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Interview „Die ukrainische Revolution hat die extreme Rechte in Russland zutiefst gespalten“

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Beim „Russischen Marsch“ in Moskau 2017: Ein Keltenkreuz, beliebt unter Neonazis, in den Farben der NS-Flagge
Beim „Russischen Marsch“ in Moskau 2017: Ein Keltenkreuz, beliebt unter Neonazis, in den Farben der NS-Flagge (Quelle: picture alliance/AP Photo/Pavel Golovkin)

Belltower.News: Herr Varga, Putin behauptet, mit seinem Angriffskrieg die Ukraine zu „entnazifizieren“. Dabei gibt es genug Neonazis in Russland. Welche Rolle spielt die extreme Rechte im Land?
Mihai Varga: Die rechtsextreme Szene war vor etwa 15 Jahren sehr gewaltbereit und auch fähig, gewalttätige Aktionen durchzuführen. Aber in den späten 2000er Jahren geriet sie unter Druck durch die Behörden, weil sie eine Gefahr für das Regime darstellte. Viele Neonazi-Größen wurden verhaftet oder sind unter ungeklärten Umständen ums Leben gekommen, andere sind in die Ukraine ausgewandert. Das Ergebnis war, dass die Szene eher geschwächt in die 2010er Jahre hineinging. Ein weiterer Schlag waren die Ereignisse von 2013 bis 2014 auf dem Maidan in der Ukraine.

Inwiefern?
Die ukrainische Revolution hat die extreme Rechte in Russland zutiefst gespalten. Ein Teil der Szene hat sich stark mit den ukrainischen Bataillons wie dem „Regiment Asow“ solidarisiert. Ein Teil hat auf Seiten der pro-russischen Separatisten gekämpft. Und weitere Teile wollten nur Kampferfahrung in der Ukraine sammeln.

Welche rechtsextreme Gruppen gibt es in Russland?
Die „Russische Nationale Einheit“ (RNE) war die größte Organisation in den 1990er Jahren, eine paramilitärische neonazistische Organisationen, in deren Logo ein Hakenkreuz zu sehen ist und die vom Neonazi Alexander Barkaschow gegründet wurde. Aber Ende der 1990er, Anfang der 2000er Jahre war die Gruppe tot. Eine Wiederbelebung gab es erst ab 2014 im Laufe des Konflikts in der Ostukraine, wo sie aufseiten der Separatisten gekämpft hat. Doch schnell danach war es mit der Gruppe wieder vorbei. Heute ist die „Russische Nationale Einheit“ lediglich eine Randerscheinung und in Vergessenheit geraten.

Was passierte ab den 2000er Jahren?
Die RNE-Nachfolgeorganisationen und die „Bewegung gegen illegale Immigration“, kurz DPNI, organisierten in den 2000ern die ultranationalistischen „Russischen Märsche“. Hinzu kommen die vielen „Kampfgruppen“, die für die rechtsextreme Terrorwelle der 2000er Jahre verantwortlich waren, wie etwa die „National-Sozialistische Gesellschaft“ (NSO) oder die „Kampfgruppe russischer Nationalisten“ (BORN). In den 2010er Jahren gab es die Gruppen der „politischen Orthodoxie“, die „Eurasier“ und die „National-Bolschewiken“.

Auch die rechtsextreme, monarchistische „Russische Reichsbewegung“ (RIM) kämpfte ab 2014 auf der Krim und in Donbas gegen die Ukraine. Die Gruppe betreibt ein Trainingslager („Partizan“) in Sankt Petersburg und hat auch internationale Neonazis wie etwa von „Nordic Resistance“ ausgebildet. Werden solche Umtriebe von Putin geduldet?
Solange solche Gruppen nicht direkt die russischen Behörden angreifen, solange sie nicht den Staat ins Visier nehmen, wie gegen Ende der 2000er Jahre, werden sie geduldet. Auch in den 2000er Jahren wurden viele Gruppen so lange geduldet, bis sie angefangen haben, Anschläge auf Vertreter des Staates zu verüben, wie etwa den Mord an Richter Eduard Tschuwaschow.

2020 wurde die „Russische Reichsbewegung“ (RIM) von den USA als Terrororganisation eingestuft – als erste „White Supremacist“-Gruppe überhaupt. Seit dem ist es gefühlt viel ruhiger um sie geworden. Hatte die Einstufung Konsequenzen in Russland?
Nein, wenn es um die „Russische Reichsbewegung“ ruhiger geworden ist, dann ist das nicht der Grund. Die russische Regierung hat die Webseite der Organisation als extremistisch eingestuft, weitere Schritte gegen die Organisation hat sie aber nicht unternommen. Ich würde auch nicht sagen, dass es überhaupt ruhiger geworden ist, auch wenn die RIM vielleicht nicht mehr so aktiv ist wie früher. Man sollte auf die Gesamtszene blicken: Wenn eine Organisation untergeht, entstehen neue. Das hat viel mit dem Mobilisierungspotential und der damit verbundenen Dynamik in der Szene zu tun.

Nämlich?
Um das Jahr 2013-2014 war die Problematik der „Befreiung“ ukrainischer Gebiete ein Leitmotiv in der Szene, welches durch den heutigen Krieg in der Ukraine wieder zurückzukehren scheint. Parallel dazu gab es aber auch das Thema des „Widerstands“ gegen Aktionen und Gruppen, die als „Gefahren“ für russische Kultur wahrgenommen wurden – wie etwa das Konzert der Band „Pussy Riot“ 2012 in einer orthodoxen Kirche. Dieses Thema blieb während des ganzen Jahrzehnts weiter mobilisierungsfähig, auch weil sich der Staat wiederholt auf der Seite der Rechten positionierte.

