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Israel Traumatisierte Gesellschaft – „Es richtet sich gegen uns alle“

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Seit dem 7. Oktober fordern Israelis auf dem "Hostage Square" die Freilassung der Geiseln und demonstrieren gegen die Regierung von Premierminister Netanjahu. (Quelle: picture alliance / Sipa USA | Matan Golan)

An einem brütend heißen Julisonntag sitze ich vor dem Museum of Arts Tel Aviv. Auf einem Platz, der seit dem 7. Oktober auch der „Platz der Geiseln“ genannt wird. Über 120 Menschen befinden sich in den Händen der Terrororganisation Hamas – 275 Tage, sind seit der genozidalen Gewalt des 7. Oktobers 2023 vergangen.

Schon bei der Ankunft am Terminal drei des Tel Aviver Ben-Gurion-Flughafens wird klar: Hier ist nichts mehr, wie es war. Der Angriff der Hamas am „schwarzen Shabbat“ gilt als das tödlichste Massaker auf Jüdinnen und Juden seit der Shoa. Bereits der Weg zur Passkontrolle ist von den Bildern der Geiseln flankiert. Gefühlte endlose Minuten laufe ich an den über 200 Postern vorbei. Für Jüdinnen und Juden weltweit gibt es eine Welt vor und nach dem 7.Oktober. In Israel kann dieser Tag nicht übersehen werden. Und doch hat mich die Sichtbarkeit erschüttert und gleichzeitig gefreut. Es ist eine manchmal schwer auszuhaltende Gleichzeitigkeit. In den unzähligen Gesprächen mit meinen Freund*innen, die ich in den nächsten Tagen immer wieder führe, wird genau das deutlich.

Kurz nach der Ankunft sitze ich den kompletten Nachmittag mit zwei Freund*innen, die ich bereits mein halbes Leben kenne, am Tisch und wir sprechen über die vergangenen neun Monate. Immer wieder sagen sie, lasst uns das Thema wechseln. Aber niemand wechselt das Thema. Sie erzählen, wie er zur Armee gerufen wurde und sie mit ihrer Tochter zu ihrer Schwester gezogen ist. Denn in ihrem Haus gab es keinen Bunker. Seit dem 7. Oktober kann die Tochter keine fünf Minuten mehr allein zu Hause bleiben. Vorher war das anders. Die Straßen waren nach dem 7. Oktober über Wochen mehr oder weniger leergefegt. Niemand saß draußen. Niemand war in Cafés oder Bars. Schon das Geräusch eines vorbeifahrenden Motorrads sorgt für Unbehagen oder gar Panik und das in einem Land, dass ob seiner jungen Geschichte erprobt ist in der Auseinandersetzung mit kollektiven Gewalterfahrungen. Es herrscht ein kollektives Trauma. Dieses Trauma ist nach wie vor sichtbar.

Der 7. Oktober ist allgegenwärtig. Er hat sich in die DNA des Landes eingebrannt und ist überall im öffentlichen Raum wahrnehmbar. Am „Platz der Geiseln“ sieht man, dass daraus eine Bürger*innenbewegung entstanden ist. Gemeinsam im Kampf für die Befreiung der Geiseln, für Frieden und die Absetzung des Premierministers Benjamin Netanjahu. An Tag 275 kann man ein buntes Treiben sehen. Es sitzen mehrere Kleingruppen von Pfadfinder*innen auf dem Square verteilt. An einem gelben Klavier – darauf die Aufschrift „you are not alone“ – spielt jemand ein Lied. Menschen sitzen in einem angrenzenden Café. Andere schlendern über den Platz. Nach einer Weile formieren sich die Pfadfinder*innen zu einer Kundgebung. Es wird gesungen. Auch der Bruder von Itay Chen spricht. Itay Chen wurde am 7. Oktober von der Hamas in den Gaza-Streifen verschleppt. Erst Monate später ist er für tot erklärt worden. Sein Leichnam konnte nach wie vor nicht geborgen werden.

Während ich dort sitze und das Treiben beobachte, kommt Unbehagen in mir auf. Was passiert, wenn die Kundgebung gestört, jemand angegriffen wird? Doch das passiert nicht. Natürlich nicht. Denn weder sind irgendwo Parolen a la „Free Gaza“, „Stop the genocide“ oder „Israel’s  apartheid state must end“ zu sehen, noch gibt es Menschen in Israel, die den Schmerz vom 7.Oktober nicht in sich tragen.

Jede*r kennt jemanden, der oder die entführt oder ermordet wurde oder seit dem 7. Oktober immer wieder in die Armee eingezogen wird. Egal wo sich die Reservist*innen gerade aufhalten. So berichtet ein Freund, dass er in der Nacht zum 14. April, dem Drohnenangriff des Irans auf Israel, von der Hochzeit seiner Schwester einberufen wurde.

