„Schade, dass wir nicht in den USA sind, da gibt es nämlich noch die Todesstrafe“, flötet am Brandenburger Tor Physiotherapeutin Julia ins Mikrofon. Denn alle Abgeordneten, die am 7. April 2022 für die Impfpflicht stimmen, sollten laut Julia vor Gericht kommen. Die Menschen klatschen. Viele sind es nicht, denn obwohl die Szene in Telegramgruppen bundesweit mobilisiert hatte, kamen nur wenige hundert Menschen nach Berlin, um zum wiederholten Mal gegen die Impfpflicht zu demonstrieren.
Gefolgt sind dem Aufruf nicht „das Volk”, sondern vor allem die „alternativen Medien“. Das führt dazu, dass sich vor allem die „Prominenten” der Szene gegenseitig filmen, wenn sie nicht gerade AfD-Abgeordnete interviewen, die aus dem Bundestag herbeigeeilt sind, um ihren Unterstützer:innen auf der Straße den Rücken zu stärken.
Inhaltlich sind die Reden am Brandenburger Tor die gleiche Mischung aus Verschwörungserzählungen, gefährlichem Halbwissen und NS-Relativierungen, die schon seit zwei Jahren auf den Anti-Maßnahmen-Demonstrationen im ganzen Land rauf und runter erzählt werden. Eine Rednerin, die nach der Physiotherapeutin, die so gern die Todesstrafe für demokratische Politiker:innen einführen würde, auf die Bühne tritt, findet die Impfpflicht sei das schlimmste Verbrechen, was in diesem Land jemals geschehen sei. „Also man darf das ja alles nicht vergleichen“, aber genau sowas hätte es in Deutschland ja schonmal gegeben. Das Publikum klatscht.
Und auch sonst wird zum wiederholten Mal deutlich, dass die Demonstrationsteilnehmenden und ihre Einpeitscher jedes Maß und Ziel verloren haben – wenn sie denn je eins hatten. Maximale Empörung ist Teil des Programms: Alles ist faschistisch, glaubt man den Redner:innen an diesem Donnerstag, die Regierung, Politiker:innen, Medien, Ärzt:innen, die impfen, Polizei. Außer natürlich die tatsächlichen Faschist:innen und die Rechtsextremen in den eigenen Reihen. Die werden mit Handschlag und Umarmung willkommen geheißen. Ohne irgendeine Widerrede oder Distanzierung vonseiten der Demonstrierenden läuft etwa „Volkslehrer” Nikolai Nerling durch die Menge und filmt die Veranstaltung. Und nicht nur das. Immer wieder begrüßen Teilnehmende den verurteilten Holocaustleugner überschwänglich.
Langsam deutet sich auch an, in welche Richtung sich das „Querdenken“-Umfeld in Zukunft orientieren könnte. Denn während Gesellschaft und Politik sich langsam aber sicher mit dem Virus arrangieren zu scheinen und das neueste Politikziel der Ampel-Koalition in der Durchseuchung zu liegen scheint, brauchen die verbliebenen Demonstrant:innen neue Themen. Deswegen geht es auf Bühne, Plakaten und in den Gesprächen auf dem Platz vor dem Brandenburger Tor auch immer wieder um den Krieg in der Ukraine. „In der Ukraine leben ja auch total viele Russen, die finden den Krieg gar nicht so schlecht“, heißt es aus einer Gruppe in praktischen Daunenjacken und mit Outdoor-Schuhen. Auf Plakaten wird die NATO als der eigentliche Kriegsschuldige dargestellt und am Mikrofon wird davor gewarnt, dass Berichte aus der Ukraine manipuliert seien und nur dafür da, nach Corona neuerlich Angst zu verbreiten. Diese Entwicklung überrascht nicht: Die sogenannten „Mahnwachen für den Frieden“, die zu Beginn des Ukraine-Konflikts 2014 in Berlin entstanden, beschreiben viele Szene-Influencer:innen von heute als Politisierungsmoment.
Die „Mahnwachen“ wollten eine „neue Friedensbewegung“ sein, drehten sich aber schon zu Beginn um antisemitische Verschwörungserzählungen plus regressiver Kapitalismuskritik. Die Bewegung war eine Zeitlang erfolgreich und brachte mehrmals zehntausende Menschen auf die Straßen. Viele der Stichwortgeber:innen und Organisator:innen der damaligen Proteste stehen auch heute wieder auf den Bühnen der Anti-Maßnahmen-Demos. Ähnlich sieht es bei den Teilnehmenden aus. Zuerst Ukraine, teilweise kurzer Schwank zu „Pegida”, dann Demosgegen die Corona-Maßnahmen und jetzt wieder der thematische Schwenk zurück zum Krieg. An der antidemokratischen Ideologie der Beteiligten ändert das Themenhopping allerdings nichts.
Das Scheitern der Impfflicht wird in der Szene und auf der Demo gefeiert. Die Enttäuschung über die wenigen Teilnehmenden weicht schnell dem Triumphgefühl, denn die Teilnehmenden sind sich sicher, dass ihr Einsatz auf der Straße die Impfpflicht verhindert hat und nicht etwa das widersprüchliche Corona-Chaos zwischen Ampel-Koalition und CDU/CSU.
Immerhin: Der 7. April hat einmal mehr gezeigt, dass die großen Zeiten der Maßnahmen-Gegner:innen vorbei sind. Die Bewegung hat nicht mehr die Kraft, Zehntausende zu mobilisieren, nicht einmal, wenn es um das größte Bedrohungsszenario überhaupt geht, die drohende Impfpflicht. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die Unterstützer:innen aus den letzten beiden Jahren sich nicht in Luft aufgelöst haben. Denn auch wenn diese Personen aktuell weniger Demos besuchen, sind sie immer noch online und über Telegram & Co ansprechbar. Das Weltbild der Beteiligten ist geschlossen und von außen kaum mehr zu verändern. Der Schulterschluss mit Rechtsextremen und Neonazis gehört zur Normalität. Absehbar ist, dass sich die Querfront-Karawane bald ein anderes Ziel suchen wird, naheliegend ist angesichts der Solidarität mit Putin und Russland eine noch neuere „neue Friedensbewegung“. Dank der antimodernen und antiprogressiven Haltung der Demonstrierenden könnte sich die Szene aber auch verstärkt gegen die Klimabewegung richten. Nur eins scheint sicher: Die wahnhafte Empörung aus dem „Querdenken“-Umfeld wird uns auch ohne die Anti-Maßnahmen-Proteste erhalten bleiben.