In „Nach Israel kommen“ geht es dabei immer auch um Erinnerungskultur: „Angesichts des allmählichen Verschwindens der Generation der Zeitzeugen, vor allem aber auch angesichts eines lauter und unverhohlener sich gebärdenden Antisemitismus in Deutschland und der Wahlerfolge einer rechtsextremen Partei bei den Bundestagswahlen 2017 ist die Frage des Erinnerns von besonderer Dringlichkeit“.
Wolf Iro beschreibt dabei auch seine persönliche Geschichte vom „Nach Israel kommen“. Gerade als offizieller deutscher Repräsentant fühlte er sich der Erinnerung verpflichtet: „Ich hatte das Gefühl, jede Äußerung im Kontext der deutsch-jüdischen Geschichte und speziell des Holocausts zu tun.“ Doch schnell wird klar, dass auch wenn die Shoah untrennbar zur Geschichte der beiden Länder gehört, jüdisches und israelisches Leben abseits davon auch genau jetzt stattfindet . „Man kann nicht vierundzwanzig Stunden am Tag über die Vergangenheit nachdenken. Und man sollte es auch nicht. Denn das hieße dem Land und seinen Bewohnern die Gegenwart abzusprechen“, so Iro.
Gerade für Besucher*innen die nach Israel kommen ist aber genau das nicht selbstverständlich. Iro schildert Geschichten von Künstler*innen, Musiker*innen und anderen. Und gerade diese Schilderungen machen ein unbequemes Verhältnis deutlich. Bemerkenswert ist dabei vor allem, dass Iros Beispiele nicht am Rand der Gesellschaft stattfinden, sondern vor allem den Antisemitismus der Mitte aufzeigen.
Da ist zum Beispiel die deutsche Schriftstellerin, die, nach Israel eingeladen wird und dann frei heraus Gaza als „Ghetto“ bezeichnet. Täter-Opfer-Umkehr also: Israel handelt in Gaza nicht anders, als die Deutschen während des Nationalsozialismus. Das ist faktisch falsch und dazu noch eine Sichtweise, die die Komplexität des Konfliktes komplett ignoriert. Vor allem ist es aber ein Schlag ins Gesicht der Ghetto-Überlebenden, von denen viele in Israel gelebt haben und noch leben. Gleichzeitig wird die eigene Großelterngeneration entlastet: Juden und Jüdinnen verhalten sich ja scheinbar genauso. „Durch die Unterstellung, Juden würden in Gaza, was ihnen selbst vormals angetan wurde, nun ihrerseits praktizieren, verliert das System Auschwitz seine bedrückende Einzigartigkeit,“ so Iro.
Oder da ist die Journalistin, die Zeugnisse jüdischer Emigrant*innen aus Deutschland sammelt, die am Aufbau des Staates Israel beteiligt waren. Viele von ihnen Shoah-Überlebende. Ein interessantes Projekt, dass aber einen merkwürdigen Beigeschmack erhält, wenn die Journalistin vor jüdisch-israelischen Gästen so lange ihre fast familiäre Beziehung betont, dass „bei der jüdischen Veranstalterin der Eindruck aufkam, die Autorin wünsche im Grunde ihres Herzens, Enkelin von Überlebenden zu sein“. Wie kompliziert und beschwerlich das Leben gerade dieser Menschen und ihrer Familien auch in Israel war, wird dabei offenbar völlig ausgeblendet.
Iro benennt dabei übrigens auch viele Fälle, in denen die Zusammenarbeit oder der gegenseitigen Besuche sinnvoll und gewinnbringend waren, aber gerade seine Negativbeispiele zeugen von vielen Missverständnissen auf deutscher Seite. Die in Deutschland so beliebt „Israelkritik“ ist dabei nur die eine Variante, auch die von antideutscher Seite eingeforderte „uneingeschränkte Solidarität“ kritisiert Iro: „Israel kommt in ihrem Diskurs nicht als eigenständiges Land vor, sondern lediglich als eine Art Projektionsfläche. Und so würden viele Israelis bis weit in die Mitte der Gesellschaft hinein auch nur den Kopf schütteln über Behauptungen wie beispielsweise die, dass die ‚Siedlungen für einen dauerhaften Frieden nicht das Problem sind‘ […]“
Der Band zeigt auf, wie tief Erinnerungsabwehr – also der mehr oder weniger unbewusste Wunsch, nicht mehr der Shoah gedenken zu müssen – immer noch oder wieder in der deutschen Gesellschaft verwurzelt ist. Iro kann dabei aus einer professionellen Perspektive urteilen und macht den „Antisemitismus der Mitte“ eindrücklich deutlich. Dabei vergisst er nie die Rolle des Rechtspopulismus und dem ständigen Versuch die Grenzen des Sagbaren zu verschieben, Ängste und Vorurteile zu schüren und damit auch die Erinnerungskultur anzugreifen.
Besonders eindrücklich gelingt das am Beispiel einer Ausstellung über Channa Maron. Maron war eine erfolgreiche jüdische Schauspielerin in der Weimarer Republik und floh mit ihren Eltern nach dem Machtantritt der Nazis ins damalige Palästina. In Israel wurde sie zum Star. 1970 verlor sie durch einen palästinensischen Terrorangriff einen Unterschenkel, stand aber bereits nach einem Jahr wieder auf der Bühne. Später wurde sie zu einer bekannten Aktivistin der israelischen Friedensbewegung. Das Goethe-Institut beauftragte ein deutsch-israelisches Grafik- und Comiczeichner*innen Team mit einer kleinen Ausstellung über Marons bewegtes Leben, die in Israel und auch in vielen deutschen Schulen gezeigt wurde. Allerdings nicht überall. Im Osten Deutschlands fielen die Reaktionen so aus: „Die Ausstellung sei zwar schön und für Jugendliche gut geeignet. Aber man habe die Sorge, dass sich bei einem solchen Thema bestimmte Bevölkerungsteile beschweren könnten“.
Iros Forderung ist klar, und sie hat nichts mit dem ständig wiederholten Mantra zu tun, dass man unbedingt „Ängste“ von AfD, „besorgten Bürgern“ und Co „verstehen“ müsse: „Es muss in dieser Situation oberstes Gebot sein, die ‚bestimmten Bevölkerungsteile‘ vor den Kopf zu stoßen und zur Reflexion zu zwingen. Und ihnen kompromisslos zu vermitteln, dass die Shoah ein zentraler Teil der deutschen Geschichte und die Auseinandersetzung mit ihr ein zentraler Teil der deutschen Identität ist. Und sein wird.“
„Nach Israel kommen“ von Wolf Iro ist bei Wagenbach erschienen (ISBN: 978-3-8031-3680-0) und kann hier bestellt werden.