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Interview „Der alltägliche Rassismus ist beunruhigend“

Foto: Vietnamesisches Restaurant, arne-list, via Flickr, cc

Das Interview führte Lisa Doppler

In die ehemalige DDR kamen rund 60.000 vietnamesische „Vertragsarbeiter“, viele von ihnen blieben nach der Wende. In die BRD wanderten zur Zeit des Vietnamkrieges rund 40.000 vietnamesische (Boots-) Flüchtlinge ein, die als Kontingentflüchtlinge aufgenommen wurden. Auch heute kommt noch ein großer Teil der Asylbewerber*innen aus Vietnam. Vietnamesen werden jedoch in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen und ihre Probleme wie alltägliche Rassismuserfahrungen sind kaum bekannt. Tamara Hentschel ist Vorsitzende des Berliner Vereins Reistrommel e.V. Dieser existiert seit 1994 und unterstützt die vietnamesische Community in Berlin.

MUT: Frau Hentschel, auf der Mutliste der Todesopfer rechtsextremer Gewalt seit 1990 führen wir auch einen als „Cha Dong N.“ bekannt geworden Vietnamesen, der 2008 in Berlin-Marzahn von einem Mann getötet wurde, der vorher angekündigt hatte, sich um die „Fidschis“ zu kümmern, wenn die Polizei es nicht täte. Offiziell ist dies keine rechtsextreme Tat. Wie schätzen Sie den Fall ein?

Für mich war die Tat eindeutig rassistisch motiviert. Allerdings bin ich nicht nur von der Tat selbst schockiert, sondern auch von den Reaktionen des Bezirks Marzahn. Die Bezirksbürgermeisterin etwa hat sich nicht an die vietnamesische Community gewendet. Niemand hat nachgefragt. Zudem gab es eine antifaschistische Demonstration einige Tage nach der Tat, auch hier hat niemand den Vietnamesen Bescheid gesagt. Sie wurden von der Antifa instrumentalisiert und nicht in die Planung einbezogen.

Was waren denn die Reaktionen aus der Community?

Wir haben in solchen Fällen immer Probleme, an die Betroffenen ranzukommen. Der Ermordete war „illegal“ in Deutschland. Die Angehörigen suchen daher nicht die Öffentlichkeit und sind auch für Unterstützung nicht offen, denn sie fürchten Probleme mit der Polizei oder Ausländerbehörde zu bekommen. Viele Vietnamesen in Berlin sind Asylbewerber und haben somit Angst vor Abschiebung. In den 90er Jahren waren sie noch in Wohnheimen untergebracht, heute leben sie meist in Privatwohnungen. Das ist natürlich eine Verbesserung, aber dadurch sind sie schwerer zu erreichen.

Gibt es viele Probleme mit Rassismus gegenüber Vietnamesen von Seiten der Polizei?

Ja, auf jeden Fall. Erst vor kurzem wurden zwei Polizisten zu langen Haftstrafen verurteilt. Sie hatten immer wieder Vietnamesen auf offener Straße überfallen, ihnen ihr Geld weggenommen, die SIM-Karten zerstört und sie weit von ihrem Wohnort entfernt ausgesetzt. Die erbeuteten Beträge waren minimal, sodass es nicht um das Geld an sich gegangen sein kann. Die Täter gaben an, die Überfälle nur aus „Langeweile“ begangen zu haben. Aus Langeweile würden sie aber sicherlich keine weißen Deutschen überfallen. Da spielt Rassismus auf jeden Fall mit rein. Das Problem ist, wie bereits gesagt, dass sich die Opfer oft nicht trauen, Hilfe zu suchen. Vietnamesische Zigarettenhändler nehmen zudem Diskriminierungen und Schikane oft hin, da sie sich bewusst sind, etwas „illegales“ getan zu haben. In ihrer Heimat würden sie dafür viel höhere Strafen bekommen.

Wie beurteilen Sie die Diskussion um so genannte No-Go-Areas?

Vietnamesen aus anderen Bezirken meiden Marzahn aufgrund seines Rufs weitläufig. Nachts vermeiden viele Vietnamesen öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Sie gehen auch nicht in deutsche Diskos und Kneipen. Die Konsequenz ist, dass sie sich weitgehend in ihren Einrichtungen rund um die großen vietnamesischen Handelszentren in Berlin aufhalten, da gibt es mittlerweile alles.

Wie gehen die Bezirke mit der Community um?

Das ist ganz unterschiedlich. An einem Gymnasium mit vielen vietnamesischen Schülern haben wir eine Vietnamesin als Mittlerin zwischen den Gruppen eingesetzt. Das Quartiersmanagement Marzahn-West hat das Konzept von uns übernommen und setzt nun Menschen mit vietnamesischem, polnischem und russischem Hintergrund als „Kulturdolmetscher“ im Bezirk ein. Man muss auch bedenken, dass vietnamesische Handelszentren, etwa die in Lichtenberg, auch einen wichtigen wirtschaftlichen Faktor darstellen aus dem es hohe Steuereinnahmen gibt. Auch deshalb versucht der Bezirk ein gutes Verhältnis zu schaffen.

