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Interview Gojnormativität – Ein neuer Blick auf Antisemitismus

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(Quelle: Foto: Shila Guthmann)

This interview is also available in English.

Mit ihrem Buch Gojnormativität machen Vivien Laumann und Judith Coffey die nichtjüdische Norm benennbar und kritisierbar — um Antisemitismus besser erkennen und bekämpfen zu können. Für Belltower.News sprachen Nikolas Lelle und Janne Grashoff mit den Autorinnen über die Wahrnehmung von Juden:Jüdinnen in Deutschland, die Leerstelle Antisemitismus in Intersektionalitätsdebatten und linke Gedenkpolitik.

Belltower.News: Wie steht es um die Antisemitismusbekämpfung in Deutschland?
Judith Coffey: Angeblich bekommt Antisemitismusbekämpfung in Deutschland sehr viel mehr Aufmerksamkeit als die Bekämpfung anderer Diskriminierungsformen. Das ist nur vordergründig richtig. Auch wenn es so scheint, als gäbe es eine starke Thematisierung und Ächtung von Antisemitismus, de facto bedeutet das nicht, dass es eine wirkliche Reflexion über antisemitische Strukturen gibt oder dass die Betroffenen von Antisemitismus gesehen werden.

Gojnormativität ist ein aktivistisches Buch, ihr engagiert euch selbst in queerfeministischen Kontexten. Wie habt ihr dort die Auseinandersetzung mit Antisemitismus wahrgenommen?
Vivien Laumann: In queerfeministischen Kontexten sehen wir einerseits eine Nichtwahrnehmung von Antisemitismus als aktueller Diskriminierungsform und anderseits eine undifferenzierte, holzschnittartige Thematisierung des Themenkomplexes im Zusammenhang mit Israel und Palästina. Das zeigt sich in Berlin zum Beispiel an den verschiedenen Queer Marches. Auch für die breitere linke Szene lässt sich feststellen, dass Antisemitismus als aktuelle Erscheinung und konkrete Bedrohung oft nicht verhandelt wird, sondern allein in die Vergangenheit verlagert wird.

Judith Coffey: Diese Abwesenheiten zeigen sich zum Beispiel daran, dass Antisemitismus in der Regel fehlt, wenn unerwünschtes Verhalten, also zum Beispiel Sexismus, Rassismus oder Transfeindlichkeit in linken Räumen aufgezählt wird. Oder auch daran, dass man in Stellenausschreibungen nie eine Ermutigung für Juden:Jüdinnen liest, sich zu bewerben, auch wenn andere marginalisierte Personen angesprochen werden. Diese Entnennung macht Betroffene unsichtbar. Wenn selbst politische Verbündete nicht denken, dass Antisemitismus ein Problem ist, hat das den Effekt, dass Betroffene an der eigenen Wahrnehmung zweifeln. Das ist ein gefährlicher Mechanismus.

Ihr nutzt „Goj“, um den vermeintlichen Gegensatz zwischen jüdisch und deutsch aufzulösen. Welche Vorteile bietet der Begriff?
Vivien Laumann: Die Trennung zwischen jüdisch und deutsch finden wir nicht sinnvoll, weil es auch jüdische Deutsche oder deutsche Juden:Jüdinnen gibt und Juden:Jüdinnen durch dieses Gegensatzpaar immer wieder zu Fremden gemacht werden. Der Vorteil des Begriffs Goj ist, dass er erstmal nichts Anderes beschreibt als das Nichtjüdische. Er ermöglicht mehr Differenzierung von Identitätsanteilen: Eine Person kann als jüdisch oder gojisch beschrieben werden und daneben weitere Identitätsaspekte aufweisen.

Judith Coffey: Ein anderer Grund ist, dass es empowernd ist, die jüdische Fremdbezeichnung auf die nichtjüdische Mehrheit anzuwenden. Es verschiebt den Benennungsfokus. Außerdem gibt es eine Parallele zum Romani-Begriff Gadje. Das hat das Potenzial für eine Solidarisierung zwischen Juden:Jüdinnen und Rom:nja und Sinti:zze.

Was ist denn Gojnormativität?
Judith Coffey: Gojnormativität ist die nichtjüdische Norm als gesellschaftliche Struktur. Der Begriff ist analog zu Heteronormativität gebildet. Es geht darum, gesellschaftliche Prozesse des Otherings von Juden:Jüdinnen zu beschreiben. Denn das Nichtjüdische gilt als das Selbstverständliche und Normale, das nicht hinterfragt wird. Das ist ein Mechanismus, der sich für alle Herrschaftsverhältnisse beschreiben lässt. So beschreibt Critical Whiteness eine ähnliche Verhältnisform in Bezug auf Weißsein, das als das Normale unhinterfragt bleibt. Ein solches Konzept braucht es auch in Bezug auf Antisemitismus.

