Piazza delle Erbe, elf Uhr morgens. Auf Veronas Marktplatz stehen dicht gedrängt die Gemüsestände, die Bänke mit Haushaltswaren und Kleidern. Durch das Gewühl von Händlern und Kunden, zwischen Brunnen und Renaissancesäulen drängeln Schulklassen und Touristen auf dem Weg zum Haus der Shakespeare-Heldin Julia. Die Cafés an der Piazza sind gut gefüllt, es ist ein warmer Herbsttag, die Leute sitzen unter großen Sonnendächern draußen. Und so geschäftig das Leben auf der Piazza auch sein mag ? man hat hier Zeit.
Es ist die Stunde für den letzten Cappuccino oder das erste Glas Wein. Man trifft sich zwischen den Einkäufen, kommentiert das Wetter und die Neuigkeiten aus der Lokalzeitung. Die heißt L?Arena, wie das berühmteste Bauwerk Veronas, das römische Amphitheater. Heute morgen ähnelt L?Arena einem polizeilichen Bulletin. Hier ein Drogenhändler aus Tunesien festgenommen, dort ein Transsexueller aus Brasilien geschnappt, dazu ein Albaner wegen Tierquälerei verurteilt, ganz zu schweigen von dem betrunkenen Polen, der eine Einheimische totgefahren hat. Das alles in Verona, Italiens erster Adresse gleich hinter dem Gardasee. In Verona, dieser Oper unter freiem Himmel, mit seinen peinlich aufgeräumten Straßen voller Luxusläden, an deren Eingangstüren steht: Weitere Filialen in Paris, Rom und Capri. So satt wirkt Verona, so heiter. Ist das denn nur schöner Schein?
„Nun“, brummt im Caffè Filippini ein straffer, braun gebrannter Sechzigjähriger in sein Glas. „Die Polizei tut jetzt endlich was. Denn der Tosi räumt auf.“ Eigentlich sagt er im Dialekt Venetiens: Der Tosi „hämmert gut.“ Es klingt zufrieden. Und wenn man fragt, was denn der Bürgermeister von Verona zu hämmern hätte, bekommt man zur Antwort: „Die Bettler. Überall lungerten sie herum. Jetzt sind alle weg. Haben Sie hier einen Bettler gesehen? Ja, und dann die Ausländer. Man traute sich ja kaum noch aus dem Haus. Aber Tosi, der schafft jetzt Ordnung.“
Weil er mit eisernem Besen durch seine 200.000-Einwohner-Stadt fegt, ist Flavio Tosi in Italien als „Sheriff von Verona“ bekannt. Tatsächlich erlässt der Politiker von der Lega Nord dauernd Anweisungen wie ein Sheriff: Geldbußen für die Kundschaft am Straßenstrich, Festnahmen für die fliegenden Händler an der Arena und für die Fensterputzer an den Ampeln, Razzias in den Döner-Buden, Räumung von Roma-Lagern. Tosis Maßnahmen richten sich vornehmlich gegen Ausländer. Außer dem „Picknick-Erlass“, der mit 50 Euro Strafe bedroht, wer in der Nähe historisch wichtiger Bauten auf offener Straße ein Brötchen isst. Und dem „Parkbank-Erlass“, nach dem Veronas Parkbänke gegen unbequemere Modelle ausgetauscht wurden. Damit die Obdachlosen nicht mehr darauf schlafen. Das gilt natürlich auch für Italiener.
Straßenhuren, Fensterputzer und Straßenverkäufer aber sind ausschließlich extracomunitari, Nicht-EU-Ausländer. Auch Polen und Rumänen werden nach alter Gewohnheit noch so genannt. In Verona stellen Ausländer zwölf Prozent der Bevölkerung. „Doppelt so viel wie der Landesdurchschnitt“, stellt Flavio Tosi fest und fügt hinzu: „Die Ausländer kamen über uns wie eine Explosion.“
Tosi sitzt auf einem roten Sessel im Bürgermeisterbüro direkt gegenüber der Arena. Er ist allein, ohne Pressesprecher und Referenten. Das ist ungewöhnlich für einen italienischen Politiker, ungewöhnlich wie seine Kleidung. Er trägt eine ausgebeulte Stoffhose und ein himmelblaues Hemd mit kurzen Ärmeln, keine Krawatte. Das entspricht so gar nicht der Grauer-Anzug-Uniform der „Kaste“, wie die Politiker von der Bevölkerung genannt werden. Tosi will auch nicht zur Kaste gehören. Er ist ein Mann der Lega, der von Umberto Bossi geführten, norditalienischen Separatistenbewegung, die mit vier Ministern auch in der Regierung Berlusconi vertreten ist. Die Lega ist seit 20 Jahren auf der politischen Bühne, aber sie versteht sich noch immer als Protestpartei, die sich von der „Kaste“ absetzt.
