Holger H., heute 26, war acht Jahre in der militanten Neonazi-Szene in Deutschland aktiv, zuletzt bei den „Autonomen Nationalisten? in Dortmund. Im Juni 2008 stieg er nach einer Zeit des Nachdenkens und der Ungewissheit aus. Im Interview mit BTN spricht er über die Szene.
Holger, Sie waren seit Ihrem 16. Lebensjahr in der Neonazi-Szene und bis zum Sommer bei den Autonomen Nationalisten in Dortmund aktiv. Wie haben Sie Ihren Ausstieg bekannt gegeben?
Ich bin vor etwa fünf Monaten aus der Szene ausgestiegen und aus Dortmund weggezogen. Öffentlich habe ich meinen Ausstieg aus der Szene bei einer Gerichtsverhandlung bekannt gegeben. Ich war gemeinsam mit anderen Autonomen Nationalisten wegen Landfriedensbruch angeklagt, weil wir am 24.12.2006 in Marl (NRW) eine Antifa-Demo angegriffen hatten, ich wurde schuldig gesprochen und zu einer Geldstrafe verurteilt.
Ich hatte zu diesem Zeitpunkt aber schon längere Zeit nichts mehr mit diesen Leuten zu tun. Schon Monate vorher hatte ich in der Szene Schwierigkeiten und wurde angefeindet, weil ich offen Kritik geübt habe und Interesse an anderen politischen Positionen hatte. So etwas wird nicht geduldet. Ich konnte beispielsweise den Rassismus und die Menschenverachtung, vor allem auch die Verehrung von Adolf Hitler, nicht mehr ertragen. Das hat zu wirklichen Anfeindungen geführt. Kritik an Hitler und dem 3. Reich sowie die Anerkennung der Verbrechen Nazi-Deutschlands sind in der Szene ein absolutes Tabu-Thema. Ich war dann mit einigen anderen Personen, die so dachten wie ich, in der Szene isoliert.
Was ist nach Ihrem öffentlichen Bekenntnis vor Gericht passiert?
Es gab Anfeindungen und Morddrohungen gegen mich, nachts wurde häufig an der Wohnungstür geklingelt, ich wurde aufgefordert, auf die Straße zu kommen und mich meinen Ex-Kameraden zu stellen. Das gipfelte dann darin, dass versucht wurde, meine Wohnung gewaltsam zu stürmen. Mitglieder des so genannten „Nationalen Widerstandes? Dortmund, die sich als „Autonome Nationalisten? bezeichnen und zu denen ich vorher gehört hatte, sind auf meinen Balkon geklettert, versuchten, die geschlossenen Rollläden aufzubrechen und in die Wohnung einzudringen. Ich musste aus der Wohnung flüchten, bin weggerannt und habe dann die Polizei alarmiert. Am nächsten Tag bin ich unter Polizeischutz aus Dortmund-Dorstfeld, dem Stadtteil, in dem viele Neonazis aus den Reihen der „Autonomen Nationalisten? wohnen, weggezogen. Dorstfeld gilt dort tatsächlich als „Nazi-Stadtteil?. Durch den Wegzug konnte ich mich körperlichen Angriffen entziehen. Hätte ich damals die Tür geöffnet oder hätte ich an diesem Abend nicht die Polizei alarmiert, wäre ich mit Sicherheit angegriffen worden.
Was verbirgt sich hinter dem Begriff der „Autonomen Nationalisten??
„Autonome Nationalisten? sind Neonazis, die Lifestyle und Aktionsformen der autonomen Antifa kopieren, um damit Jugendliche anzusprechen, sich auf der Straße gegen die Polizei zur Wehr zu setzen und sich gewalttätige Auseinandersetzungen mit politischen Gegnern zu liefern.
In den Medien wird oft der Fehler gemacht, Autonome Nationalisten als „weltoffenere? oder „tolerantere? Nazis darzustellen. Aber es sind ganz klar Leute, die das 3. Reich glorifizieren, begangene Verbrechen leugnen oder relativieren und ein Regime nach dem Vorbild von Hitler-Deutschland anstreben.