Uns fielen nach der Lektüre schon Situationen auf, in denen wir dachten, ah, ja, das ist gojnormativ. Mit der Bezeichnung wird ein abstraktes theoretisches Konstrukt plötzlich greifbar. Das sensibilisiert auch für die Wahrnehmung von Antisemitismus. Ist der Begriff eine Erfindung von euch?
Vivien Laumann: Ja, der Begriff ist von uns. Wenn die Begriffe für etwas fehlen, fehlt auch die Analyse dazu und die Sprache, um Mechanismen benennbar zu machen. Aber nicht alle gojnormativen Mechanismen sind gleich Antisemitismus. Weihnachten zum Beispiel ist eine sehr gojnormative Zeit. Es ist aber deswegen nicht automatisch antisemitisch, wenn Weihnachten unhinterfragt als kulturelle Norm gesetzt wird.

Den Begriff Gojnormativität habt ihr analog zu Analysebegriffen für andere Herrschaftsverhältnisse gebildet. Gleichzeitig unterscheidet sich Antisemitismus von anderen Diskriminierungsformen. Wie sehen diese Unterschiede aus?
Judith Coffey: Jedes Herrschaftsverhältnis hat spezifische Strukturen und Mechanismen und muss separat betrachtet werden. Aber in den politischen Kontexten, in die wir intervenieren wollen, passiert das in Bezug auf Antisemitismus oft nicht. Wir halten es aber für politisch nicht sinnvoll, Antisemitismus unter Rassismus zu subsumieren.

Warum nicht?
Judith Coffey: In erster Linie, weil dadurch Juden:Jüdinnen unsichtbar gemacht werden. Es gibt natürlich auch Juden:Jüdinnen, die von Rassismus betroffen sind, aber primär denken Menschen bei der Thematisierung von Rassismus nicht an Jüdinnen:Juden. Das ist ein Teil der Unsichtbarmachung, von der wir sprechen. Außerdem gibt es eine Reihe von analytischen Punkten, die Antisemitismus von Rassismus unterscheiden. Nicht alle Formen von Antisemitismus lassen sich begrifflich unter eine Rassismusdefinition fassen. Für uns ist es aber vor allem ein politisches Argument: Wir kommen nicht weiter, wenn wir Antisemitismus und Rassismus vermengen. Wir müssen beide Phänomene jeweils separat, aber auch in ihren Verschränkungen betrachten, denn nur so können wir die Effekte auf Betroffene in den Blick nehmen.

Sprechen wir einmal darüber, wie Juden:Jüdinnen in den Theorien unsichtbar gemacht werden. Sind Juden:Jüdinnen weiß oder sind sie es nicht?
Vivien Laumann: Über diese Frage gibt es Debatten. Oft werden Juden:Jüdinnen einfach als weiß klassifiziert. Das greift zu kurz, weil Weißsein auch meint, zur Mehrheitsgesellschaft zu gehören und unmarkiert zu sein. Das mag in vielen Alltagssituationen auf bestimmte Juden:Jüdinnen zutreffen. Weißsein meint auch, sich als selbstverständlicher Teil einer dominanten Mehrheit zu erleben, und das trifft auf Juden:Jüdinnen meist nicht zu. Juden:Jüdinnen als weiß und damit privilegiert zu beschreiben, funktioniert in den meisten Teilen der Welt einfach nicht, und in Deutschland funktioniert es schon gar nicht.

Wie kann man auf diese Problematik reagieren?
Vivien Laumann: Wir plädieren dafür, das Begriffspaar Goj versus Jude:Jüdin stärker einzubinden, weil wir mit der Gegenüberstellung von Weiß versus People of Color und/oder Schwarz an dieser Stelle nicht weiterkommen. Es gibt Juden:Jüdinnen, die People of Color und/oder Schwarz sind. Aber auch Juden:Jüdinnen, die in dem Sinne weiß, also äußerlich unmarkiert sind, sind in dieser Gesellschaft trotzdem nicht privilegiert. In der Zuschreibung von Weißsein steckt in Bezug auf Juden:Jüdinnen nicht nur Unmarkiertheit und Privilegierung, es sind auch spezifisch antisemitische Bilder damit verknüpft: Juden:Jüdinnen werden als unsichtbare und im Verborgenen agierende Personen imaginiert.