Kämpfen Rechtsextreme der RIM oder der RNE aktuell in der Ukraine wie bereits ab 2014?
Das ist schwer zu überprüfen. Es gab ab Mitte 2014 viel Unmut in der rechtsextremen Szene über die Art und Weise, wie Putin den Krieg geführt hat. Er sei nicht konsequent genug gewesen. Die extreme Rechte in Russland war sehr unzufrieden damit, dass 2014 nicht das passiert, was jetzt passiert: nämlich ein richtiger Einmarsch in die Ukraine. Seitdem hat sich die Szene von Putin stark distanziert, bejubelt aber jetzt seine Invasion. Würde ein Aufruf von den Anführern der Separatisten in der Ostukraine kommen, würden viele bestimmt in den Krieg ziehen. Mehr als Spendenaufrufe oder Angebote für humanitäre Hilfe für Menschen in Donezk und Luhansk habe ich von solchen Gruppen bislang nicht gesehen, aber das kann sich rasch ändern: Die Rekrutierungskanäle sind da und die Entmenschlichung der Gegenseite in Telegram-Gruppen ist im vollen Gange.

Sie sagen, die Neonazi-Szene in Russland war ab den 2010er Jahren eher geschwächt, die RIM und die RNE scheinen keine wichtigen Akteure mehr zu sein. Wer ist an ihre Stelle getreten?
In der Zwischenzeit gab es eine Umorientierung der Szene in Richtung orthodox-fundamentalistischen oder monarchistischen Positionen. Eine besonders mobilisierungsfähige Gruppe heißt „Dvizhenie Sorok Sorokov“ (DSS), zu Deutsch: „Bewegung Vierzig Vierzig“ – in Bezug auf die angebliche Zahl von Kirchen in Moskau. Die DSS ist politisch und gesellschaftlich viel weniger isoliert als frühere Gruppen. Trotz der Identifikation mit der politischen Orthodoxie gibt es bei der DSS personelle Überschneidungen mit der alten extremen Rechten: Personen, die früher in der Neonazi-Szene aktiv waren, sind heute eher in diesen Kreisen unterwegs. Das hat wenig mit Orthodoxie zu tun, vielmehr bietet ihnen dieses Milieu eine Gelegenheit, weiterhin in der Öffentlichkeit zu agieren – ohne Druck von Behörden. Rechtsextreme spielen also nach wie vor eine Rolle auf den Straßen, sie sind aber nicht mehr so gewalttätig wie in den 2000er Jahren.

Wie würden Sie die Ideologie von Gruppen wie DSS beschreiben?
Sie wollen einen Faschismus aufbauen, der nicht antichristlich oder antisemitisch ist, so zumindest die Theorie. Die Bewegung schafft es einigermaßen, „auf den Straßen“ als legitimen Verteidiger der Russisch-Orthodoxen Kirche wahrgenommen zu werden. Mit dem Versprechen, nicht antisemitisch zu sein, ist es viel komplizierter. Positive Bezüge zum Nationalsozialismus oder zu Figuren wie Hitler findet man heute eher selten. Was bleibt, ist ein bestimmtes Narrativ: Dass die Welt von einer verschwörerischen internationalen oder „globalistischen“ Elite regiert wird. Es wird nicht wie etwa im Falle der RIM explizit gesagt, dass diese Elite jüdisch ist, aber das wird schnell klar, wenn sie die Namen hinter dieser vermeintlichen Verschwörung aufzählen: Sie fangen mit den Rothschilds an und enden bei Soros. Diese Verschwörungsideologie ist aber anpassungsfähig. Jetzt wird auch gegen die LGBTQ*-Community mobilisiert, als die neusten Vertreter dieser „globalen Verschwörung“, der sich die Bewegung widersetzen will. Hinzu kommt eine große Sehnsucht für die imperialistische Vergangenheit Russlands.

Wie bedeutsam ist die orthodox-fundamentalistische Bewegung?
Sie verfügen über große Mobilisierungskraft und könnten Zehntausende Sympathisant:innen haben – nicht militante Skinheads, wie in den 2000er Jahren, sondern Menschen aus unterschiedlichsten Milieus. Sie gehen auf die Straße, schüchtern vermeintliche „nicht christliche“ Gegner:innen ein. Ein Beispiel ist der Film „Mathilde“ von 2017 über die Liebesaffäre des letzten Zars Nikolaus II. Gruppen wie die DSS haben zu Protesten aufgerufen, um den Film zu boykottieren. Sie haben den Film als Verschwörung gesehen, um eine Person, die die Russisch-Orthodoxe Kirche heiliggesprochen hatte, wegen einer außerehelichen Liebesaffäre mit der Primaballerina Matilda Kschessinskaja in ein schlechtes Licht zu rücken. Auch nach dem Auftritt von „Pussy Riot“ 2012 organisierten sie große Proteste. Das hat sie – so erklären sie das – sehr beunruhigt, sie haben es als Wendepunkt gesehen.

Haben solche imperialistische Narrative einen Einfluss auf Putin?
Ja, ich würde sagen, sie sind einflussreich in dem Sinne, dass sich Putin bestimmte Motive aus diesen Narrativen aneignet. Seine letzten Reden, wie seine Rede zur Invasion, bedienen ähnliche Motive. Zum Beispiel die Geschichte, dass Lenin Erfinder der Ukraine sei, dass er also quasi den Kommunisten die Schuld für die schlimmen Wenden in der Geschichte seines Landes gibt. Und der ukrainische Präsident Selenskyj, der selbst Jude ist, sei eine Marionette dieser vermeintlichen globalen Verschwörung von westlichen Eliten.

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