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Renate Künast über Hate Speech „Kinder schützen, damit sie sich nicht radikalisieren“

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Renate Künast ist Bundestagsabgeordnete und ehemalige Bundesvorsitzende der Grünen. (Quelle: picture alliance/Eventpress)

Belltower.News: Wie ist es aktuell für Sie als politisch aktive Frau in Sozialen Netzwerken?
Renate Künast: Es ist gruselig. Aber zugleich sehe ich wie Unterstützung entsteht für die, die von Hassrede betroffen sind. Es gibt viele, die sich wehren und die Situation nicht mehr hinnehmen, #ichbinhier oder das No Hate Speech Movement oder die Arbeit der Amadeu Antonio Stiftung. Ich finde das sehr wichtig: Die roten Linien zeigen – und wann sie überschritten werden. Ich wehre mich inzwischen auch mit Strafanzeigen und Zivilrechtsklagen gegen Verleumdungen und Falschinformationen in Sozialen Netzwerken. Aber  ich weiß: Ich als Person bin nicht gemeint. Ich werde angegriffen als Vertreterin einer demokratischen Politik.

Sehen Sie Unterschiede zu Angriffen, die männliche Kollegen erleben?
Natürlich, bei uns Frauen ist das Spektrum der Angriffe breiter, schärfer und persönlicher. Viele der Hasskommentatoren scheinen bei einem Frauenbild stehen geblieben zu sein, das Frauen gern still, bescheiden und demütig in der Küche stehen lässt. Da ist jede Frau, die sich engagiert, vielleicht sogar im Bundestag sitzt, an sich eine Provokation. Wenn eine Frau dann trotz Angriffen nicht den Mund hält, sich wehrt. Das reizt solche Menschen besonders. Ich werde aber nicht klein beigeben. Auf unterstem Niveau ist es natürlich – und das wird in rechtsextremen Strategiepapieren auch propagiert – , wenn Frauen Vergewaltigungsfantasien ertragen müssen. Nach der Silvesternacht in Köln 2015/2016 etwa, wenn sich da Frauen gegen rassistische Zuschreibungen und für Menschenrechte ausgesprochen haben – ich habe das gemacht – da waren „Wünsche“ wie „Dich hätte es auch treffen müssen“ quasi „Standard“. Männern passiert das nicht.

Sie vereinen ja verschieden Angriffsflächen für die rechte Szene. Können Sie sagen, was Ihnen am meisten vorgeworfen wird? Das politische Engagement, das Geschlecht, oder etwas Anderes?
Am meisten führt es zu Hassrede, wenn wir uns für Geflüchtete einsetzen. Es erreichen uns so viele Kommentare ohne jede Empathie für die Situation von geflüchteten Menschen, die uns hasserfüllt vor die Füße werfen, wie sehr sie die von ihnen behauptete „Bevorzugung“ von Geflüchteten hassen. An uns geht dann der Vorwurf, wir würden Straftäter*innen ins Land holen, bei jedem Gewaltvorfall, bei dem die Hater einen Migrationshintergrund auch nur vermuten, heißt es: „Ihr wollt das ja, ihr habt die ja ins Land geholt.“ Das passiert inzwischen nicht mehr per Brief oder Email, sondern vor allem auf Facebook und Twitter. Ich habe letzte Woche einen Tweet zu Brunei abgesetzt, wo ein Gesetz erlassen wurde, homosexuelle Muslime zu steinigen. Ich habe mich für Menschenwürde und Menschenrechte ausgesprochen. Dann geht die Twitter-Bubble an: „Warum schreiben Sie das erst jetzt, das wissen wir doch schon seit 4 Tagen!“. Hätte ich es vor 4 Tagen getwittert, hätte es geheißen: „Wie können Sie das nur so schnell kommentieren!“ Dann kommen die Rechtspopulisten und Rassisten, die die Wirklichkeit verdrehen, wie es ihnen passt, ohne noch auf Logik oder ähnliches zu achten: „Ihr holt die noch ins Land, damit die hier die Scharia einführen“ – aber kein Gefühl dafür, dass wir Menschen Asyl gewähren, die vor solchen Gesetzen Schutz suchen! Manchmal kann ich das kaum noch lesen. Ich frage mich: Wo führt das hin? Die Leute führen sich im Internet auf, als hätten sie gar keine Kinderstube genossen. Würden sie sich so in der Kneipe benehmen, würde man sie vor die Tür setzen. Auf dem Marktplatz würden sie keinen Stand mehr bekommen.  Aber im Internet geht es einfach weiter.