Judith Coffey: Die Frage, ob Juden:Jüdinnen weiß sind, ist eigentlich nicht zu beantworten. Es fehlt an einer Differenzierung. Genau deswegen braucht es andere Begriffe. Wir beide werden im Alltag als weiß wahrgenommen und damit gehen bestimmte Privilegien einher, die benannt werden müssen. Deswegen versuchen wir, beide Aspekte benennbar zu machen: Das Begriffspaar gojisch/jüdisch ermöglicht es zu sagen: „Ich bin weiß und jüdisch — oder eben nicht“.

Ihr schreibt, dass es in Intersektionalitätsdebatten eine Leerstelle in Bezug auf Antisemitismus gibt. Wieso werden Juden:Jüdinnen im deutschen Intersektionalitätsdiskurs derart ausgeklammert?
Vivien Laumann: Zum einen wurde das Konzept der Intersektionalität für eine spezifische Situation in den USA entwickelt, wo es um Race, Class und Gender ging. Das Konzept wurde übernommen, ohne es an den Kontext in Deutschland anzupassen. In den Kategorien des Konzepts ist es schwierig, Antisemitismus unterzubringen, weil Jüdischsein weder ausschließlich oder eindeutig eine Religion ist, noch als Race oder ethnische Zugehörigkeit verstanden werden kann.

Judith Coffey: Die Nichtbenennung von Antisemitismus in Intersektionalitätstheorien ist nicht nur in Deutschland ein Problem. In den USA wird diese Kritik aus jüdischer Perspektive in den letzten Jahren auch lauter. Es stellt sich aber zugleich die Frage, ob diese Diskurse überhaupt im Intersektionalitätskonzept verhandelt werden müssen. Es gibt ja auch die nachvollziehbare Forderung, dass das Konzept, das vor allem von Schwarzen Frauen entwickelt wurde, einen Fokus auf diese Betroffenen behält. Problematisch wird es erst dann, wenn das Intersektionalitätskonzept um eine Reihe von Kategorien erweitert wird und nur Antisemitismus ausgeklammert wird.

Euer Buch spricht Linke aus verschiedenen Spektren an. Ihr bezieht euch aber auch immer wieder auf Critical Whiteness Konzepte, die gerade auch von Teilen der deutschen Linken scharf kritisiert werden. Was denkt ihr, wie eine Fetischisierung der Sprecher:innenpositionen mit eurem Konzept vermieden werden kann? Welchen Stellenwert hat die Perspektive der Betroffenen auf Antisemitismus eurer Ansicht nach?
Vivien Laumann: Es ist wichtig, jüdische Perspektiven auf Antisemitismus stärker einzubeziehen. Zugleich ist aber selbstverständlich auch nicht alles, was Juden:Jüdinnen sagen, automatisch richtig. Die hörbare Kritik an Identitätspolitik aus der Linken verurteilt diese Konzepte unserer Ansicht nach zu pauschal. Auch wir haben Kritik an der Umsetzung bestimmter Ansätze, aber es ist dennoch wichtig, die Spannungsfelder und Dilemmata, in denen wir uns bewegen, auszutarieren. Widersprüchliche Verhältnisse dürfen nicht in eine Richtung aufgelöst werden.

Judith Coffey: Wir versuchen dafür zu werben, mehr Widersprüche auszuhalten. Wir müssen aushalten, dass es sowohl richtig ist, dass die gesellschaftliche Positionierung von Sprecher:innen einen Unterschied macht, als auch, dass Identitätskategorien immer Verallgemeinerungen sind und aus Erfahrungen nicht automatisch eine bestimmte politische Analyse folgt. Eine pauschale Kritik an Identitätspolitik geht von einem vereinfachten und homogenisierten Bild verschiedener Ansätze aus, die unter Identitätspolitik subsumiert werden: von Feminismus über Queerpolitik bis hin zu Rassismuskritik. Das funktioniert analytisch nicht und ist zudem unsolidarisch.

Welche Rolle spielt die deutsche Erinnerungskultur für die Wahrnehmung von Juden:Jüdinnen heute?
Vivien Laumann: Der Themenkomplex Shoah, Nationalsozialismus und Erinnerung ist immer noch das maßgebliche Themenfeld, in dem Juden:Jüdinnen wahrgenommen werden: Juden:Jüdinnen werden entweder als tot oder in der Rolle der Zeitzeug:in verstanden. Lebendiges Judentum hat da wenig Platz.

