Professor Florian Töpfl ist Kommunikationswissenschaftler und Inhaber des Lehrstuhls für Politische Kommunikation mit Schwerpunkt auf Osteuropa und die postsowjetische Region an der Universität Passau. Dort forscht er unter anderem zur politischen Kommunikation von autoritären Regimen und antidemokratischen Gegenöffentlichkeiten in westlichen Demokratien.
Belltower.News: In der rechtsalternativen Szene in Deutschland herrscht das Narrativ, dass Pressevertreter:innen ihre Themen aus dem Kanzleramt diktiert bekommen. Beim russischen Auslandssender RT entspricht das der Realität. Wie arbeitet dieser Sender?
Florian Töpfl: Man kann die russischen Medien nicht mit deutschen Medien vergleichen. In Russland stehen die reichweitenstärksten Fernsehsender allesamt in sehr engen Kontakt zum Kreml, Berichterstattung findet in enger Abstimmung mit der Präsidialverwaltung statt. In wöchentlichen Meetings werden die Leitlinien der Berichterstattung besprochen. An diesen Meetings nimmt auch Margarita Simonjan teil. Darüber hinaus steht laut Medienberichten ein gelbes Telefon im Büro der RT-Chefredakteurin. Über diese abhörsichere Verbindung erfolgt die Feinabstimmung mit dem Kreml.
Darüber, ob und mit welchen Erklärungen aktuell zerbombte Gebäude in Kiew gezeigt werden, wird also mit Sicherheit im Kreml entschieden. Derartige Leitlinien werden dann über die Chefredaktion an die Journalist:innen weitergegeben. In der alltäglichen Berichterstattung über Themen, die weniger politisch sensibel sind, haben die Journalist:innen, etwa bei RT Deutsch, gewisse Freiräume und können daher flexibel auf lokale Ereignisse reagieren. Wenn es aber um politisch hoch sensible Themen geht, zum Beispiel um den Giftanschlag auf den Ex-KGB-Agenten Skripal in Großbritannien, die Dopingskandale bei Olympia oder jetzt eben den Angriff auf die Ukraine, können Sie davon ausgehen, dass die Leitlinien der Berichterstattung im Kreml festgelegt werden.
Und wenn sich Medien nicht an die Vorgaben halten, werden sie eingeschränkt oder gleich abgeschaltet?
Auf die staatlich gelenkten Medien ist kein Druck notwendig, da die oberste Hierarchie-Ebene vom Kreml besetzt wird. Oppositionelle Medien hat man dagegen vor wenigen Tagen in einem Schreiben unter Androhung von Schließung dazu aufgefordert, die Wörter „Krieg“, „Invasion“ oder „Angriff“ nicht zu benutzen, um das Vorgehen in der Ukraine zu beschreiben. Stattdessen muss der Terminus „Spezialoperationen“ verwendet. Weil sie sich weigerten, hat man viele dieser Medien nun geschlossen, beispielsweise den letzten oppositionellen Fernsehsender TV Dozhd und den letzten landesweiten oppositionellen Radiosender Echo MoskauEs wird also in den nächsten Monaten und Jahren für die russischen Bürger:innen kaum noch möglich sein, an unabhängige Informationen zu kommen.
Wie sind Medien in Russland überhaupt aufgestellt?
Vor dem Krieg haben sich 70 bis 80 Prozent der Russen und Russinnen hauptsächlich aus den nationalen, staatlich gelenkten Fernsehkanälen informiert. Umgekehrt hätte ich geschätzt, dass weniger als 10 Prozent der Menschen regelmäßig die wenigen oppositionellen Medien rezipierten. Das ist deswegen ein Problem, weil in der politischen Berichterstattung der staatlich gelenkten Medien die Geschichte des Landes und die alltäglichen Geschehnisse aus einer vollkommen anderen Perspektive erzählt wurden. Beispielsweise hatte sich die Berichterstattung in den Nachrichtenprogrammen der staatlichen Fernsehsender in den vergangenen Jahrenzunehmend militarisiert. Man zeigte immer öfter Bilder von Militärübungen und von neuer Waffentechnik. Berichtet wurde beispielsweise über Militärmessen, auf den Eltern ihren Kinder Waffen zeigten und die Kleinen diese auch bewundern und in die Hand nehmen durften. Ganz allgemein wurde Russland als von Feinden umgeben gezeigt, der gefährlichste unter ihnen Amerika.
Und diese verzerrten Perspektiven gibt es schon seit langem in den russischen Medien?
