910 Rechtsextreme besaßen 2019 in Deutschland einen Waffenschein. Das ist ein deutlicher Anstieg zum Vorjahr, 2018 waren es noch 792. Aber wieso dürfen Neonazis einen Waffenschein haben und damit auch legal Waffen besitzen? Diese Frage treibt nun auch Innenminister Horst Seehofer (CSU) um. Im Zuge des Mordes an Walter Lübcke 2019 kündigte er eine Verschärfung des Waffenrechts an, damit Rechtsextreme nicht mehr so einfach an Schusswaffen kommen. Das ist durchaus eine löbliche Idee, doch ob sie rechtsextreme Gewalt eindämmen wird, bleibt abzuwarten. Denn Rechtsextreme besitzen nicht nur legale Waffen, sondern auch eine unbekannte Anzahl von illegalen Waffen. Auch der Kasseler Regierungspräsident wurde in der Nacht zum 2. Juni 2019 mit einer nicht registrierten Waffe ermordet.
Obwohl der Lübcke-Mörder im Schützenclub war, hatte er keinen Waffenschein
Der mutmaßliche Mörder, Stephan E., kaufte laut aktuellem Kenntnisstand des Bundesgerichtshofs die Tatwaffe offenbar 2016 von einem Waffenhändler. Ermittelt wird derzeit, ob ein alter Kamerad von E. aus seinen aktiven Neonazi-Tagen das Geschäft mit dem Waffenhändler vermittelt hat (vgl. Hessenschau). E. selber war Mitglied eines Schützenclubs, hatte dort aber nach Angaben des Vereinsvorsitzenden keinen Zugang zu Schusswaffen. In E.s Wohnung fand die Polizei dennoch eine Schreckschusspistole und Unterlagen, wonach er eine Erlaubnis zum legalen Waffenbesitz anstrebte. Im Zuge der Ermittlungen stießen die Beamt*innen schließlich auf ein weiteres Waffendepot. Wie die Süddeutsche Zeitung berichtete, waren dort fünf Schusswaffen versteckt, darunter die Tatwaffe, die später zweifelsfrei identifiziert wurde, sowie eine Pumpgun und eine Maschinenpistole vom Typ Uzi mit Munition.
Zwar gilt das deutsche Waffengesetz als eines der weltweit schärfsten. Wer Waffen besitzen will, muss hierzulande als zuverlässig gelten. Als nicht zuverlässig zählt etwa die die Mitgliedschaft in einer verbotenen verfassungsfeindlichen Vereinigung. Aber allein vom Verfassungsschutz als rechtsextrem oder gewaltbereit eingestuft zu werden, reiche nicht, um die vom Gesetz verlangte „Zuverlässigkeit“ zu versagen. Dennoch wird Rechtsextremen und Reichsbürger*innen regelmäßig der Besitz von Waffen verweigert. 2018 wurden deutschen Rechtsextremen etwa 570 Waffenscheine entzogen, berichtet Thomas Haldenwang, Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Ende letzten Jahres im Bundesinnenausschuss.
Rechtsextremer Terror mit illegalen Schusswaffen
Und dennoch ist davon auszugehen, dass deutlich mehr Rechtsextreme Waffen besitzen, als es die offiziellen Zahlen darlegen. Bei Ermittlungen zu rechtsextremen Gewalttaten oder bei Razzien in der Szene findet die Polizei immer wieder zahlreiche illegal beschaffte Waffen. Genau wie der Lübcke-Mörder tötete auch der “Nationalsozialistische Untergrund (NSU)” neun migrantische Unternehmer mit einer nicht registrierten Waffe, einer Pistole des Typs Česká CZ 83 (die Polizistin Michele Kiesewetter wurde mit einer anderen Waffe getötet). Auch die Mordwaffe, mit der David Sonboly 2016 am Münchner Olympia Einkaufszentrum (OEZ) neun junge Menschen mit Migrationshintergrund tötete, war nicht registriert. Aber über welchen Weg kommen Neonazis an illegale Waffen?