„Kontrolle des Territoriums“
In Venetien ist die rechtspopulistische Lega Nord die stärkste Partei, ihre ausländerfeindlichen und homophoben Parolen, die Propaganda gegen Süditaliener und den römischen Zentralismus finden breite Zustimmung. Dabei ist der Nordosten eine der reichsten Regionen Italiens. Es herrscht Vollbeschäftigung, die Unternehmer sind auf ausländische Arbeitskräfte angewiesen, die Integration klappt besser als anderswo: Es gibt prozentual mehr nichtitalienische Angestellte und Kleinunternehmer als sonst in Italien. Und die Kriminalitätsrate ist geringer. Trotzdem wählen die Leute Politiker wie Flavio Tosi und sein Aufräumprogramm. In Verona bekam er im vergangenen Jahr über 60 Prozent. Vorher war er Fraktionsführer im Regionalparlament, dann Gesundheitsassessor. Eine Blitzkarriere.
„Meine Mitbürger haben mich gern“, erklärt Tosi seinen Erfolg. „Und ich liebe meine Stadt.“ Deshalb wolle er, dass Verona „nicht nur schön ist, sondern sauber und ordentlich“. Tosis Lieblingsausdruck ist „Kontrolle des Territoriums“. Das klingt eher militärisch als putzbesessen und ist neben dem Bau von neuen Einkaufzentren sein ganzes politisches Programm: „Wenn Ausländer frech und arrogant werden, haben die Italiener das Gefühl, dass ihr Territorium nicht mehr unter Kontrolle ist.“ Da zeigt der schmächtige Tosi bemerkenswerten persönlichen Einsatz. „Wenn es darum geht, die Räumung eines Roma-Lagers vorzunehmen, dann bin ich dabei. Auch morgens um fünf! So unterstützt der Bürgermeister seine Ordnungskräfte.“ Auch bei einer Demonstration gegen das Schwulenfest Gay Pride war der Lega-Nord-Mann dabei. Zu diesem Anlass trug er ein T-Shirt mit der Aufschrift: „Wir Romeo und Julia ? ihr Sodom und Gomorrha“. Dass Tosi zudem bei einem Aufmarsch der rechtsextremen Veneto-Skinheads zu sehen war, hat ihm Kritik der linken Opposition eingebracht. Weiter nichts.
Der Bürgermeister wird unwirsch, wenn man ihn fragt, ob die Rechtsextremen für Verona nicht das größere Sicherheitsrisiko seien als Roma oder afrikanische Straßenverkäufer. Ein Kriminalfall aus Verona erregte in diesem Jahr landesweit Aufsehen ? der brutale Mord von fünf jungen Männern an einem gleichaltrigen Mitbürger. Das Opfer hatte den Tätern auf der Straße eine Zigarette verweigert. Und er war anders gekleidet als sie. Das brachte die fünf jungen Venetier so in Rage, dass sie ihr Opfer erschlugen. Die Mörder kamen aus dem rechtsextremen Hooligan-Umfeld des Fußball-Drittligisten Hellas Verona. Tosi sagt, er könne sich nicht um gewalttätige Neofaschisten kümmern. „Eine Handvoll Verrückter in einer Kurve mit 5000 braven Jungs. Außerdem stammt von den fünf Tätern nur einer aus Verona.“ Und die übrigen? „Aus dem Umland. Für die bin ich nicht zuständig.“
Lieber unternimmt die Lega Nord einen Kreuzzug gegen Moscheen. Bevor Tosi einen muslimischen Gebetsraum in Verona zulässt, will er eine Volksabstimmung abhalten. Sein Parteifreund Mario Borghezio nahm kürzlich am Anti-Islam-Aufmarsch der rechtsextremen Pro-Köln-Bewegung teil. „Sollen sie in der Wüste beten und in der Wüste pinkeln“, sagte ein Lega-Mann in Venetien.
