MUT: Wie sieht die Situation in Sachsen gerade aus? Was hat die Statistik der Opferberatung ergeben?
Armonies: Es gab 2009 263 Übergriffe, von denen wir erfahren haben. Das heißt, dass es ca. jeden zweiten Tag in Sachsen einen Übergriff gegeben hat. Die meisten davon, 149, sind Körperverletzungen. Über 400 Personen wurden angegriffen. Sachsen führt damit die Statistik in den ostdeutschen Bundesländern an. Seit Beginn unserer Statistik 2003 ist es das führende ostdeutsche Bundesland in Sachen rechtsmotivierter Gewalt. Die Zahlen gingen dieses Jahr ein wenig zurück, was aber keine Entwarnung bedeutet. Die Angriffe werden brutaler und die Hemmschwelle einfach zuzuschlagen, ist viel niedriger geworden. Und mit Marwa El-Sherbini müssen wir nun zwölf Todesopfer rechter Gewalt in Sachsen zählen.
Könnt Ihr damit alle Übergriffe abbilden?
Abbilden können wir längst nicht alles. Nur Angriffe, von denen wir erfahren, können wir auch zählen. Wir erheben nur die „Spitze des Eisbergs“. Es gibt eine hohe Dunkelziffer. Viele haben Angst vor Rache – gerade in ländlichen Regionen, wo sie sich dem Täterkreis nicht entziehen können. Das ist für Viele unheimlich belastend. Viele resignieren auch vor staatlichem Handeln, da sie schon negative Erfahrungen mit Polizei und Justiz gemacht haben. Wenn sie sich die Gesichter der Täter nicht gemerkt haben, glauben viele, dass eine Anzeige oder eine Meldung bei uns sowieso nichts bringt. Oder der Übergriff erscheint zu „harmlos“. Schließlich sei ja kein Blut geflossen. Alltagsrassismus, also zum Beispiel die täglichen Beleidigungen, die Menschen mit Migrationshintergrund erleiden, können wir gar nicht zählen. Außerdem nehmen wir beispielsweise Sachbeschädigungen nur in unsere Statistik auf, wenn sie massiv sind.
Wie kommt Ihr zu diesen Zahlen?
Unsere Beratungsstelle besteht inzwischen seit fast zehn Jahren und ist entsprechend bekannt. Deshalb kommen Betroffene auch zu uns, lassen sich beraten oder melden Angriffe. Vor allem recherchieren wir in Polizeiberichten und der Lokalpresse. Wir wenden uns dann an die Opferschutzbeauftragten der Polizeidirektion und sie leiten einen anonymen Brief von uns an die Betroffenen weiter, den sie natürlich nicht öffnen. So können wir unsere Beratung anbieten und Kontakt aufnehmen. Wir erfahren in vielen Fällen auch durch unsere Kooperationspartner von Angriffen. Das können zivilgesellschaftliche Initiativen, aber auch Einzelpersonen sein. Es sind Menschen, die einerseits in den verschiedenen Regionen Sachsens vor Ort sind und andererseits einfach aufmerksam hinschauen.
Warum habt Ihr Euch entschieden die „Propagandadelikte“, die in der öffentlichen Statistik abgebildet sind, nicht zu erheben?
Die so genannten Propagandadelikte haben wir noch nie erfasst, sondern immer „nur“ die Gewalttaten. Uns fehlen vor allem die Kapazitäten, beispielsweise sachsenweit alle Hakenkreuzschmierereien zu zählen. In unsere Chronik auf der Webseite tragen wir auch Propagandadelikte ein, aber erheben dabei keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Um statistische Aussagen treffen zu können, wäre dies aber notwendig.
Zahlen sind ja ziemlich abstrakt. Was kannst Du zu der Art und Weise, der Qualität, der Übergriffe sagen? Was bedeutet so ein Übergriff für eine betroffene Person?
Die Brutalität der Angriffe nimmt stark zu und die Hemmschwelle zum Zuschlagen liegt sehr niedrig. Im vergangenen Jahr wurden Angriffe zunehmend im direkten Wohnumfeld der Betroffenen verübt. Auch überwiegen Körperverletzungen, die zum Teil schwere Verletzungen verursachten, gemeinschaftlich oder mittels gefährlicher Gegenstände verübt worden.Es werden auch zunehmend Personen angegriffen, die sich beruflich oder ehrenamtlich mit Rechtsextremismus auseinandersetzen. So wurde nach einer Gerichtsverhandlung, ein Mitarbeiter des Kulturbüro Sachsen e.V.mit Schlägen und Tritten verletzt.
Ein Angriff bedeutet ein Höchstmaß an Fremdbestimmung. Betroffene haben Angst, fühlen sich in ihrem Alltag eingeschränkt, häufig leiden sie unter Schlafstörungen. Sie fragen sich, wie sie sich jetzt verhalten sollen. Die Betroffenen von Mügeln waren noch Jahre später bei Stadtfesten stark beunruhigt und riefen bei uns an. Angriffe sind traumatische Erlebnisse. Zumal einige Betroffene auch oft traumatische Erlebnisse in ihrem Herkunftsland hatten und nun eine Re-Traumatisierung erleiden. Eine zusätzliche Belastung ensteht dann bei der Gerichtsverhandlung. Noch Jahre nach der Tat, müssen sich Betroffe an das erinnern, was ihnen zugefügt worden ist. Zeugen können sich nach längerer Zeit nur noch schwer erinnern. Meist gereicht Tätern die Verhandlung auch noch zum Vorteil. Ihre Sympathisanten sitzen im Zuschauerraum und unterstützen die Angeklagten. Die Betroffenen hingegen sind meist ohne Bezugsgruppe.
Wie geht Ihr vor, wenn sich eine betroffene Person bei Euch meldet? Wie könnt Ihr helfen?
Zu allererst hören wir uns von den Betroffenen an, was ihnen passiert ist. Wir sprechen in Ruhe über die Möglichkeiten die Betroffene haben und darüber, wie wir genau unterstützen können. Wir vermitteln zum Beispiel psychologische Betreuung oder rechtliche Unterstützung. Wir begleiten Betroffene zur Polizei, wenn sie eine Anzeige erstatten wollen. Wir machen die Vorteile einer Anzeige deutlich, wenn aber Betroffene keine erstatten wollen, dann akzeptieren wir das. Im Falle einer Anzeige bieten wir unsere Büroanschrift an, um darüber den Schriftverkehr mit der Polizei und der Staatsanwaltschaft laufen zu lassen. So taucht in den Akten nicht die Privatadresse auf, die dann für die Täter einsehbar wäre. Und natürlich begleiten wir zu den Gerichtsverhandlungen, damit Betroffene dort auch moralische Unterstützung erhalten. Über Opferfonds und Spendenaufrufe haben wir die Möglichkeit Geld zu sammeln. Zudem bieten wir auch lebenspraktische Unterstützung. Die Präventions- und Gremienarbeit ist natürlich ebenso wichtig. Grundsätzlich geht es aber um individuelle Betreuung der Betroffenen.
Das Interview führte Nora Winter.
Das Interview ist ursprünglich auf dem Portal „Mut gegen rechte Gewalt“ erschienen (2002-2022).