ohne Debatte über strukturellen Rassismus in Deutschland kann die Auseinandersetzung mit dem NSU-Komplex keine Früchte für die Zukunft tragen.

Von Joschka Fröschner

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