Am 5. Juli hat die Melde- und Informationsstelle Antiziganismus in Berlin ihre Arbeit aufgenommen. Damit wird in Deutschland endlich Antiziganismus gemonitored und Vorfälle werden gezählt und dokumentiert. Ein wichtiger Schritt, denn Umfragen zeigen immer wieder, wie weit Ablehnung gegenüber Sinti und Roma gesellschaftlich verbreitet ist. Ein Interview mit Dr. Guillermo Ruiz, dem Projektleiter der Melde- und Informationsstelle und Politischem Referenten des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma.
Antiziganistische Straftaten werden seit 2017 in der Statistik zur Politisch Motivierten Kriminalität erfasst. 2020 wurden 128 Delikte gezählt, letztes Jahr 109. Warum braucht es zusätzlich die bundesweite Melde- und Informationsstelle Antiziganismus?
Guillermo Ruiz: Wir wollen dazu beitragen, die Dunkelziffer der antiziganistischen Vorfälle zu erhellen. Nicht alle Vorfälle sind strafrechtlich relevant. Es gibt zwar sehr viele Fälle, die unter das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz fallen, aber es gibt auch einige, die leider weder strafrechtlich noch zivilrechtlich verfolgt werden können. Daher ist es notwendig, dass wir diese Meldestelle einrichten, um die Dimension des Antiziganismus in der Gesellschaft zu zeigen. Das ist das Ziel des Projektes: dass wir Politik und Verwaltung und die Öffentlichkeit im Allgemeinen für das Ausmaß des Phänomens Antiziganismus sensibilisieren – und für die Notwendigkeit, wirksamere Maßnahmen umzusetzen.
Und ich will noch etwas ergänzen, bezüglich der strafrelevanten Fälle, die in der Kriminalstatistik erscheinen: Deren Zahl ist wirklich sehr niedrig. Das liegt an einer Fülle von Faktoren. Zum einen gibt es ein großes Misstrauen unter der Minderheit der Sinti und Roma gegenüber der Polizei, die Vorfälle überhaupt zu melden. Zum anderen gibt es gleichzeitig seitens der Polizei, Richtern und Staatsanwälten immer noch Unwissen, ob eine Straftat antiziganistisch einzustufen ist oder nicht. Es können auch Fälle vorkommen, wo die rassistische Motivation sehr klar ist, aber nicht, dass sie auch antiziganistisch ist. All diese Faktoren tragen dazu bei, dass die Erfassung von Straftaten sehr niedrig bleibt.
Eine Studie im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes hat nachgewiesen, dass keine andere Minderheit in Deutschland so stark abgelehnt wie Sinti und Roma. Gleichzeitig ist aber keine Diskriminierungsform so unsichtbar. Bedingt sich das gegenseitig?
Das Problem ist, dass Antiziganismus als normal betrachtet wird. Das ist eines der Ergebnisse der Unabhängigen Kommission Antiziganismus, die ihren Bericht vor einem Jahr vorgelegt hat. Das zeigt sich in der Berichterstattung der Presse, in Polizeimeldungen, im alltäglichen Leben und trägt dazu bei, dass das Phänomen unsichtbar bleibt.
Wie ist die Meldestelle unter diesen Vorzeichen zustande gekommen?
Es war eine langjährige Forderung des Zentralrats der Sinti und Roma, solch eine Meldestelle zu errichten, um genau diese Dunkelziffer zu erkennen. Dieser ganze politische Prozess, den wir mitinitiiert haben, wurde durch den Kabinettsausschuss zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus seit Jahren begünstigt. Zusammen mit anderen Selbstorganisationen von Sinti und Roma hatten wir uns dafür eingesetzt, dass so eine Meldestelle errichtet wird, und das wurde dann in den Beschluss des Kabinetts aufgenommen. Das war ein sehr wichtige Schritt.
Nachdem dieser Schritt nun geschafft ist: Wie genau wird denn die Arbeit der Meldestelle in den nächsten Monaten aussehen?
Die Arbeit hat tatsächlich schon angefangen. Neben der Bundesgeschäftsstelle in Berlin gibt es bereits vier regionale Meldestellen. In Berlin gibt es die Dokumentationsstelle Antiziganismus (DOSTA) von Amaro Foro schon seit vielen Jahren. Die Meldestelle in Sachsen wird vom Verein Romano Sumnal, in Rheinland-Pfalz vom Landesverband Deutscher Sinti & Roma und in Nordrhein-Westfalen vom Verein PlanB getragen. Sie melden die Vorfälle an uns, wir koordinieren die Arbeit. In den restlichen Bundesländern, in denen es noch keine Meldestelle gibt, agieren wir selbst, indem wir Organisationen von Sinti und Roma, lokale Initiativen und Gruppen, soziale Beratungsstellen und Antidiskriminierungsbüros ansprechen und sie darauf aufmerksam machen, dass es uns gibt und sie bei uns Vorfälle melden können.