Schusswaffen aus dem Ausland und die Rolle der rechtsextremen Söldner auf dem Balkan in den 1990ern
Zum einen ist anzunehmen, dass viele der illegal kursierenden Waffen aus dem Ausland kommen. Bei einigen Kalaschnikows und anderen Schusswaffen lässt sich nachvollziehen, dass sie aus dem Bürgerkrieg im früheren Jugoslawien stammen. Damals wurden die Waffenlager von Kämpfern und Rebellen leergeräumt. Der Bürgerkrieg auf dem Balkan zog viele Söldner aus anderen Ländern an, auch aus Deutschland. Schnell wurde den deutschen Behörden klar, dass sich unter diesen Kämpfern viele deutsche Neonazis befanden, berichtet der MDR. Bereits 1994 wurde unter anderem durch mehrere Verfassungsschutzämter eine Liste von deutschen Söldnern erstellt. Die gelisteten Personen hatten einen rechtsextremen Hintergrund, einige von ihnen sind bis heute tief verwurzelte rechtsextreme Aktivisten. Einer wird vom Bundeskriminalamt dem Unterstützerumfeld des NSU zugerechnet. Eine Spur des Waffenarsenals des mörderischen Netzwerks des NSU führt zum Bürgerkrieg auf dem Balkan in den 1990er Jahren. Als die rechtsextremen Kämpfer nach Deutschland zurückkehrten, schmuggelten einige von ihnen Maschinenpistolen und Handgranaten ein und boten sie in der Szene an.
Waffenkauf und Schmuggel im Ausland
Heute ist für die Waffenbeschaffung vor allem in Osteuropa beliebt, weil sie deutlich einfacher ist als in Deutschland. Besonders die Ukraine übt eine Faszination auf die militante rechtsextreme Szene aus. International treffen sich hier Neonazis auf Vernetzungs-Veranstaltungen wie Rechtsrock-Konzerten und Kampfsport-Events. Zudem wirbt das ukrainische paramilitärische Neonazi-Bataillon „Asow“ auch in Deutschland um neue Kämpfer*innen. Und immer wieder fallen Neonazis durch Besuche in osteuropäische Nachbarstaaten auf, in denen sie Schießtrainings an großkalibrigen Waffen absolvieren.
Der internationale Terrorismus und die Bewaffnung der Cybernazis
Eine relativ neue und extrem gefährliche Form rechtsextremer Gewalt ist der „Lone Wolf“-Terrorist, der große Teile seiner Zeit im Digitalen verbringt. Genau wie Offline-Neonazis hegen auch diese Cybernazis eine große Faszination für Gewalt und Waffen. Anders als die klassischen Aktivist*innen sind diese jungen Männer aber eher selten in rechtsextreme Offline-Strukturen eingebunden. Entsprechend haben sie eher Kontakte zu illegalen Waffenhändlern im Internet als in der Offline-Welt.
Mordwaffen aus dem Internet
Auch in Deutschland mordeten junge Männer dieses Tätertypus bereits: 2016 tötete der rechtsextreme 18-jährige David Sonboly am OEZ in München neun Menschen. Fünf weitere Personen verletzte er mit Schüssen. Sonboly zielte vor allem auf junge Menschen mit Migrationshintergrund. Anschließend tötete er sich selbst. Er gehörte zu einer internationalen Gruppe von jungen, gewaltaffinen Rechtsextremen, die sich digital vernetzen. Die Tatwaffe, eine Glock 17, bekam David Sonboly über das Darknet. Im Darknet ist Surfen weitgehend anonym, weil es in der Kommunikation keine Server gibt. Das Darknet dient nicht nur als Umschlagsplatz für illegale Waffen, Drogen und Pornos, sondern beherbergt auch Chat- und Forenserver von Dissident*innen in Diktaturen. Wer über ausreichend digital Kompetenzen verfügt, kann hier alles finden, was es für Bitcoins zu kaufen gibt, auch alle Arten von Waffen und Sprengstoffen.
Waffen aus dem 3D-Drucker
Auch der antisemitische Mörder aus Halle gehört diesem neuen Tätertypus an. Am 9. Oktober 2019 scheitert Stephan Balliet beim Versuch, ein Massaker in einer vollen Synagoge anzurichten. Er tötet stattdessen eine Passantin und einen Gast eines Dönerladens. Anders als Sonboly kaufte Balliet seine Tatwaffen nicht über das Internet. Er bastelte sie selber zusammen, mit Hilfe eines 3D-Druckers. In einer Art Manifest veröffentlichte er die Anleitung der selbstgebauten Waffen, mit der Aufforderung, es ihm gleich zu tun.
Diebstahl bei Bundeswehr und Polizei
Eine weitere Möglichkeit, wie Rechtsextreme an Waffen kommen, ist, in dem sie registrierte Waffen als gestohlen melden oder in dem sie sie stehlen. Besonders im Zuge der umfangreichen taz-Recherche zum Hannibal-Netzwerk, wurde offenbar, dass sich mutmaßliche Rechtsextreme selbst bei der Bundeswehr und aus Polizeibeständen Waffen entwendeten. Bei Razzien in diesem Umkreis wurden Unmengen an Waffen und Munition sichergestellt. Sie sollte den rechtsextremen Aktivisten dazu dienen, nach einem „Tag X“ gewaltvoll die Macht an sich zu reißen. Interessant ist hier die Frage, wie die massiven Waffenschwunde zuvor unentdeckt bleiben konnten.