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Interview zum Neukölln-Prozess „Eine fatale Konsequenz für Betroffene“

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Vor dem Berliner Amtsgericht in Moabit: Die Neuköllner Neonazis Tilo P. und Sebastian T. (Quelle: picture alliance/dpa/Christian Ender)

Belltower.News: Das Urteil im Neukölln-Prozess ist gefallen. Und für die rechtsextremen Brandanschläge wird wohl niemand verurteilt. Tilo P. wurde schon im Dezember freigesprochen, Sebastian T. gestern. Eine Haftstrafe muss T. dennoch absitzen: 1,5 Jahre unter anderem wegen Sachbeschädigung, Morddrohungen und Sozialbetrug. Wie bewertet die MBR das Urteil?

Bianca Klose: Wir sehen das Urteil ambivalent. Vor Gericht war ja überhaupt nur ein minimaler Ausschnitt der Taten der Neuköllner Angriffsserien angeklagt. Als MBR gehen wir von mindestens 157 Vorfällen aus, die wir seit 2009 zählen. Und sie haben den gleichen Modus Operandi: Feindeslisten, gesprühte Morddrohungen und Brandanschläge. Das gestrige Urteil beruht zwar vor allem auf unpolitische Betrugsdelikte. Dennoch: Das Gericht sah es als erwiesen an, dass Sebastian T. Morddrohungen an Hauswänden von Menschen angebracht hat, die sich gegen Rechtsextremismus engagieren. Ich erinnere: „9mm“ für meinen Kollegen „und die MBR“ stand da, und „Kopfschuss“ für andere engagierte Menschen. Für uns ist es schon wichtig, dass diese Bedrohungen anerkannt und auch entsprechend verurteilt wurden.

Sind Sie vom Urteil überrascht?

Wenn man den Prozessverlauf beobachtet hat, dann musste man eigentlich schon davon ausgehen, dass nach dem Freispruch für Tilo P. im Dezember wegen Brandstiftung auch Sebastian T. auf ein ähnliches Ergebnis hoffen konnte. Zudem war der gesamte Prozess sehr eng auf die angeklagten Taten geführt. So blieb der Prozess im Hinblick auf die Aufklärung der politischen Dimensionen von Anfang an hinter seinen Möglichkeiten zurück. Für die Betroffenen war das nur schwer zu ertragen.

Liegen die Versäumnisse am Prozess oder eher an den Ermittlungen im Vorfeld gegen die Neonazi-Szene in Neukölln?

Es lag an beidem. Frühere Fehler der Polizei und Staatsanwaltschaft kann ein Gerichtsverfahren, in dem ja sowieso nur ein verschwindend geringer Teil der Straftaten überhaupt zur Anklage vorlag, nur sehr schwer nachträglich korrigieren. Die Feindeslisten und personenbezogenen Daten von engagierten Menschen in Berlin wurden ja seit nunmehr fast zwei Jahrzehnten gesammelt, damals vom Netzwerk „Nationalen Widerstand Berlin“. Und sie waren ja Vorbereitung für spätere Angriffe. Aber das blieb über viel zu lange Zeit gänzlich ohne Konsequenzen für die Täter. Dass die Vorsitzende Richterin in der mündlichen Urteilsbegründung die Gefahr von Feindeslisten dahingehend relativierte, dass das Sammeln von personenbezogenen Daten nicht automatisch zu Straftaten führe, zeugt unseres Erachtens von einem defizitären Verständnis der dahinter liegenden Strategie. Jede Feindesliste ist gefährlich. Auch ihre Gleichsetzung von rechten und linken Listen in diesem Kontext muss erschüttern. Die Staatsanwaltschaft hat ab 2016 viel zu spät überhaupt den Seriencharakter der Angriffe erkannt. Dadurch ging wertvolle Zeit verloren. Und auch das führte dazu, dass es gestern keine ausreichenden Beweise für eine Verurteilung bezüglich der Brandstiftungen gegeben hat.

Die Neuköllner Anschlagserie ist eine Chronik des behördlichen Versagens: Betroffene wurden nicht vorgewarnt, ihre Daten wurden offenbar abgefragt, die Täter waren teilweise unter Observation – und dennoch gibt es irgendwie keine gerichtsfesten Beweise…

Dass Sebastian T. gestern bei drei Bedrohungstaten überhaupt verurteilt wurde, ist einem Zufallsfund zu verdanken: Der Betroffene wurde von der Polizei observiert, als „linker Gefährder“. Nur durch die Observation von vermeintlichen „Linksextremen“ ist ein Beweisvideo von der Tat zustande gekommen – und eben nicht im Rahmen der Ermittlungen gegen die rechtsextreme Szene. Und das ist schwer auszuhalten.