Wie wird man denn „Autonomer Nationalist“? Reicht es, Kleidungsstil von Linken zu kopieren?
Zuerst erfolgt die Definition über die Kleidung, über die Kopie des Stils der autonomen Antifa. Ein alternativer Kleidungsstil, auf Demos wird schwarze Kleidung getragen, Sonnenbrillen, Basecaps, schwarze Kapuzen-Shirts, zum Teil vermummen sich die Demo-Teilnehmer.
Dann ist da die Gewalt, gegen die Polizei und gegen Antifaschisten, gegen alles, was nicht in ihr Weltbild passt, bis hin zu gezielten Aktionen und Anschlägen auf Institutionen oder Übergriffe auf Menschen.
Und was gehört noch zum Selbstbild der der „Autonomen Nationalisten“?
Autonome Nationalisten sehen sich tatsächlich als politische Kämpfer, die gezielt und geplant strafbare Aktionen gegen Sachen und Menschen ausführen; die Menschen, die politisch anders denken oder die nicht in ihr Weltbild passen, mit Gewalt überziehen.
Sie beteiligen sich an Demonstrationen, wann immer möglich in Form eines „Schwarzen Blocks?, wie eine Eins-zu-Eins-Kopie der Schwarzen Blöcke der Autonomen. Diese unterscheiden sich nur durch die Teilnehmerzahlen und den Inhalt ihrer Transparente, nicht aber in ihrer Außenwirkung. Aus diesen „Schwarzen Blöcken? der Autonomen Nationalisten gab es immer wieder Ausschreitungen, Auseinandersetzung, Straßenschlachten mit der Polizei und dem politischen Gegner.
Die Neonazis bei den Autonomen Nationalisten sind sehr Erlebnis orientiert, das heißt, sie sind richtig heiß darauf, dass es zu Ausschreitungen und Auseinandersetzungen kommt. Gewalt ist hier bei der Mehrzahl der Leute ein Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele, aber auch ein wichtiger Teil in der Erlebniswelt. Eine Minderheit ist allerdings überwiegend wegen der Straßenschlachten dabei, die wollen den „Kick?, genau wie Hooligans im Umfeld von Fußballspielen.
Bei den Autonomen und allgemein in der linken Szene gibt es ja eher keine festen Organisationsformen. Wie ist das bei den neonazistischen „Autonomen Nationalisten“?
Nach Außen soll das natürlich so wirken. In der Realität gibt es aber ganz klar Hierarchien, Strukturen und Führungskader. Nach Außen, also zum Beispiel für die Polizei, sollen Aufbau der Szene und Organisation nicht mehr erkennbar sein, um so auch Strafverfolgung und Organisationsverboten zu entgehen.
Es ist also nicht so, dass Entscheidungen gleichberechtigt und gemeinsam in der Gruppe getroffen werden?
Nein, das ist nicht so. Es gibt eine breite Masse von Mitläufern, und es gibt einige wenige Führungskader, die den Ton angeben und die „Masse? dirigieren.
„Führungskader“? Was sind das für Leute?
Im Gegensatz zu führenden Neonazis aus der Vergangenheit wie Michael Kühnen oder Christian Worch sind diese Leute in einer breiteren Öffentlichkeit eher nicht so bekannt, aber in der Szene sind sie schon Führungspersönlichkeiten, wenn auch nicht unbedingt wegen besonderer Gewaltbereitschaft. Das sind die Personen, die das Ganze dirigieren, sich selber aber weitestgehend aus Aktionen heraushalten, damit sie nicht Gefahr laufen, straffällig zu werden.
Sie sind Vordenker. Sie beanspruchen die Führungsrolle, weil sie älter und erfahrener sind, länger in der Szene sind, ganz allgemein die Richtung vorgeben, sich Aktionen ausdenken.
Ich selber hatte immer schon eine eher anti-autoritäre Haltung, bin denen dann auch immer weniger gefolgt. Dieses „Nicht-Unterordnen? ist denen dann natürlich aufgestoßen, ich wurde ausgegrenzt und auch da schon bedroht.