Ein weiterer wichtiger Punkt: Je härter die Katastrophe, desto enger rückt die Gesellschaft zusammen. Seit Monaten überzeugen sich Israelis gegenseitig zu den Protesten gegen die Politik Netanjahus zu gehen und den Druck auf der Straße hochzuhalten. Mittlerweile finden sie jeden Samstag im Stadtteil Kaplan in Tel Aviv statt. Fast jede Woche kommt es in letzter Zeit zu massiven Ausschreitungen.

Eine Frage, die mir immer wieder gestellt wird: „Was zur Hölle ist eigentlich bei euch los? Habt ihr keine anderen Probleme, als Israel zu hassen?“ Mir ist es nicht nur unangenehm, dass meine Freund*innen, die dafür kämpfen ein Leben in Frieden zu führen, mit ansehen müssen, dass auf den Straßen Deutschlands Jüdinnen und Juden angegriffen werden. Es macht mich wütend.

Auch wenn viel über den 7. Oktober gesprochen wird, über das Versagen der Politik Netanjahus, über das kollektive Trauma und die professionelle psychologische Betreuung, die es noch jahrelang benötigen wird: Es gibt keine Worte des Hasses. Alle sind sich einig, dass auch die Palästinenser*innen es verdienen, in einem unabhängigen Staat zu leben. In Frieden zu leben. Niemand will – wie es in Deutschland vor allem in Teilen, eines sich als progressiv verstehenden politischen Spektrums immer wieder propagiert wird – Gaza dem Erdboden gleich machen. An erster Stelle steht die Freilassung der Geiseln. Sie müssen nach Hause. An zweiter Stelle steht Frieden. Wenn ein Kind geboren wird, sagt man sich, werde die Wehrpflicht abgeschafft sein, wenn dieses Kind volljährig ist. Meine Freundin, die vor zwei Monaten ein Kind bekommen hat, weiß, dass das eine reine Wunschvorstellung ist. Sie hält ihr Kind im Arm, während sie mir erzählt, dass ihr Mann am Samstag wieder in den Gazastreifen muss. Er durfte für ein paar Wochen nach Hause, um bei der Geburt seines Kindes dabei zu sein. Seit dem 7. Oktober hat er viele Freundinnen und Freunde aus seiner Einheit verloren.

Es gibt eine weitere Sache, die ich in den Tagen immer wieder von allen Seiten höre. Israel habe in den letzten Jahrzehnten versäumt, positive Eigenwerbung für sich zu machen. Es gäbe keine Kampagnen, die aufzeigen, wie schön das Land ist. Wenn über Israel international berichtet wird, gehe es meist um die politische Irrationalität Benjamin Netanjahus oder ein Land im permanenten Ausnahmezustand. Gleichzeitig ist aber auch für alle klar, dass so etwas Banales wie eine Image-Kampagne nichts ändern würde. Dafür ist der 7. Oktober ein adäquates Beispiel. Bereits kurz nach dem Überfall der Hamas war erkennbar, dass die Welt Israel für jede Art der Verteidigung verurteilen würde.

Am letzten Tag meiner Reise besuche ich erneut den „Platz der Geiseln“. Diesmal, um ins Tel Aviv Museum of Art zu gehen. Es ist ein komisches Gefühl und doch das Sinnbild für Gleichzeitigkeit von Trauer und Normalität in diesem Land. Am Abend stehe ich für eine letzte gemeinsame Zigarette mit einem meiner ältesten Freunde am Fenster. Wir sprechen über die Ungewissheit der Zukunft und dass er sich für sein Kind wünscht, einfach in Frieden zu leben. Auf einmal hören wir eine laute, allerdings weit entfernte Explosion. Wenige Minuten später donnern zwei Militärflugzeuge über unsere Köpfe hinweg. Ich frage ihn, was wir jetzt machen. Er sagt: „Ich hole mir noch ein Bier. Willst du auch eins?“ Der Krieg ist Alltag geworden, also warum den Feierabend nicht mit einem Bier ausklingen lassen.

Niemand weiß, wie lange es noch so weitergeht. Eines ist dabei klar, niemand wird aufgeben, bis nicht alle Geiseln zu Hause sind. So war es immer, so wird es auch nach dem 7. Oktober sein. Denn während in Deutschland der antisemitische Mob tobt und viele nicht wissen, zwischen welchem „sea“ und welchem „river“ sie Palästina befreien wollen, ist in Israel gewiss, dass jede*r einer dieser Geiseln hätte sein können. Sie stehen für ein Kollektiv, ob sie wollen oder nicht. Sie werden nicht vergessen. Und erst wenn alle frei sind, können die Menschen in Israel beginnen, nach dem 7. Oktober zu heilen.

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