Welche Rolle spielen denn Juden:Jüdinnen in der deutschen Gedenkpolitik? Ist es nicht gojnormativ, so zu tun, als sei die deutsche Erinnerungskultur von deutschen Gojim allein etabliert worden? In der Geschichte der Aufarbeitung des Nationalsozialismus in Deutschland waren es allzu oft Juden:Jüdinnen, die die Aufarbeitung gerade gegen die gojische deutsche Mehrheitsgesellschaft vorangetrieben haben.
Vivien Laumann: Genau. Diese Tatsache geht verloren, weil der Status quo deutscher Erinnerung als gojisch deutscher Verdienst gilt. Dabei wurde der heutige Stand der Aufarbeitung vor allem von Juden:Jüdinnen gegen Widerstände hart erkämpft.

Judith Coffey: Die Errungenschaften der Erinnerungskultur wurden gewissermaßen einverleibt. Man muss aber sicher auch unterscheiden zwischen einer linken Gedenkpolitik, die mit gojischen und jüdischen Akteur:innen daran beteiligt war, Gedenken zu erkämpfen und den ritualisierten, staatstragenden Formen des Erinnerns.

Was wünscht ihr euch von linker Gedenkpolitik?
Judith Coffey: Wir wünschen uns von den gojischen Akteur:innen in der linken Gedenkpolitik eine Reflexion der eigenen Positionierungen. Gerade bei Gedenkpolitik ist auch eine familienbiografische Verortung notwendig, sowohl in Bezug auf Gefühlserbschaften als auch in Bezug auf materielle Erbschaften und den Umgang damit. Um nochmal auf die Identitätspolitik zurückzukommen: Wir wünschen uns verortete Sprecher:innenposition. Gojische Akteur:innen sollten nicht über die Shoah sprechen, als hätten sie keine affektive Verstrickung im Sinne einer persönlichen Involviertheit. Wir kritisieren eine vermeintlich objektive Sprecher:innenposition und das Abkoppeln von den damit verbundenen Gefühlen. Und natürlich müssen auch die eigenen gojnormativen Gedenkpraktiken reflektiert werden.

Ihr fordert zum Schluss neue Bündnisse, in denen Antisemitismus und andere Herrschaftsverhältnisse gemeinsam bekämpft werden. Habt ihr positive Beispiele für solche Allianzen?
Judith Coffey: Im Kleinen gibt es sicherlich viele positive Beispiele für solche Allianzen. Es gibt schon lange und immer wieder verdienstvolle Versuche, solche Bündnisse aufzubauen. Einige beschreiben wir im Buch.

Vivien Laumann: Das von Überlebenden des antisemitischen Anschlags in Halle (Saale) initiierte Festival of Resilience ist ein positives Beispiel, weil es Betroffene von verschiedenen rechtsterroristischen Anschlägen vernetzt. Die Überlebenden von Halle zum Beispiel mit den Angehörigen der Opfer von Hanau und Mölln zusammenbrachte. In allzu vielen Bündnissen ist es ein Problem, dass Themen gegeneinander ausgespielt oder ausgeklammert werden. Wünschenswert wären auch Bündnisse, in denen konfliktreiche Themen, wie der Israel-Palästina-Konflikt, konstruktiv bearbeitet werden können.

Bei Debatten darüber, wie sich Antisemitismus- und Rassismuskritik zusammendenken lassen, geht es oft um die Position zu Israel und israelbezogenen Antisemitismus. Wie lassen sich Antisemitismus und Rassismus zusammendenken, wenn man Israel nicht ausklammern will und kann?
Vivien Laumann: Die Frage scheint erstmal unlösbar. Aber wieso sollte das eigentlich nicht gehen? Wieso geht es immer um Israel, wenn es um den Antisemitismus hier vor Ort geht? Wieso eskalieren Bündnisse in Berlin, die sich eigentlich mit konkreten Berliner Verhältnissen beschäftigen, an dieser Frage?

Judith Coffey: Es wäre ja gut, wenn man den Nahostkonflikt dann ausklammern könnte, wenn es nicht darum geht. Was aber nicht ausgeklammert werden kann, ist der Antisemitismus, der sich daran aufhängt. An einem bestimmten Punkt würde ich in Bündnissen, in die ich selbst involviert bin, auch eine Grenze ziehen. Wenn es keine Bereitschaft gibt, sich mit Antisemitismus auseinanderzusetzen, will ich kein Teil dieses Bündnisses sein. Denn alles andere führt zu einer Verharmlosung, die ich nicht mehr aushalten möchte. Ich habe das oft genug versucht und möchte mir das nicht mehr zumuten.

Gojnormativität, Verbrecher Verlag, 200 Seiten, 18,00 Euro, ISBN: 9783957325006, hier bestellen.

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