Die kleine Gemeinde Lety liegt etwa 90 Kilometer von Prag entfernt. Während der deutschen Besetzung Tschechiens im zweiten Weltkriege stand hier ein Konzentrationslager, laut Nazijargon “Zigeunerlager”. Von August 1942 bis Mai 1943 waren hier über 1.300 Roma inhaftiert. Wegen der furchtbaren Bedingungen, unter denen die Roma hier zu leben gezwungen waren, starben über 300 Menschen im Lager. Doch statt eines würdigen Erinnerungs-Mahnmals steht hier heute eine stinkende Schweinefarm, die eine angemessene Erinnerung an die tschechischen Roma-Opfer des Holocaust unmöglich macht. Die Schweinemast auf dem Gelände des ehemaligen KZs ist zum Symbol der kontinuierlichen Diskriminierung der Sinti und Roma in Tschechien und ganz Europa geworden.
Die Schweinefarm in Lety
Aufseher begrüßt Gefangene im KZ-Lety: “Es gibt nur zwei Orte für euch Zigeuner: hier und in der Hölle”
Die Geschichten der Überlebenden werden heute durch die Hinterbliebenen weiter gegeben und zeugen von unmenschlichen Gräueltaten. Einer, der nicht müde wird, die Öffentlichkeit über Lety aufzuklären, ist der Aktivist Jozef Miker. Verwandte seiner Frau waren in Lety inhaftiert. Sie selbst weiß bis heut nicht, ob ihre Vorfahren schon hier gestorben sind oder im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, in das die Überlebenden von Lety 1943 deportiert wurden. Zwar sind nach offiziellen Zahlen über 300 Menschen direkt in Lety gestorben, doch mehr als 500 der Gefangenen wurden von Lety aus nach Auschwitz deportiert. Ein Großteil von ihnen ist dort oder in weiteren deutschen KZs umgekommen.
Jozef Miker trägt die Roma-Flagge. Unermüdlich setzt er sich für eine angemessene Erinnerungskultur an Verbrechen gegen die Roma ein.
Das European Grassroots Antiracist Movement (EGAM), organisierte vom 23. bis zum 24. Juni 2017 die Konferenz “Dignity for Lety!”. Roma-Delegationen aus ganz Europa sind nach Prag gereist sind, um gegen den andauernden Betrieb der Schweinefarm einzutreten. Hier, berichtet Jozef Miker von den Erfahrungen seines Großonkels, der einer der wenigen Überlebenden ist.
Mit gekrümmtem Rücken sitzt Jozef am Freitag auf dem Podium in einer Prager Kirche und gibt mit sonorer, ruhiger Stimme die Erfahrungen und Erinnerungen seines Großonkels wieder. Er erzählt von Schweinen, die im Lager von den Aufsehern gehalten wurden. Während die Gefangenen manchmal über drei Tage nichts zu essen bekamen, wurden die Tiere regelmäßig gefüttert, um sie zu mästen. Mikers Stimme wird brüchig, der Übersetzer gibt seine Worte wieder: “Wenn die Kinder dann, nach tagelangem Hungern, das Essen der Schweine stehlen wollten, wurden sie von den Aufsehern verprügelt. Manchmal so hart, dass sie an den Folgen der Schläge starben.” Von den über 300 Toten in Lety waren 250 Kinder. Während der Konferenz und dem anschließenden Gedenken am Rande der Schweinefarm in Lety werden viele solcher Überlebenden-Berichte vorgetragen.
Zwei tschechische Teilnehmer der EGAM-Konferenz stehen vor dem Veranstaltungsort
Lety wird zum Symbol der fortdauernden Diskriminierung der europäischen Roma
Während des Völkermordes im Dritten Reiches ermordeten die Nazis nicht nur Millionen Juden, sondern versuchten auch, die Bevölkerungsgruppe der Sinti und Roma kollektiv zu vernichten. Generell gibt es in der Geschichte der Sinti und Roma und der der Juden viele Parallelen in der Abgrenzung durch die jeweilige Mehrheitsgesellschaft und die jahrhundertelange Diskriminierung . Doch während der Holocaust an den Juden in der Nachkriegszeit stark in das öffentliche Bewusstsein geriet, wird an den Völkermord an 500.000 Sinti und Roma in Europa nach wie vor kaum erinnert.