Wie wird die vietnamesische Community in Berlin auf Landesebene wahrgenommen?

Immer wieder gehen wir zu Sitzungen, um auf die Probleme der vietnamesischen Community aufmerksam zu machen. Allerdings wollen viele Politiker davon nichts hören. Sie sagen, dass die Vietnamesen keine Probleme machen würden, die Kinder gut in der Schule wären – sie sehen daher keinen Handlungsbedarf. Dass auch in der vietnamesischen Community die Probleme immer größer werden, möchte keiner sehen. Kinder von neu Zugewanderten etwa sind lange nicht so gut in der Schule. Doch scheinbar müsste das Problem erst so offensichtlich werden, wie bei den Kindern türkischer Migranten bevor jemand reagieren würde. Doch Vietnamesen treten einfach nicht so offen auf und fordern nicht ein, was ihnen fehlt. Probleme werden eher in der Familie oder der Community ausgetragen.

Was sind Konfliktlinien innerhalb der Community?

Es gibt sehr starke Feindschaften zwischen den verschiedenen Gruppen. Zwischen den Nordvietnamesen, die als Vertragsarbeiter in die DDR kamen und den Südvietnamesen, die meist als Flüchtlinge in die BRD kamen. Konflikte, die eigentlich anderer Natur sind werden oft auf politischer Ebene ausgetragen. Städtische Vietnamesen verachten zudem bäuerliche. Außerdem gibt es eine ganz starke Abgrenzung gegenüber anderen Minderheiten wie Roma und Schwarze. Eine „Vermischung“ wird nicht akzeptiert. Jemand, der sich etwa in einen Schwarzen verliebt ist nicht gern gesehen. Auch der Umgang mit Deutschen ist nicht immer gerne gesehen, führt aber nicht zwangsläufig zum Ausschluss aus der Community. Die sozialen Probleme haben in den letzten Jahren zugenommen, auch weil inzwischen ein immer größerer Teil der Community aus Asylbewerbern besteht. Stress und Alkoholprobleme aufgrund der ausweglosen Situation, da kommt viel zusammen. Wenigstens haben viele ehemalige Vertragsarbeiter seit 1997 eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis in der BRD bzw. eine Niederlassungserlaubnis, wie es jetzt heißt. Bis dahin wurden jedoch bereits viele „ausgesiebt“ und abgeschoben.

Sehen sie auch eine Zuspitzung der Lage hinsichtlich der Gewalt gegenüber Vietnamesen?

Es gibt immer wieder Berichte von Überfällen auf Imbisse oder Blumenläden. Ob es da gerade eine Häufung gibt, kann ich nicht beurteilen. Was mich allerdings noch mehr beunruhigt als Übergriffe, die es ja dann auch meist in die Presse schaffen, sind alltägliche Rassismen. Ob bei Ärzten, im Jobcenter, bei der Polizei, überall werden Vietnamesen nicht ernst genommen, besonders wenn sie nicht gut Deutsch sprechen. Wohnungsbaugesellschaften vermieten oft nicht an Vietnamesen, mit der Begründung sie hätten zu viele Kinder oder es würde aus den Wohnungen nach Essen „stinken“. Wie bereits gesagt suchen sich Betroffene nur sehr selten Hilfe in solchen Fällen.

Was sind Ihre Ansatzpunkte, sowohl um die Vietnamesen zu unterstützen, als auch um auf Rassismus aufmerksam zu machen?

Unser aktuell wichtigstes Projekt sind Themenbriefkästen, die wir in den vietnamesischen Großhandelszentren und größeren Asylunterkünften anbringen. Hierüber möchten wir genauere Informationen bekommen um herauszufinden, wo wir aktiv werden müssen. Die Briefkästen sind diskret gestaltet, es steht nicht etwa „Suchtproblem“ darauf, sodass Menschen, die hier Zettel einwerfen, nicht stigmatisiert werden. Unsere alltägliche Arbeit besteht neben Sprachkursen, Rechtshilfe, Jugendarbeit und kulturellen Veranstaltungen in einer antirassistischen Sensibilisierung. Unsere Ausstellung über vietnamesische Vertragsarbeiter in der DDR, die unter anderem durch die Unterstützung der Amadeu Antonio Stiftung realisiert wurde, ist ein großer Erfolg. Sie wurde schon an verschiedenen Orten in Berlin und Ostdeutschland ausgestellt. Es gibt inzwischen auch Anfragen aus Nordrhein-Westfalen. Sie ist eine große Hilfe auch für unsere Arbeit an Schulen. Wir machen Sensibilisierungsworkshops auch bei der Polizei und Polizeischulen und überlegen, ob so etwas auch für Ärzte, etwa über die Ärztekammer möglich wäre. Doch dafür möchten wir erst die Ergebnisse aus den Briefkästen abwarten.

Viel Erfolg weiterhin für ihr Engagement.

Das Interview ist ursprünglich auf dem Portal „Mut gegen rechte Gewalt“ erschienen (2002-2022).

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