Woher kommt diese Stimmung gegen Ausländer? Sie ist nicht auf Verona beschränkt, wo auf Anweisung der Berlusconi-Regierung in Rom jetzt auch 70 entsandte Soldaten patrouillieren, um die „Sicherheit der Bevölkerung“ zu garantieren. Diese Sicherheit, das suggerieren Regierungspolitiker und Regierungsmedien, sei von Ausländern bedroht. Es scheint, als empfinde Italien seine traditionelle Toleranz als Bumerang: Die gewisse Elastizität im Umgang mit der Obrigkeit und ihren Vorschriften, die für die Einheimischen zum Lebensstil und zur Lebenskultur gehört, darf den Fremden keinesfalls zugestanden werden.
Hetze und Übergriffe gegen Roma
Auf Anordnung von Innenminister Roberto Maroni, ebenfalls Lega Nord, rückte die Polizei in Roma-Lager aus, um Fingerabdrücke von allen Minderjährigen zu nehmen. Maroni will die Familienzusammenführung für Ausländer erschweren, das Asylrecht verschärfen und das geplante Wahlrecht für Einwanderer verhindern. Rund 700000 bereits in Italien arbeitenden Ausländern, die eine Aufenthaltsgenehmigung beantragt haben, wird lediglich Duldung in Aussicht gestellt. „Wir brauchen hier keine Ausländer“, sagt in Verona Flavio Tosi. „Die Arbeit kann auch von Italienern erledigt werden.“
Ausländer werden in Industrie, Landwirtschaft und vor allem in der Altenpflege dringend gebraucht, aber es wird Hatz auf sie gemacht. In Neapel steckten Einheimische in diesem Sommer zwei Roma-Lager in Brand. In Mailand erschoss ein Wirt einen jungen Italiener afrikanischer Abstammung ? weil dieser in seiner Kaffeebar eine Packung Kekse gestohlen hatte. In Castelvolturno bei Caserta töteten Killer der Camorra sechs Afrikaner, die ihnen angeblich bei ihren illegalen Geschäften in die Quere gekommen waren. Papst Benedikt XVI. und die italienischen Bischöfe warnen immer wieder vor dem Erstarken des Rassismus, die auflagenstarke katholische Wochenzeitschrift Familia Cristiana hat sich deshalb sogar wiederholt mit der Regierung angelegt.
Doch in Verona regt sich gegen den Rechtsaußen-„Sheriff“ kein Widerstand. Der Bischof, Monsignor Giuseppe Zenti, wägt jedes Wort ab, bevor er vorsichtig sagt: „Durch den Zustrom von Migranten entstehen eben auch soziale Turbulenzen.“ Italien, bis vor Kurzem noch Auswandererland, könne den massiven Zustrom von Einwanderern nicht verkraften: „Die Menschen fühlen sich verunsichert.“ Und was tut die Kirche dagegen? „Wir übernehmen die Rolle der Erste-Hilfe-Station“, sagt der Bischof. Konkret heißt das: Wenn Tosi ein Roma-Lager räumen lässt, nimmt die Caritas die Vertriebenen auf.
Auch die Unternehmer geben sich diplomatisch. „Die Verse der Politik“, sagt Gianluca Rana, „sind nicht unsere Gedichte.“ Rana, 43, ist der Vorsitzende des Unternehmerverbandes in Verona. Seine Firma ist mit einem uritalienischen Produkt erfolgreich: frische Eiernudeln. Rana exportiert Ravioli und Tortellini in alle Welt, in seinem Werk vor den Toren der Stadt werden sie von Arbeitern aus aller Welt hergestellt. „Die Politik betreibt ihr eigenes Marketing“, glaubt der Industrielle. „Die Unternehmer aber haben viele ausländische Arbeitnehmer und tun alles für deren Integration. Wer sich integriert fühlt, arbeitet besser. So einfach ist das.“ So einfach könnte es sein. Aber noch klingen die gefährlich simplen Parolen des Sheriffs von Verona einfacher ? und verführerisch.
Dieser Text erschien am 1.Oktober 2008 in Die Zeit. Wir bedanken uns für die freundliche Unterstützung.