Die Überlebenden wurden jahrzehntelang nicht als Opfer nationalsozialistischer Verfolgung anerkannt und erhielten für ihren verlorenen Besitz nur geringe oder überhaupt keine Entschädigungszahlungen. Doch obwohl, oder vielleicht auch gerade weil sich die Situation der Sinti und Roma in vielen Teilen Europa drastisch verschlechtert, beginnen Roma und Aktivist_innen nun für eine Erinnerungskultur der Sinti und Roma zu kämpfen. Lety ist zu einem allgemeinen Symbol für sie geworden. Am Kampf um die Würde von Lety zeigt sich, dass Roma beginnen, ihre eigene Geschichte zu entdecken und dass sie bereit sind, für ihre Anerkennung öffentlich in Erscheinung zu treten und dafür zu kämpfen.
Rom Alexander lebt mit seiner Frau in Ungarn. Seiner Meinung nach hat der Beitritt zur EU die Situation der ungarischen Roma nicht verbessert
Die Schuldfrage in Tschechien
Der Fall um das ehemalige Lety-Camp bekommt eine besondere Brisanz, wenn man den Aspekt der tschechischen Täterschaft während der deutschen Besetzung berücksichtigt. Denn von deutscher Seite aus gab es keinen offiziellen Befehl, die Insassen in Lety zu töten. Doch heute wissen wir, dass über 300 Roma hier ihr Leben lassen mussten. Das Brisante daran ist: das Lagerpersonal bestand ausschließlich aus ethnischen Tschechen. Dieser Fakt mindert in keiner Weise die Schuld der Deutschen am Holocaust und der Gräueltaten in den besetzten Gebieten, doch er zeigt auf, dass Tschechen nicht nur Opfer, sondern eben auch Täter waren. Dieses Kapitel der tschechischen Geschichte wartet noch auf seine Aufarbeitung.
Wenn die Schulddebatte geführt wird, dann verläuft sie aggressiv, in großen Teilen der Bevölkerung ist sie unerwünscht, weil sie unbequem und unschön ist. Viele Tschechen wollen nicht wahrhaben, dass hier hunderte Roma durch tschechische Hand umgekommen sind. Besonders in der Gegend um Lety behaupten Einheimische bis heute, dass es sich lediglich um ein “Erholungslager” gehandelt habe und dass die Gefangenen abends in der örtlichen Kneipe gesehen worden seien.
Roma würdigen die Opfer, ohne dass die Öffentlichkeit es bemerkt
Während der kommunistischen Herrschaft geriet die tragische Geschichte von Lety in Vergessenheit. Allerdings nicht bei den Roma, erzählt mir Markus Pape, ein Journalist, der sich intensiv mit der Aufarbeitung Letys beschäftigt. Seit 1945 gedachten Überlebende und Angehörige der Opfer auf dem ehemaligen KZ-Gelände. Auf dem Grund des nahegelegenen Sees liegen bis heute die Überreste zahlreicher ertränkter Kinder. Roma fuhren mit ihren Familien nach Lety, zündeten Kerzen an und übernachteten auf dem ehemaligen Lagergelände. Ohne öffentliche Wahrnehmung brachten sie bereits in den 60er Jahren eine Gedenktafel an der Mauer des Friedhof vom Nachbarort an, auf dem ebenfalls Opfer des Lagers ruhen – in Massengräbern entlang der Mauer.