Welche Strategien gegen Hasstweets gibt es bei Ihnen im Büro?
Wir versuchen, dem Hass nicht zu viel Platz und Zeit zu geben. Wir schauen in den Shitstorm voller Toxic Speech hinein, um zu wissen, was passiert. Aber wir müssen uns nicht alles Beiträge persönlich ansehen. Bei den Grünen haben wir ein „Rapid Alert System“ organisiert: Eine Gruppe von über 1.000 Parteimitgliedern, die als Eingreiftruppe zur Verfügung stehen, wenn sich online Hass zusammenbraut. Sie argumentieren, stellen Desinformationen richtig und können auch strafrechtlich Relevantes sichten und sichern. Ich wehre mich nämlich inzwischen auch rigoros mit Anzeigen und zivilrechtlichen Klagen, um zu sagen: Jetzt ist Schluss. Und ich rede öffentlich über das, was ich sehen und ertragen muss. Es ist wichtig, dies zu zeigen und darüber zu reden, auch mit „Pegida“ und der „AfD“: Was sagen Sie dazu? Ist das der Umgangston, den Sie sich wünschen in Deutschland? Wer sich nicht distanziert, muss sich vorwerfen lassen, genauso einen Umgangston pflegen zu wollen.

Haben, nach Ihrer Wahrnehmung, Hassinhalte durch das Aufkommen der AfD zugenommen?
In der AfD hat sich gesammelt, was vorher keinen organisierten Platz hatte. Die NPD war geächtet, aber Professor Lucke wirkte akzeptabel, wenn er im dunklen Anzug professoral kritisch über die EU und den Euro sprach. Inzwischen haben aber die radikalen Kräfte die Partei schlicht übernommen. In den Sozialen Netzwerken kann man sehen, wie inzwischen Vernetzungen funktionieren und wie die Anhänger*innen drauf sind. Krass ist, wie stark die AfD die Plattform, die das Internet bietet, für ihre Ideologie nutzt: In Ausschüssen wollen die AfD-Funktionäre ganz nett mit allen sein und beschweren sich, wenn man sie ignoriert. Aber wenn sie im Bundestag am Redepult stehen und ein Video für YouTube drehen können, dann drehen sie schon im ersten Satz auf, beleidigen, nutzen NS-Sprache, damit das Video möglichst wirkungsmächtig und reichweitenstark werde.

Als ich vor einer AfD-Demonstration im letzten Jahr ein Video ins Netz gestellt habe, das zur Gegendemonstration und zur Verteidigung demokratischer Werte aufrief, hat sich über all unsere Kanäle ein Hass ergossen, der für mich wirklich ohne Gleichen war. Zum Glück waren wir mit unserem „Rapid Alert System“ viele, die Gegenrede betreiben konnten, Gegendarstellungen zu gelogenen Sharepics etwa. Da muss man ja schnell reagieren, damit es etwas bringt!

Wie gehen Sie mit Desinformationen um, die über Sie verbreitet werden?
Es ist offensichtlich, dass es bei den Desinformationen, die aus der rechtspopulistischen Ecke ins Netz gestellt werden, nicht mehr um politische Auseinandersetzungen geht, sondern es geht ums Zerstören, und zwar ums Zerstören des ganzen politischen Systems in Deutschland, ums Zerstören der Demokratie. Da hilft kein argumentieren. Wir müssen wir uns wehren, uns gegenseitig unterstützen und Unterstützung organisieren – und natürlich solche Inhalte fleißig nach dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz melden und laut sagen was passiert. An allen Orten, im Job und in den Schulen. . Ansonsten versuche ich immer, mir davon nicht zu viel Zeit und gute Laune stehlen zu lassen.