Wie ist es nach Ihrer Flucht aus Dortmund-Dorstfeld, dem von Ihnen so genannten „Neonazi-Stadtteil? weiter gegangen? Wie leben Sie heute?
Nach meinem Ausstieg und dem Wegzug aus Dortmund bin ich meinen Weg mit einem anderen Menschen, der auch aus der Neonazi-Szene ausgestiegen ist, gemeinsam gegangen. Wir wohnen an einem anderen Ort in einer Wohngemeinschaft.
Der Neonazi-Szene ist unser Wohnort bekannt, es gab dazu Veröffentlichungen auf einschlägigen Neonazi-Websiten. Auch hier gab es schon Drohungen. Natürlich wird nicht offen dazu aufgerufen, uns zu überfallen und anzugreifen, aber in der Szene weiß natürlich jeder, was gemeint ist.
Wie geht es weiter?
Seit etwa zwei Monaten habe ich engen Kontakt zu einer antifaschistischen Gruppe. Man kann nicht sagen, dass ich mich der Gruppe angeschlossen habe, aber es gibt einen regen Austausch.
Neben der Teilnahme an antifaschistischen Demos werde ich mich zukünftig im Rahmen dieser Gruppe an Bildungsarbeit beteiligen, Vorträge und Referate halten, um über die Neonazi-Szene und insbesondere über die Autonomen Nationalisten und die mit dieser Szene verbundenen Gefahren zu informieren.
Kann man den Ausstieg eigentlich schaffen, wenn man ganz alleine ist, ohne ein Netzwerk von Freunden, Menschen die einen tragen und mit denen man den Weg gemeinsam gehen kann?
Das ist sehr schwer. Wenn man sich einige Jahre in der Neonazi-Szene bewegt hat, ist man einfach gesellschaftlich isoliert und hat außerhalb der Neonazi-Szene keine Freunde mehr. Die Szene ist einfach die Welt, in der man lebt. Wenn das alles weg ist, ist es schwer.
Gab es Kontakt mit so genannten Aussteigerprogrammen? Was halten Sie davon?
Es gab Kontakt zu einem Programm, aber ich habe mich dagegen entschieden und mich entschlossen, meinen Weg alleine weiter zu gehen, unabhängig von irgendwelchen staatlichen Hilfen.
Es gab ein Gespräch, hier war die Rede von der Möglichkeit zu einem Umzug an einen geheimen Ort, Schutz durch die Polizei und Hilfe bei der Arbeitsplatzsuche, ohne konkret zu werden.
Es wurde aber auch gesagt, dass man eine Vereinbarung zu unterschreiben hätte, um Hilfe von öffentlichen Stellen bekommen zu können. Ich habe das so verstanden, dass ich mich verpflichte, mich z.B. nicht in antifaschistischen Gruppen gegen die Neonazi-Szene zu engagieren. Das wäre nach Aussage der Stelle dann das Ende des „Aussteigerprogramms? für mich gewesen. Auch wurde mir bedeutet, dass es keine Kontakte zu Medien geben dürfe, um zu vermeiden, dass die Neonazi-Szene sich provoziert fühlen könnte. Alles, was Aufmerksamkeit erregt, wäre zu vermeiden.
Das alles wurde nicht klar gesagt, aber mir wurde zu verstehen gegeben: Keine antifaschistischen Kreise, keine Kontakte in die linke Szene, keine Medienauftritte. Das war ganz klar.
Sie kennen die Neonazi-Szene ja sehr gut aus eigenem Erleben. Was würden Sie Menschen raten, die sich gegen Neonazis einsetzen wollen? Was kann man tun?
(Überlegt lange …)
Ich würde nicht nur denjenigen Leuten einen Rat geben, die Neonazismus bekämpfen wollen, sondern allen Menschen. Sie sollten die Freiheit, die sie haben, nicht als selbstverständlich ansehen, diese Freiheit gilt es gegen Personen zu verteidigen, die sie beseitigen wollen.
Das Interview führte Peter Jülich