Belltower.News: Herr Munjunga, 1987 sind Sie als Vertragsarbeiter aus dem „sozialistischen Bruderland“ Angola nach Eberswalde in der DDR gekommen, zusammen mit Amadeu Antonio und 100 anderen Landsleuten. Was haben Sie damals erwartet?
Augusto Jone Munjunga: „Vertragsarbeiter“ klingt, als hätten wir zu Hause erstmal einen Arbeitsvertrag unterschrieben. Aber es gab nicht mal ein Stück Papier, worauf das stand. Wir waren gekommen, um einer Ausbildung nachzugehen – das war die Vereinbarung. Aber davon war in der DDR plötzlich nicht mehr die Rede. Und das war offenbar schon immer der Plan für uns gewesen.
Was passierte, nachdem Sie in der DDR gelandet waren?
Ich wusste zunächst nicht, wo ich überhaupt genau hingehe. Am Flughafen Schönefeld wurden uns die Pässe abgenommen. Als wir in Eberswalde ankamen, war das für mich ein Schock. Amadeu und ich wurden dem Schlacht- und Vorbereitungs-Kombinat zugeteilt. Das war harte, körperliche Arbeit. Die DDR sollte ein Bruderland für uns sein. Aber es wirkte mehr wie ein Verbrecherstaat, der uns ausgebeutet hat.
Mit dem Mauerfall zwei Jahre später entschieden Sie sich, in Eberswalde zu bleiben. Warum eigentlich?
Einige von uns aus Angola wollten hier bleiben. Wir hatten zum Teil schon eine Familie aufgebaut, manche Frauen waren schwanger, wie die Frau von Amadeu Antonio. Wir hatten unsere Community. Unser neues Bruderland. Die Pässe haben wir irgendwann zurückbekommen, nachdem wir die Erlaubnis von der angolanischen Botschaft holen mussten. Aber wohin hätten wir fahren sollen und wie? Auch wenn die Bundesregierung uns 5.000 Mark angeboten hatte, zurück nach Angola zu ziehen. Aber wir wollten nicht zurück. Diejenigen, die das Angebot in Anspruch nahmen, sahen sowieso höchstens nur 3.000 Mark.
Arbeiteten Sie nach der Wende weiter im Fleischkombinat?
Nein, viele von uns mussten unsere Betriebe verlassen. Sie haben uns gesagt, sie müssen sich verkleinern, weil es keine DDR mehr gab. Auch unser Wohnheim mussten wir verlassen. Und dann mussten wir uns im Behördendschungel des Arbeitsamtes zurechtfinden – und bekamen weder Arbeitserlaubnisse noch Aufenthaltsgenehmigungen. Schwarzarbeiten wollten wir nicht. Es war zermürbend: Ich fühlte mich wie eine Zitrone, die immer wieder gepresst wird, bis kein Saft mehr rauskommt.
1990 wurde Ihr Freund Amadeu Antonio von Neonazis ermordet. Wie war die Stimmung in der Schwarzen Community nach der Wende?
Es war furchtbar. Wir hatten in den 1990ern kein gutes Leben hier. Und wir hatten Angst. Sie nannten uns das N-Wort, manche Geschäfte wollten uns nicht bedienen. Die meisten wollten gar keinen Kontakt mit uns haben, auch wenn es natürlich auch gute Menschen in Eberswalde gab. Allein auf die Straße zu gehen, wäre Selbstmord gewesen. Wir konnten nur in Gruppen spazieren oder einkaufen gehen. Geflüchtete, die in den vergangenen Jahren nach Eberswalde gekommen sind, können mir kaum glauben, wie schlimm es damals war.
1994 gründeten Sie „Palanca“, einen Verein für afrikanische Kultur in Eberswalde. Was war Ihre Motivation?
In der DDR durften wir keine Kinder kriegen, nach der Wende wurden dann die ersten Babys in unserer Community geboren. Manche Mütter waren alleinerziehend. Und die Kleinen wollten wir schützen, erst recht nach dem Mord an Amadeu Antonio. Nach dem Mord an Amadeu Antonio wollten wir alle in der Community zusammenbringen, um für eine gute Zukunft der Kinder zu sorgen. Und das heißt: über das Schicksal der Vertragsarbeiter aufklären, zum Thema Rassismus sensibilisieren und Vorurteile in der deutschen Gesellschaft abbauen.
War das auch ein Grund, in Eberswalde zu bleiben?
Definitiv. Wir kamen hier als junge Menschen, heute sind wir alt geworden. Die Geschichte von „Palanca“ ist die Geschichte von meinem, von unserem Leben. Und ich möchte diese Geschichte nicht begraben. Solange ich noch lebe und Kraft habe, will ich weiterkämpfen.