Den Menschen wurde dieses Weltbild seit Jahren nahezu täglich vermittelt. Die gesamte nachrichtliche Berichterstattung wurde und wird aus dieser Perspektive erzählt. Man kann sich die russische Propaganda wie ein großes Gemälde vorstellen, das in die Köpfe der Menschen gemalt wird. Wenn der Einmarsch in die Ukraine nun mit dem Ziel einer „Entnazifierung“ des Landes begründet wird, so ist dies nur der letzte Pinselstrich. Es ist eine weitere Szene, die sich perfekt in die Gesamtkomposition des großen Bildes einfügt, das über Jahre hinweg komponiert und ausgestaltet wurde. Nur aus westlicher Sicht klingen diese Argumente absurd. Vielen Russ:innen scheinen sie auf der Hand zu legen. Für sie ergeben die Argumente keinen Sinn, mit denen wir Europäer:innen unsere Waffenlieferungen und Sanktionen rechtfertigen.
Funktionieren diese Erzählungen immer noch oder zerbricht das Narrativ langsam angesicht des Krieges?
Wie viele Menschen dieses Weltbild und seine Glaubenssätze tatsächlich noch im vollen Umfang für sich annehmen, ist aktuell schwer zu beurteilen. Wenn ich Twitter lese und mit Bekannten in Russland spreche, habe ich den Eindruck, dass es weiterhin viele Menschen gibt, die auch diesen Krieg Putins unterstützen, auch unter den Wissenschaftler:innen und auch in den städtischen Zentren. Da dürfen wir uns keine Illusionen machen. Aber ich glaube auch, dass gerade dieser Krieg gegen ein „Brudervolk“ auf europäischen Boden viele Russinnen und Russen in ihrem tiefsten moralischen Empfinden berührt. Und dass deshalb einige, die noch bis vor kurzem Putin mit Nachdruck unterstützt haben, sich nun mit Schrecken von der russischen Führung abwenden. Die Frage ist, ob es genug Menschen sein werden, die mutig genug sind, sich in der Öffentlichkeit gegen den Krieg auszusprechen – auch angesichts der Brutalität, mit der abweichenden Meinungen derzeit unterdrückt und verfolgt werden. Am vergangenen Wochenende wurden Menschen allein deswegen festgenommen, weil sie sich allein mit einem Schild, auf dem „Nein zum Krieg“ stand, auf einen öffentlichen Platz stellten . Diese Menschen wurden verhaftet und eingesperrt, mit ungewissem Ausgang. Es kann sein, dass sie in zwei Wochen wieder auf freiem Fuß sind. Es kann aber auch sein, dass einige von ihnen für Jahre in einem Straflager landen. Vor diesem Hintergrund werden wir die Zahlen der Russ:Innen deuten müssen, die in den kommenden Tagen und Wochen das Wort „Krieg“ in Zusammenhang mit der Ukraine in den Mund nehmen oder sich sogar auf die Straße wagen.
Sie haben unter anderem über autoritäre Regime geforscht, in denen bestimmte Meinungsäußerungen erlaubt bleiben, weil sie Teil einer pseudodemokratischen Fassade sind. Würden Sie die aktuellen Proteste so einordnen?
Nein. Die jüngsten Proteste in Russland stellten ganz klar ein Risiko für die politische Führung dar. Sie wurden und werden deshalb brutal unterdrückt. In der vergleichsweise ruhigen Zeit der 2010er Jahre war die Situation anders. Zu dieser Zeit war Russland eines jener autoritären Regime, die in regelmäßig Abständen so genannte semi-kompetitive – also: halbfreie – Wahlen abhielten. Selbst in der Erzählung der russischen Staatsmedien war Russland in dieser Zeit eine Demokratie. Das heißt, Putin beanspruchte mit Nachdruck für sich, in freien demokratischen Wahlen gewählt und dadurch legitimiert zu sein. Anders als etwa in einer Monarchie oder einer Theokratie, in denen ausdrücklich von Gottes Gnaden geherrscht wird. In den beiden letztgenannten Herrschaftsformen sind die Herrschenden nicht auf die Zustimmung der Bevölkerung angewiesen. Wenn sich ein autoritärer Herrscher wie Putin aber zumindest zum Teil auf die Legitimierung durch Wahlen berufen will, dann braucht er dafür auch glaubwürdige Gegenkandidaten. Und er braucht oppositionelle Medien, die über diese Gegenkandidaten berichten – auch wenn diese Medien nur einen kleinen Prozentsatz der Bevölkerung erreichen. Unter diesen Rahmenbedingungen haben oppositionelle Medien in Russland in den beiden vergangenen Jahrzehnten operiert. In diesem Sinne stellten oppositionelle Medien nicht nur ein Risiko für den Autokraten Putin dar, sie waren gleichzeitig auch Teil der Herrschaftsordnung. Die politische Führung versuchte deshalb gar nicht erst, alle oppositionellen Medien zu schließen und kritische Berichterstattung vollständig zu unterdrücken. Der oppositionelle Radiosender Echo Moskau beispielsweise war sogar mehrheitlich im Besitz des staatlichen Energiekonzerns Gazprom. Das heißt, man hätte theoretisch die Redaktion jederzeit austauschen können – und zwar geräuschlos über den Mechanismus der Eigentumsrechte. Aber man hat es nicht gemacht. Ein anderes Beispiel ist eine Episode aus dem Leben des Oppositionellen Alexeij Nawalny. Als er 2013 für das Bürgermeisteramt von Moskau kandidierte, wurde er zunächst zu einer Gefängniststrafe verurteilt – dann jedoch spontan freigelassen. Man brauchte einen halbwegs aussichtsreichen Gegenkandidaten, damit die Wahlen zumindest halbwegs glaubwürdig wirkten.
