In einer neu erschienenen Broschüre informiert die Amadeu Antonio Stiftung über die gängigen Narrative kremlnaher Propaganda und ihr demokratiegefährdendes Potenzial. Wir wollten von Autor Andrej Steinberg wissen, wie russische Desinformation in Deutschland verbreitet wird und welche Bedeutung sie für Querfront-Mobilisierung hat.
Andrej, du bist Co-Autor einer neuen Broschüre zu russischer Desinformation. Gerade haben tausende Menschen mit Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer eine prorussische Demonstration am Brandenburger Tor abgehalten – ist das auch ein Zeichen dafür, wie wichtig das Thema gerade jetzt ist?
Ja, auf jeden Fall. Ein Jahr ist seit Kriegsbeginn vergangen und wir sehen, dass die Narrative, die zu Kriegsbeginn in Anschlag gebracht wurden, um die russische Invasion zu rechtfertigen, auch immer noch Mobilisierungspotential in Deutschland entfalten. Dass also Menschen vom rechten Rand, aber auch Menschen aus der sogenannten Friedensbewegung, die russische Kriegsschuld leugnen und damit agitieren.
Du sprichst von Narrativen des Infokrieges. Sind die erst mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine entstanden oder gibt es sie schon länger?
Vor allem, wenn wir auf den russischen Kontext blicken, muss ich sagen, es gibt sie schon länger. Das Narrativ, in der ukrainischen Regierung wimmle es vor Nazis, verbreiten die russischen Inlandsmedien schon seit 2014, als Russland die Krim annektierte. Sahra Wagenknecht hat diese Erzählung auf der Kundgebung am 25. Februar in Berlin wieder bedient. Auch das Narrativ, dass der Westen eigentlich an allem Schuld trage, ist schon mindestens genauso lange präsent. Man denke an Ken Jebsen und die Friedensmahnwachen von 2014: Damals hieß es, dass die USA und die NATO Russland provoziert hätten und dass Putin sich nur gegen westliche Aggressionen verteidigen würde – dieselbe Erzählung sehen wir auch heute. Es wird behauptet, dass es vor allem die USA und Großbritannien seien, die sich gegen eine friedliche Lösung des Konflikts einsetzen würden.
Was sind denn zentrale Narrative in dieser russischen Desinformationskampagne?
Das wären unter anderem: Russland verteidigt sich in der Ukraine gegen den „kollektiven Westen“ oder gegen die NATO. Man wolle die Ukraine zu einem Brückenkopf machen für einen bevorstehenden Angriff auf Russland – das hat Putin auch neulich in seiner Rede vom 21. Februar wiederholt. Demnach sei gar die Stationierung von Atomwaffen in der Ukraine geplant gewesen. Und natürlich: Die Regierung in der Ukraine sei nur eine westliche Marionette und nicht souverän. Es handelt sich also um lauter Falschinformationen, um den russischen Angriff zu legitimieren.
Aber gibt es russische Desinformation seit 2014 auch spezifisch in Deutschland?
Der Auslandssender des Kremls, Russia Today, betreibt seit 2014 den deutschsprachigen Ableger RT DE, über den viel Desinformation in Deutschland verbreitet wird. Am prägnantesten zeigte sich die Arbeit dieses Senders aber während der Covid19-Pandemie. Während in Russland Lockdown war und Putin selbst dafür bekannt ist, panische Angst vor einer Ansteckung mit Covid zu haben, verbreitete RT in Deutschland gezielt Falschmeldungen über die Impfung und begleitete mit Kamerateams „Querdenken“-Kundgebungen. Das hatte schlicht das Ziel, den politischen Rand zu stärken und die deutsche Demokratie zu schwächen. Das heißt, dass diese russischen Akteur*innen schon 2019 nicht nur Desinformation zum Kriegsgeschehen in der Ostukraine verbreiteten, sondern auch andere Themen aufgriffen, um zu destabilisieren und zu spalten.
Gibt es eine Kontinuität von den Friedensmahnwachen 2014 über „Querdenken“ zu der jetzigen Mobilisierung in der sogenannten „Friedensbewegung“?
Ja, ich würde sagen, dass es diese Kontinuitäten gibt. Schon auf personeller Ebene: Bedeutende Akteure der extremen Rechten wie Jürgen Elsässer oder Verschwörungsideolog*innen wie Ken Jebsen sind schon 2014 bei den Mahnwachen in Erscheinung getreten. Dann haben sie das Thema Covid bespielt und jetzt bespielen sie das Thema Ukraine-Krieg. Und natürlich gibt es genauso auch eine ideologische Kontinuität, die in einem Antiamerikanismus liegt, der schon 2014 wichtig war und jetzt auch eine große Rolle spielt – Stichwort „Ami go home“.
Ein Slogan, der inzwischen gerne von verschwörungsideologischen Kreisen als Protest gegen die angebliche Fremdbeherrschung Deutschlands durch die USA verwendet wird. Auch auf der Wagenknecht-Schwarzer-Demo waren zahlreiche „Ami go home“-Plakate zu sehen. Hat hier russische Desinformation funktioniert? Ist Antiamerikanismus deshalb eines der zentralen Feindbilder, auch für die Mobilisierung in Deutschland?