War die Gründung des Vereins damals schwierig?
Also zunächst wussten wir nicht mal, was das Wort „Verein“ heißt. Hilfe hatten wir von der „antirassistischen Initiative“ in Kreuzberg, die uns schon mit der Überführung von Amadeus Leichnam nach Angola unterstützt hatten. Mit ihr sind wir über einen Angolaner aus West-Berlin in Kontakt gekommen. In den ersten Jahren bekamen wir aber kaum Förderung oder Unterstützung: Manche kritisierten, dass wir nur „Discos“ organisieren würden. Aber wir haben einen Ort geschaffen, wo junge Afrikaner*innen sich treffen können, ohne Angst haben zu müssen, dass sie nicht bedient oder gar getötet werden. Das war nicht immer einfach: Im Jahr 2000 verübten Neonazis einen Brandanschlag auf das Vereinshaus. Erst 2011 bekamen wir öffentliche Gelder vom Landkreis Barnim und der Stadt Eberswalde. Und seit Jahren werden wir auch von der Amadeu Antonio Stiftung gefördert. Aber wir brauchen weiterhin finanzielle Mittel, um unsere Arbeit machen zu können.
1998, vor 25 Jahren, wurde die Amadeu Antonio Stiftung gegründet, benannt nach Ihrem Freund und Kollegen, dem ersten anerkannten Todesopfer rechter Gewalt nach der Wende. Was bedeutet die Stiftung für Sie?
Ich finde das wichtig: Denn es gibt eine Stiftung, die nach unserem Freund benannt ist, einer Person, die wir nicht vergessen wollen. Die Amadeu Antonio Stiftung hat seinen Namen und seine Geschichte bundesweit und international bekannt gemacht. Dafür kann ich nur Danke sagen: Danke, dass ihr so viel gegen Rassismus und Rechtsextremismus gemacht habt und immer noch macht! Nach Amadeus Ermordung dachte ich: Das könnte jedem einzelnen von uns in der Community passieren. Aber es hat Amadeu getroffen. Und Deutschland soll wissen, dass sie jemanden ohne Grund getötet haben – nur, weil er Schwarz war. Ich sage hier bewusst nicht nur „Nazis“. Denn die Nazis waren Deutsche. Und die Deutschen müssen diesen hausgemachten Hass wahrnehmen und verstehen.
Gab es Highlights der Zusammenarbeit über die Jahre?
Wir sind sehr dankbar für die Unterstützung bei der jährlichen Gedenkveranstaltung für Amadeu Antonio in Eberswalde am 6. Dezember, die von der Amadeu Antonio Stiftung gefördert wird. Besonders der gemeinsame Kampf, die Eberswalder Straße in Amadeu-Antonio-Straße umzubenennen, bleibt in Erinnerung, auch wenn dieser bislang leider nicht erfolgreich war. Aber die Unterstützung vor Ort hat uns viel bedeutet. Wir geben nicht auf und sammeln weiterhin Unterschriften.
Amadeu Antonios Ermordung liegt knapp 33 Jahre zurück. Was hat sich seitdem im Kampf gegen Rassismus geändert?
Rassismus gibt es immer noch, auch in Eberswalde. Die Situation ist tatsächlich eine andere als in den 1990er Jahren. Heute grölen sie eher selten das N-Wort oder „Ausländer raus“ auf offener Straße. Aber wir begegnen immer noch Nazis, und die AfD macht keinen Hehl aus ihrer Position zu Migration. Vor allem betrifft uns heute institutionalisierter Rassismus – bei Behörden, auf der Wohnungssuche. Neu angekommene Geflüchtete müssen heute auch um ihren Aufenthaltsstatus bangen, und das ist nicht so unähnlich zu uns damals nach der Wende.
Gibt es auch positive Entwicklungen?
Im Jahr 2000 besuchte uns Renate Künast von den Grünen. Das war für mich ein Wendepunkt. Und das hat auch zivilgesellschaftliches Engagement in Eberswalde angekurbelt. Es kamen viele Journalist*innen, die mehr über Amadeu Antonio wissen wollten. Diese Solidarität haben wir in den 1990ern nicht bekommen. Inzwischen gibt es viele Initiativen in Eberswalde, wie Light Me Amadeu oder Barnim für alle. Und dass es auch bundesweite Organisationen wie die Amadeu Antonio Stiftung gibt, die sich gegen Rechtsextremismus einsetzen, ist enorm wichtig.