Seit März haben wir konkret sehr viele Vorfälle von Diskriminierungen gegen Roma-Geflüchtete aus der Ukraine erfasst, das macht momentan den Hauptanteil der Meldungen aus, die wir bekommen haben. Da gibt es Vorfälle, die auf individuellen, direkten, unmittelbaren oder institutionellen Antiziganismus hinweisen. Gemeldet werden können all diese Fälle über unsere Website, die jetzt letzten Freitag veröffentlicht wurde, telefonisch oder per E-Mail.
Sie haben gerade die Diskriminierungen gegen Roma-Geflüchtete aus der Ukraine angesprochen. Können Sie beschreiben, wie sich der Antiziganismus hier gezeigt hat?
Der Antiziganismus gegen Roma-Geflüchtete hat sich ausgedrückt durch individuelle Diskriminierung, dadurch, dass Haupt- oder Ehrenamtliche sich geweigert haben, Roma-Geflüchteten zu helfen, und dass Roma-Geflüchteten vorgeworfen wurde, dass sie sich schlecht benähmen oder mehr Seife oder Essen nähmen als für Geflüchtete vorgesehen. Wir haben mit den entsprechenden Stellen vor Ort, sowohl in Berlin, in München als auch in Mecklenburg-Vorpommern gesprochen und geprüft, inwieweit die Vorwürfe stimmen. Alle haben sich als antiziganistische Narrative, die um das Thema Geflüchtete entstanden sind, herausgestellt.
Es gibt die bekannten Fälle von der Deutschen Bahn in Mannheim, wo Roma-Geflüchteten der Zugang zu Bahnhofsräumen verwehrt wurde, das Gleiche ist in Berlin passiert. Wir haben Fälle aus Bayern, wo ein Landkreis Roma-Familien nicht angenommen, zurück nach München geschickt und dann der Verwaltung in München geschrieben hat: „Ja, Geflüchtete sind willkommen, aber keine Roma, bitte.“ Es gibt viele weitere Narrative in den Behörden, zum Beispiel, dass Roma keine richtigen Geflüchteten seien, aus Ungarn kämen und hier nur Sozialleistungen kassieren wollten: Von Familien, die sich in zwei, drei Orten angemeldet hätten, um Geld zu kassieren. Auch das sind Vorwürfe, die wir geprüft haben und die einfach haltlos sind. Genau in der Diskriminierung und Ungleichbehandlung von Roma-Geflüchteten zeigen sich die vielfältigen Facetten, die Antiziganismus haben kann.
Was passiert nach der Erfassung und Prüfung der einzelnen Fälle?
Wir verfassen unter anderem Jahresberichte, damit wir dadurch die Politik für das Thema sensibilisieren. Wo es notwendig und möglich ist, schreiten wir auch ein und formulieren zusammen mit den Behörden Lösungsmöglichkeiten. Wir setzen uns zum Beispiel auch für die Rechte der Geflüchteten ein.
MIA will nicht nur das Bewusstsein für Antiziganismus schärfen und die Unterstützung von Betroffenen verbessern, sondern auch auf bestehende Defizite in der Gesetzgebung aufmerksam machen. Um welche Defizite geht es da?
Was Gesetzesänderungen angeht, hat der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma langjährige Forderungen. Zum einen die Erweiterung des Gleichbehandlungsgesetzes auf den staatlichen Bereich, denn: Jemand, der aktuell im Schulsystem diskriminiert wird, hat kein Recht, sich auf das Gleichbehandlungsgesetz zu beziehen. Wenn jemand vom Jobcenter, von der Agentur für Arbeit, vom Sozialamt, von der Schule oder Polizei diskriminiert wird, kann man keine Anzeige wegen Diskriminierung starten. Die einzige Ausnahme ist Berlin, wo es ein eigenes Gleichbehandlungsgesetz gibt.
Zum anderen die Einführung des Verbandsklagerechts in das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, sodass ein Verein, zum Beispiel der Zentralrat, Klage im Namen von Individuen oder im Falle von Diskriminierungen einreichen könnte. Das sind zwei wichtige Forderungen. Was wir auch von der Politik erwarten ist die Bekämpfung von institutionellem Antiziganismus. Behörden, Jobcenter, bei der Polizei und den Jugendämtern findet antiziganistische Diskriminierung tagtäglich statt. Da vermissen wir das Engagement. Politiker*innen und Parteien sollten sich für die Belange von Sinti und Roma überhaupt erst mal interessieren und unsere Forderungen unterstützen.
Und wie kann die Zivilgesellschaft den Einsatz gegen Antiziganismus unterstützen?
Was wir von der Zivilgesellschaft der Mehrheitsgesellschaft, erwarten, ist ein starkes Engagement. Das Thema wird von Teilen der Zivilgesellschaft oft nicht wahrgenommen, nicht ernst genommen und einfach als fremdes Problem angesehen, das sie nicht betrifft. Wir erwarten auch, dass es zu einem starken Engagement seitens der Vereine kommt, die in dem Bereich arbeiten: Der Antiziganismus muss genauso wie der Antisemitismus und der Rassismus bekämpft werden. Meine wichtigste Bitte ist aber, dass alle Menschen, die antiziganistische Vorfälle beobachten oder selbst erfahren, das bei uns melden.