Im Prozess spielte die rechtsextreme Ideologie und Netzwerke der Angeklagten kaum eine Rolle. Welche Folgen hatte das?

Wir hatten leider den Eindruck beim Prozess, dass die politischen Hintergründe dieser Taten wenig Relevanz erfuhren. Dass zum Beispiel die Rolle des „Nationalen Widerstandes Berlin“ als Keimzelle des Modus Operandi der späteren Angriffsserie eigentlich komplett ausgeblendet wurde. Was wir viel schwerwiegender finden, ist, dass Netzwerke oder aber auch die Helfer*innen und Zulieferer*innen überhaupt nicht ausreichend beleuchtet worden sind – obwohl der Kreis der relevanten Personen in Berlin eh und je überschaubar war und diese Rechtsextremen teilweise im Rahmen des Verfahrens sogar thematisiert, aber nicht geladen wurden. Das gilt außerdem auch für die Frage, welche Quellen es noch für Neonazis gegeben hat, an personenbezogene Informationen wie aktuellste Wohnorte oder Namen von Lebenspartner*innen zu gelangen. Warum hat es unbegründete Datenabfragen in Polizeidatenbanken gegeben? Das wurde an keiner Stelle im Prozess thematisiert.

Der Linken-Abgeordnete Ferat Koçak, ein Betroffener der Brandanschlagserie, sagte nach dem Urteil: „Mein Vertrauen in Staat und Justiz ist schwer geschädigt“. Können Sie das nachvollziehen?

Selbstverständlich. Seit Jahren und Jahrzehnten unterstützen wir Betroffene dieser Bedrohungen, Angriffe und Anschläge. Und für viele heißt das: Sie können sich auf den Staat nicht mehr verlassen, wenn es um die Sanktion von rechtsextremer Gewalt geht. Und das ist wirklich eine fatale Konsequenz – nicht nur für die Betroffenen selbst, sondern auch für die staatlichen Behörden. Der Staat kann Opfern offenbar nicht ausreichend Schutz gewähren. Viele Betroffene und engagierte Menschen haben sich deshalb zusammengeschlossen, um selbstbewusst staatliches Handeln kritisch zu begleiten: Über die Jahre sind solidarische Netzwerke entstanden. Dieses politische Engagement zeigt Wirkung, sei es mit dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss oder durch die Öffentlichkeitsarbeit zum Komplex.

Im Neukölln-Komplex ist die AfD der Elefant im Raum: Tilo P. war im Neuköllner Vorstand der Partei. Er soll auch Kontakt zu einem Polizisten gehabt haben, der ebenfalls AfD-Mitglied ist. Gleichzeitig sitzt nun ausgerechnet die AfD im Untersuchungsausschuss und darf Betroffene sogar mit Fragen verhöhnen. Müssen wir hier nicht mehr über die AfD sprechen?

Wenn ich sage, dass rechtsextreme Netzwerke nicht ausreichend in den Blick genommen wurden, weder seitens der Polizei noch der Staatsanwaltschaft noch vor Gericht, dann meine ich damit selbstverständlich auch die Netzwerke in die AfD hinein.

Was können wir noch von dem Untersuchungsausschuss erwarten? Sind Sie da optimistischer?

Im Untersuchungsausschuss haben wir ein sehr umfangreiches Gutachten eingereicht. Auch Betroffene wurden angehört. Wir haben aber von Anfang an kritisiert, dass die angeforderten Akten offenbar nicht zugeliefert werden und sich damit die notwendige Arbeit des Ausschusses verzögert. Ich möchte an dieser Stelle betonen: Eine Befragung von Vertreter*innen zuständiger Ermittlungsbehörden gab es bisher noch gar nicht. Und mit Blick auf die Wiederholungswahl in Berlin ist die Zukunft des Untersuchungsausschusses sowieso noch nicht absehbar.

Nach Optimismus klingt das nicht…

Ich wüsste nicht, welches Zeichen es für Optimismus gäbe. Wir können nur hoffen, dass auch für die neu gewählten Regierungsparteien die wirkungsvolle und nachhaltige Arbeit des Untersuchungsausschusses absolute Priorität haben wird.

Im Gespräch: Bianca Klose, Leiterin der Berliner Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus (Quelle: MBR/Christian Mang)

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