Gibt es für Opfer digitale Gewalt genug Möglichkeiten, sich zu wehren?
Das Strafrecht ist in diesem Bereich sehr eng gefasst. Es schützt die Meinungsfreiheit, und viele der Hass-Verbreitenden kennen sich sehr genau aus mit den Grenzen des straffrei Sagbaren. Sie umschreiben und deuten an, bis strafrechtlich nichts Angreifbares mehr bleibt. Der Bundesgerichtshof konnte vor zehn Jahren noch gar nicht daran denken, dass das Netz einmal so genutzt wird. Ich denke mal einen Präzedenzfall derf bis zum BGH geht. Also Staatsanwälte, die sich des Themas annehmen wollen. Das Zivilrecht greift etwa bei Ehrverletzungen viel eher, aber das kostet Geld und ist deshalb für die Opfer schwierig. Ich begrüße deshalb die Initiative „Hate Aid“, die Gelder für diese Prozesse zur Verfügung stellen will. Ich mache selbst Fälle mit ihnen zusammen in der Hoffnung, dass dadurch Geld in die Kassen kommt, mit dem andere unterstützt werden können.

Außerdem muss der Schulbereich dringend mehr Kapazitäten für das Thema haben. Kinder und Jugendliche sind in Sozialen Netzwerken stundenlang aktiv und werden dort sozialisiert und geprägt. Deshalb müssen wir Kindern und Jugendlichen beibringen, dass dieser hasserfüllte und abwertende Umgangston nicht normal ist. Wir müssen die Kinder schützen, damit sie sich nicht verbal und emotional radikalisieren, bis sie denken, sich zu beleidigen, zu beschimpfen und abzuwerten sei normal – und selbst zu solchen Angreifenden werden. In Stadtvierteln sprach die Kriminologie von der „Broken Windows“-Theorie: Wenn ein Fenster eingeschlagen wird, muss es repariert werden, sonst ist es der Anfang für den Verfall des ganzen Viertels. Der Kriminologe Thomas Rüdiger spricht in Analogie dazu vom „Broken Web“. Hier müssen wir auch menschenrechtliche Standards durchsetzen. Deshalb ärgert mich, dass der ganze Gaming-Bereich aus dem NetzDG gestrichen worden ist. Dabei sind da so viele Jugendliche unterwegs und lernen radikalisiertes Sprechen und Verhalten. Davor müssen wir sie schützen – auch mit Verpflichtungen der Dienstanbieter.

Zu guter Letzt: Wenn Sie in Bezug auf Hassrede im Internet einen Wunsch frei hätten – was würden Sie sich wünschen?
Da wünsche ich mir nichts für mich, sondern einen bundesweiten Aktionsplan Medienschutz und Medienkompetenz für Kinder und Jugendliche. Wir müssen Kinder in diesem Raum schützen, damit sie nicht von hasserfüllten anderen Menschen angegriffen werden, aber auch davor, dass sie sich nicht selbst zu hasserfüllten Menschen radikalisieren.

 

Renate Künast (*1955, Recklinghausen) ist Sozialarbeiterin und Rechtsanwältin und sitzt für „Die Grünen“ im Bundestag. Von Juni 2000 bis März 2001 war sie Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, von Januar 2001 bis zum 4. Oktober 2005 Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft. Vom 18. Oktober 2005 bis zum 8. Oktober 2013 war sie Fraktionsvorsitzende der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/ Die Grünen. Renate Künast war Spitzenkandidatin der Berliner Grünen für die Bundestagswahl 2013 und von 2014 – 2017 Vorsitzende des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz im 18. Deutschen Bundestag. Seit dem 24. September 2017 ist sie Mitglied des gewählten 19. Bundestages. 2017 veröffentlichte sie das Buch: „Hass ist keine Meinung. Was die Wut in unserem Land anrichtet.“ (Heyne Verlag, München)

Die Tagung

Die Tagung „ZGO 2019 – Under Pressure“ findet am 12.04.2019 in Berlin statt und ist bereits ausgebucht – doch Sie können alles, was dort passiert, live auf Alex TV  im Internet verfolgen.

Auf dem Abschlusspodium um 18 Uhr diskutieren zu „15 Monate NetzDG – Eine Bestandsaufnahme“ Renate Künast (MdB, Bd. ’90/DIE GRÜNEN), Lutz Mache (Google), Helga Springeneer (Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz), Marie-Teresa Weber (Facebook/OCCI) sowie Anja Reuss (Zentralrat der Sinti und Roma). Moderiert wird das Podium von Simone Rafael (Belltower.News).

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