Das ist die zentrale These von meiner Co-Autorin Manja Vitter und mir: Der Antiamerikanismus ist Kernelement der Ideologie des Kremls und er ist der wichtigste ideologische Brückenschlag einerseits zur extremen Rechten in Deutschland, die für Frieden mit Putin auf die Straße geht, und andererseits zu den Putin-Versteher*innen in der sogenannten antiimperialistischen Linken. Das heißt in der DKP oder vergleichbaren Teilen der Linken, die offensichtlich in Denkmustern des Kalten Krieges hängen geblieben sind.
Prorussische Haltungen, gefördert durch russische Desinformation, dienen also in Deutschland als Grundlage für Querfront-Mobilisierung?
Die Befürchtung ist zumindest berechtigt. Ich denke, dafür spielt dieser Antiamerikanismus eine wichtige Rolle. Diese Ideologie fruchtet sowohl rechts, weil Amerika als Hort der Unmoral und des Wertverfalls gesehen wird, als auch in bestimmten linken Kreisen, in denen Amerika als alleiniger Hort des Kapitalismus, der Ausbeutung und des Imperialismus verstanden wird. Russische Desinformation kann das auf beiden Seiten aktivieren. Schon 2014 hat man ja derartige Querfront-Bestrebungen gesehen.
Ist diese Form der russischen Desinformation spezifisch für Deutschland?
Kreml-Propaganda wird auch in Afrika und Latein-Amerika verbreitet. Dort funktioniert sie aber anders, weil sie dort eher auf linke Kreise zielt und einen antikolonialen, linken Antiamerikanismus aktivieren will. In Deutschland und in Europa generell zielt Kreml-Propaganda verstärkt auf den rechten Rand, weil die „Neue Rechte“ Putins Zielen mehr verbunden zu sein scheint.
Warum sind Russland und Putin für die deutsche Rechte so interessant?
Wenn man sich Reden von Leuten wie Höcke ansieht, dann wird deutlich, dass sie in Putin und seinem Russland einen positiven Gegenentwurf zum „degenerierten Westen“ mit seinen Queer-Rechten und nicht-traditionellen Familienkonzepten erkennen. Das heißt, der Fokus auf das traditionsbewusste Russland ist ein Fokus auf ein antimodernistisches, reaktionäres Gesellschaftsideal. Das ist mit der Hoffnung verbunden, dass Putins Russland ein Verbündeter sein kann, im Kampf gegen den „verdorbenen“, amerikanischen, liberalen Einfluss. Auch bei rechten „Denker*innen“ wird immer wieder deutlich, dass eine Achse Moskau-Berlin gegen den transatlantischen Einfluss herbeigesehnt wird. Davon träumen sowohl deutsche Rechte als auch russische Rechte.
Du hattest schon von Russia Today gesprochen – wie wurde und wird russische Desinformation in Deutschland noch verbreitet?
Hier müssen wir unterscheiden, wie sie auf Deutsch und wie sie auf Russisch verbreitet wird. Russischsprachige Menschen, die in Deutschland prorussische und Putin-treue Positionen einnehmen, konsumieren meist übers Internet russische Inlandsmedien. Auf Deutsch verbreiten sich kremlnahe Desinformationen über ganz verschiedene Kanäle. Russia Today spielt sicherlich immer noch eine Rolle, auch wenn es vor einem Jahr EU-weit verboten wurde. Dennoch sendet RT weiter über sogenannte Mirrorseiten oder über rechtsoffene Videohosts wie „Odyssee“. Content von RT wird auch auf Social Media verbreitet. Auf Telegram gibt es eine ganze Bandbreite an zweisprachigen Desinformationskanälen, die die Inhalte aus dem Russischen ins Deutsche übersetzen und so einer deutschen Zielgruppe zugänglich machen. Diese Kanäle haben in den ersten Kriegsmonaten ein sehr starkes Wachstum verzeichnet.
Ist die Reichweite der Desinformation mit Kriegsbeginn gestiegen?
Es gibt keine absoluten Zahlen dazu, aber davon ist auszugehen. Alleine schon, weil das Interesse extrem gestiegen ist und weil Kanäle, die vorher Falschmeldungen über die Impfungen verbreitet haben oder sich generell an Covid abgearbeitet haben, auch umgeschwenkt sind und sich jetzt mit dem Krieg beschäftigen.
Aber ist auch das Bewusstsein in der deutschen Öffentlichkeit dafür gestiegen, dass Russland gezielt mit Falschinformationen Propanganda betreibt?
Ja, das lässt sich so sagen. Es gibt ja inzwischen viele und ständig neue Recherchen zum Kriegskontext zum Beispiel bei Correctiv. Spektakuläre Fälle russischer Desinformation werden auch immer wieder von der Presse thematisiert. T-online hat zum Beispiel im vergangenen Sommer aufgedeckt, dass Websites verschiedener deutscher Medien, unter anderem von Bild, FAZ und Spiegel von russischen Akteur*innen nachgebaut und mit Desinformation bespielt wurden. Die Links zu den Seiten wurden dann gleichzeitig von Fake-Accounts in den Sozialen Medien gestreut.
Was ist nötig, um gegen russische Desinformation vorzugehen?
Es ist wichtig, komplexe Welterklärungsmodelle anzubieten. Der russischen Propaganda-Erzählung, die behauptet, die USA seien an allem Schuld, sollte man keine Welterklärung entgegenstellen, in der Russland an allem Schuld ist. Es ist entscheidend, mehr Komplexität zu wagen. Wir sollten Außenpolitiken differenziert betrachten und auch aufzeigen, dass es verschiedene imperialistische Ansprüche gibt.