Interview: Rainer Mai
Mut: Herr Borstel, Ihr Buch trägt den Titel „Braun gehört zu bunt dazu!“. Woher kommt das?
Das war die Aussage eines nicht rechtsextremen Bürgers bei einer rechtsextremen Demo gegen die Sozialreform in Anklam. Es ist ein Zeichen dafür, dass dort die NPD auf gleicher Ebene im politischen Spektrum, wie andere Parteien empfunden wird. Es ist Ausdruck der Normalisierung und einer fehlenden Distanz zur rechtsextremen Szene. Dieser Satz kommt aus der Mitte der Gesellschaft.
Und wieso haben Sie sich für Ihre Untersuchungen ausgerechnet Ostvorpommern ausgesucht?
Erst mal muss man ja eine Auswahl treffen, um eine Untersuchung anzustellen. Hierbei spielte vor allem eine Rolle, dass Ostvorpommern eine rechtsextreme Modellregion ist. Dann gab es dort einen Zugang zu den Menschen, ich konnte Interviews führen, bekam viele Infos. Mich haben die Bürgermeister der Orte unterstützt. Auch die Anbindung war sehr gut. Die Leute haben mich nett empfangen, auch die Nazis. Ein letzter Punkt war, dass ich in Anklam einfach Kontaktleute hatte, die mir die Türen geöffnet haben.
Sie sind nach einiger Zeit tatsächlich auch nach Anklam gezogen, wieso haben sie das gemacht?
Mir war klar, dass ich eine hohe Präsenz vor Ort brauchte. Nur so konnte ich genau erkennen: „Wie leben die Leute dort? Wie läuft der Alltag ab?“ Das ist nur möglich, wenn man präsent ist, wenn man spontan mal irgendwo sein kann. Oder wenn man Leute zufällig auf der Straße trifft. Der Umzug nach Anklam war eine der besten Erfahrungen, die ich gemacht habe, denn die Alltäglichkeiten konnten so wirklich erkannt werden. Man bekommt einen ganz anderen Bezug zu den Leuten, diese Erfahrungen sind auch mit in meine Beobachtungen eingeflochten.
Und wie wurden sie in Anklam als sogenannter „Neubürger“ empfangen? Gab es Probleme?
Das hat eigentlich alles sehr gut funktioniert. Das größte Problem war erst mal eine Wohnung zu finden. Aber da war die Wohnraumgenossenschaft sehr nett. Die haben mir sogar eine Dreizimmerwohnung in eine Einzimmerwohnung umgebaut, damit ich mir die Miete leisten konnte. Das ist ja auch eine Form der Kultur, ob die Leute einem helfen oder nicht. Was ich zum Beispiel toll fand: Am Tag meiner Ankunft hat mich der Hausmeister vom Bahnhof abgeholt und zu mir gesagt, dass er sich freut, dass endlich mal ein junger Mann in die Gegend zieht. Das sagt ja auch immer was über die Menschen und die Lage in der Stadt aus.
In ihrem Buch schreiben Sie ja auch von A-Dorf, einem Dorf im Umland von Anklam und der dortigen neonazistischen Jugendszene. Wie äußerte die sich im Alltag?
Das sind dort einfach ganz klare, offene rechtsextreme Strukturen, in diesem Fall mit Sitz im Jugendklub. Es wurden beispielsweise gemeinsam Fußballspiele angeguckt und dann sitzen da rechtsextreme und vielleicht nicht rechtsextreme Jugendliche zusammen. Es wurde auch sehr deutlich, dass einer in so einer Kameradschaft die Führung hatte. Wenn der Kameradschaftsführer was gesagt hat, waren alle anderen ruhig. Aber für das Dorf war ganz klar: Im Jugendklub treffen sich die Rechtsextremen und man konnte sich entscheiden, ob man hingeht oder nicht.
In Ihrem Buch schreiben Sie auch, dass die demokratische Gegenseite in diesen Gebieten sehr schwach und häufig von der Situation überfordert ist.
Naja, die Rechtsextremisten wurden aus dem einen Jugendklub zum Beispiel verdrängt. Aber das stört die nicht, die sind dann einfach aus dem Dorf raus und ins nächste Dorf. Das generelle Problem ist, dass der demokratische Unterbau nicht funktioniert. Die Parteien sind schwach. Gewerkschaften sind fast unbekannt. Es gibt keine größeren Kirchengemeinden oder Initiativen, die beispielsweise eine flächendeckende Jugendarbeit anbieten können. Auf der Ebene der Lokalpolitik kommt hinzu, dass die meisten Engagierten, mit der Wende in die Politik gekommen sind und schon seit über 20 Jahren statt Aufbau eher den Abbau von Strukturen erleben. Die sind jetzt müde von der Politik und die fitten Jüngeren verlassen die Region. Und jetzt sollen sie sich um das Problem mit den Rechtsextremen kümmern? Das ist durchaus überfordernd.
Ein großer Teil des Buches befasst sich ja auch mit Maßnahmen und Strategien im Umgang mit den neonazistischen Strukturen. Was sind da die drei Wichtigsten?
Zu allererst müssen wir den so genannten ländlichen Raum empathisch begreifen. Wir müssen den Leuten vor Ort zuhören und sie ernst nehmen! Dann, mit diesem ersten Punkt gekoppelt, müssen wir uns darüber verständigen, was die Mindeststandards an Strukturen sind, die es im ländlichen Raum geben muss. Damit sind sehr alltagspraktische Dinge verbunden. Ein Beispiel aus dem Dorf: Dort sollte der letzte Geldautomat verschwinden. Die Einwohner hätten dann 20 km fahren müssen. Das geht für viele nicht und das verbinden sie dann auch mit der Demokratie. Erst dann, wenn diese Sachen geklärt sind, kann man vernünftig und selbstbewusst das Problem Rechtsextremismus wirklich angehen. Das geht nämlich nur, wenn man die Menschen vor Ort mitnimmt und nicht nur von außen mal kurz mit einer Aktion oder einer Veranstaltung oder gar einem Plakat einfliegt.
Vielen Dank für das Interview.
Borstel, Dierk (2011): „Braun gehört zu Bunt dazu!“ Rechtsextremismus und Demokratie am Beispiel Ostvorpommern. Verlag Monsenstein und Vannerdat OHG Münster.
Das Interview ist ursprünglich auf dem Portal „Mut gegen rechte Gewalt“ erschienen (2002-2022).