Das heißt, in Russland waren freie Medien und Wahlen bisher Mittel zum Zweck des Machterhalts des Regimes?
Dass es oppositionelle Medien gibt, ist für Autokraten immer mit Risiken verbunden. In Krisensituationen können oppositionelle Medien etwa dazu beitragen, dass sich Protestbewegungen rasch organisieren und an Fahrt gewinnen. Andererseits hat die Existenz von oppositionellen Medien für Autokraten auch viele Vorteile. Erstens können, wie bereits erwähnt, ohne oppositionelle Medien halbwegs glaubwürdige Wahlen nicht abgehalten werden. Damit fallen Wahlen als Legitimitätsquelle aus. Zweitens können oppositionelle Medien dazu dienen, der autokratischen Führung Informationen darüber zu vermitteln, wie stark die Opposition ist und wie Schlüsselfiguren der Opposition denken. Die Machthaber bekommen drittens Informationen über Missstände im Land und darüber, welche Teile der Verwaltung möglicherweise schlecht funktionieren. Das ermöglicht wirtschaftlichen Erfolg. Wenn es oppositionelle Medien und andere pseudodemokratischen Institutionen (wie etwa semi-unabhängige Parlamente) nicht gibt, wie beispielsweise in Nordkorea, dann muss der Autokrat auch auf deren Vorzüge verzichten. Die oben genannten Informationen müssen dann etwa von Geheimdiensten gesammelt werden. Der Autokrat kann sich ebenso wenig darauf berufen, dass ihn die Bevölkerung in Wahlen die Macht übertragen hat.
Wir sehen gerade dabei zu, wie sich diese Situation in Russland ändert, oder?
In den vergangenen Tagen wurden die letzten Nischen der kritischen Öffentlichkeit geschlossen. Diese Entwicklung zeichnete sich aber bereits vor der Invasion in die Ukraine ab. Bereits im vergangenen Jahr wurden nahezu alle verbliebenen oppositionellen Medien als so genannte „ausländische Agenten“ deklariert. Eine wichtige Folge davon war, dass diese Medien von Werbeeinnahmen abgeschnitten wurden. Sie standen deshalb ohnehin schon stark unter Druck. Zudem wurden sie verpflichtet, vor jedem Artikel einen Warnhinweis einzublenden, der das Publikum darauf hinwies, dass dieser Artikel von einem „ausländischen Agenten“ verfasst wurde. Vor einigen Wochen wurden dann nahezu alle oppositionellen Medien darüber hinaus dazu aufgefordert, alle investigativen Reportagen, die ein Team um den führenden Oppositionellen Nawalny in den vergangenen Jahren recherchiert hatte, von ihren Webseiten und aus ihren Archiven zu löschen. In diesen Enthüllungsberichten wurde eine Vielzahl von Fällen von Korruption unter hochrangigen Amtsträgern aufgedeckt und umfassend dokumentiert. Ein Beispiel war etwa der Dokumentarfilm über Putins so genannten „geheimen Palast“, der auf YouTube über 120 Millionen Mal gesehen wurde. Nach diesem Krieg wird das Land eine andere Herrschaftsstruktur haben, ein fundamental anderes politisches System. Es wird keine Wahlen und keine oppositionellen Medien mehr geben. Nach dem Krieg wird Russland ein anderes Land sein.
In der EU wurde RT jetzt verboten, die Kanäle in den sozialen Medien gelöscht. Was heißt das für den Sender und seine Mission?