Die Roma-Community gedenkt seit 1945 der Opfer in Lety – die Öffentlichkeit bekommt nichts mit
Eine Schweinefarm auf einem ehemaligen KZ-Gelände
Auf Anordnung der kommunistischen Regierung begann 1973 der Bau einer staatlichen Schweinefarm auf dem Gelände des ehemaligen „Zigeunerlagers“. 1994 wurde diese allerdings in Windeseile privatisiert. Bis dahin war die tragische Geschichte von Lety beinahe ausschließlich Teil der Erinnerung von Überlebenden des Lagers. Weder Tschechen noch nach dem Krieg aus der Slowakei zugewanderte Roma wussten von dem Lager. Doch in jenem Jahr entdeckte der US-amerikanische Autor Paul Polansky in einem Archiv den dokumentarischen Nachlass der Lagerverwaltung. Die Veröffentlichung dieser Dokumente führte zu einem Skandal, denn der Massen-Schweinemastbetrieb auf dem ehemaligen KZ-Gelände widerspricht der Krakau-Konvention von 1991, wonach die Unterzeichnerstaaten an Orten von Todeslagern aus dem zweiten Weltkrieg ein würdiges Gedenken zu ermöglichen haben. Doch dieser „Stinkplatz“, wie Lety von vielen genannt wird, entbehrt jeder Würde.
Das politische Problem ist folgendes: das Lager in Lety wurde seitens der SS nicht als Konzentrationslager gelistet. Vor diesem Hintergrund erkennt die tschechische Regierung das ehemalige Lager in Lety bis heute offiziell nicht als solches an.
Der tschechische Justizminister, Robert Pelikan, sitzt bei der Gedenkveranstaltung ungezwungen im Gras
Lety ist ein Politikum geworden
Im Zuge dieser Ereignisse fand 1995 der erste offizielle Gedenk-Akt in Lety statt und der damalige Präsident, Vaclav Havel, versprach die Schließung der Schweinefarm. Doch bis heute sind diese Worte lediglich hohle Phrasen geblieben, denen keine Taten gefolgt sind.
Wie Markus Pape berichtet, ist Lety mittlerweile zu einem Politikum geworden. Die Regierung, welche die Schließung der Schweinefarm beschließen würde, hätte keine Chancen mehr, wiedergewählt zu werden. Das negative Bild der Roma in der Mehrheitsgesellschaft führt dazu, dass die Mehrheit nicht gewillt ist, die Verlegung der Schweinemast zu Gunsten eines würdigen Gedenkorts für Roma zu akzeptieren.
Damals hungerten hier 1.300 Menschen – heute werden hier 14.000 Schweine gemästet
Rund zwei Drittel der Tschechen gaben in einer Umfrage von 2011 an, Roma abgeneigt gegenüber zustehen. Und beinahe drei Fünftel des Landes sind der Meinung, dass ethnische Minderheiten nicht die Möglichkeit haben sollten, nach ihren eigenen Traditionen zu leben.
Obwohl am Samstag auch viele Politiker_innen auf der Gedenkveranstaltung sprachen und ihren guten Willen versicherten, ist besonders im Wahljahr 2017 nicht mit einer Schließung der Farm zu rechnen. Zwar sind die Betreiber des Hofs bereit die Farm gegen eine andere zu tauschen, doch der Widerstand in der Bevölkerung gegen den Roma-Gedenkort ist dermaßen groß, dass die Regierungsparteien sich scheuen dies durchzusetzen, da sie um ihre Wiederwahl bangen, erklärt mir der Journalist Pape.
Ein Mädchen hängt zum Gedenken der Opfer in Lety Rosen an den Zaun der Schweinefarm
„Was hier geschieht, beschämt die 10 Millionen Roma in Europa.”
Als Erfolg für die Roma-Community ist es aber allemal zu werten, dass sich zu der Gedenkveranstaltung so viele Vertreter internationaler Organisationen und Politiker_innen, unter ihnen auch der tschechische Justizminister, zusammenfanden und sich für einen Schließung der Farm aussprachen. So etwa der ungarische Sprecher der Roma-Delegation. In seinem Rücken die Baracken der Schweinefarm. Wie so viele anderen der Anwesenden ist auch er aufgewühlt. Mit scharfer Stimme fasst er die Lage mit knappen Worten zusammen:
“Wir Roma werden so lange nicht respektiert, wie die Menschen, die hier gestorben sind und inhaftiert waren, nicht respektiert und gewürdigt werden. Was hier geschieht, beschämt die 10 Millionen Roma in Europa.”