Es wird auf jeden Fall einen massiven Verlust an Publikum und Rezipienten bedeuten. YouTube beispielsweise war einer der wichtigsten Verbreitungswege des Senders war. Andrerseits gibt es schon derzeit einige Webseiten und Blogs, die enge Verbindungen zum Kreml haben und die eine ähnliche Art der Desinformation, mit einer ähnlichen Zielsetzung verbreiten, wie es RT bisher getan hat, etwa „News Front“ oder „Global Research“. Ich könnte mir vorstellen, dass derartige Webseiten gestärkt werden, deren Verbindungen zum Kreml weniger transparent sind. Laut Medienberichten haben einige Journalist:innen von RT Deutsch und Ruptly bereits gekündigt, auch aus Protest gegen die Krieg. Und es sind nicht nur die russischen Auslandssender, die gesperrt werden. Seit einigen Tagen sind auch die russischen staatlich gelenkten Inlandsmedien aus Deutschland nicht mehr zu erreichen, , zumindest über YouTube und Facebook. Es gibt viele Deutsche mit russischem Migrationshintergrund. Man schneidet diese Menschen jetzt zumindest auf YouTube von den Inlandsmedien ihres Ursprungslandes ab.
RT ist in Deutschland vor allem in rechtsalternativen Kreisen beliebt, Redfish Media richtet sich dagegen an eine linke Öffentlichkeit. Das Ziel ist das gleiche, wie Sie schon gesagt haben: Destabilisierung. Wieso sind diese Medien so erfolgreich?
Linke Gruppen werden von den Auslandsmedien vor allem im globalen Süden bespielt. Es geht eigentlich immer darum, die politischen Ränder zu stärken und eben zu destabilisieren. Das haben wir schon bei den US-Wahlen beobachtet. Es ist belegt, dass russische Akteure Facebook-Anzeigen geschaltet haben, die ausschließlich polarisieren sollten, für Kandidat:innen beider Parteien. Im Bundestagswahlkampf wurde auf RT Deutsch vor allem über die Linke und die AfD positiv berichtet. CDU und Grüne schnitten dabei am schlechtesten ab. Weniger stark wurde tatsächlich die SPD kritisiert. Womöglich hat sie das Gerhard Schröder zu verdanken.
Wir sprechen die ganze Zeit über große Medien, aber funktioniert diese Desinformation auch im kleinen? Beispiel Alina Lipp, angeblich 28, nennt sich „Friedensreporterin“, sie hat einen russischen Vater und eine deutsche Mutter. Eigenen Angaben nach ist sie vor einigen Jahren in den Donbas gezogen. Jetzt betreibt sie einen Telegramkanal mit 52.000 Subscriber:innen. Es gibt eine Website, die professionell erscheint, allerdings ohne Werbung auskommt. Rezipiert wird sie offenbar vor allem im rechtsalternativen bis rechtsextremen Spektrum. Inhaltlich ausschließlich prorussisch und gegen die Ukraine gerichtet. Gibt es das häufiger?
Ja. Viele Experten und Influencer, die pro-russische oder extreme politische Positionen vertreten, werden von russischer Seite unterstützt. Derartige Verbindungen sind allerdings vollkommen intransparent und oft kaum zu belegen. Sie müssen im konkreten Einzelfall recherchiert werden. Wenn überhaupt Geld fließt, kommt es zudem meist nicht direkt aus der Staatskasse, sondern von Privatpersonen oder Unternehmen, die dem Regime nahestehen.
Was kann man der konstanten Desinformation aus den russischen Staatsmedien entgegensetzen?
Die Reichweite von RT und den russischen Inlandsmedien in Deutschland einzuschränken ist nur ein mögliches Mittel, dieses Ziel zu verfolgen. Gleichzeitig sollte man aber den russisch sprechenden Deutschen eine Alternative anbieten, beispielsweise öffentlich-rechtliche Nachrichten in russischer Sprache.In Estland gibt es beispielsweise einen eigenen russischsprachigen öffentlich-rechtlichen Fernsehsender, der die russischsprachige Minderheit ansprechen soll. Über einen solchen Sender könnten auch in Deutschland russischsprachige Menschen ausgewogen und seriös über deutsche und internationale Politik informieret werden. Damit hätten sie eine Alternative zu den russischen Inlandsmedien, die in Deutschland über Internet oder Satellit empfangen werden können.
Wie groß ist die Gefahr, die von dieser Desinformations-Maschinerie ausgeht?
Die Desinformation ist ärgerlich und gefährlich, wenn etwa RT Deutsch Zweifel an den Impfungen sät, während in Russland Putin selbst zur Impfung aufruft. Das strategische Ziel ist offensichtlich die Destabilisierung des Westens. Wer diese Art von Bericherstattung finanziert und verantwortet, macht sich keine Freunde im Ausland. Im Gegenteil.