Dresden – Dann rast Hoeneß los, übers halbe Feld. Geyer jappt verzweifelt hinterher, doch der Bayer ist dem Sachsen viel zu schnell. Tor, und da capo, nur zwei Minuten später. Totenstille. Aber jetzt stürmt Dresden, München wankt. Wätzlich trifft. Ausgleich durch Schade. Häfner: 3:2! Das Stadion brüllt vor Glück. Und dann stochert Müller diesen unmöglichen Ball ins Dynamo-Tor?
Das war gestern, 1973. Vierhundert Premierengäste beträumen im Dresdner Kino Schauburg das Goldene Zeitalter. Dresden war die Kathedrale des Ostfußballs. Dynamo zelebrierte Kunst, befehligt von Trainer Walter Fritzsch, dem der MDR-Reporter Uwe Karte diesen wunderbaren DDR-Erklärungsfilm Der kleine General gewidmet hat. Er offenbart Dynamos Glanz und Dunkel, auch Fritzschs Taten als MG-Schütze an der Ostfront, die kuriose Geschichte des Polizeivereins und die Stasiverstrickung etlicher Spieler. Drei wurden verhaftet, als 1981 Gerd Weber in den Westen türmen wollte. Dynamos Gegner sangen: Kotte, Müller, Weber Gerd, alle sind sie eingesperrt!
Der Film ist aus. Das Licht geht an und beleuchtet die Gegenwart. Torjäger Hansi Kreische trägt statt Heldenmähne Glatze und ist Talentsucher ? beim Hamburger SV. Dixie Dörner, der Beckenbauer des Ostens, betreut heute den Bezirksligisten Radebeuler BC. Torwart Jakubowski ist kürzlich gestorben, wie 1997 Walter Fritzsch. Auch Dynamo Dresden droht der Exitus. Trainiert von Ede Geyer, bolzt sich der Verein durch die dritte Liga, verschuldet und mit ruiniertem Ruf. Hätte nicht unlängst die Stadt Dresden 1,25 Millionen Soforthilfe gewährt, wären noch vor Saisonschluss die Lampen ausgegangen. Eine der Kreditauflagen lautet: Kampf der Gewalt.
Randaleklub, so ist Dynamos Image, deutschlandweit. Auch: Naziverein. Das, dies vorneweg, ist Quatsch, doch jeder Ruf zieht Leute an. MDR-Reporter Karte nennt Dynamo einen Saustall, den man ausmisten müsse. Es gebe Gremien für jeglichen Geltungsdrang. Bei Sponsorenversammlungen treffe sich Pöbel. Ein Exhooligan sitze im Aufsichtsrat. Und viel zu lange habe der Verein gewaltbereiten Fans die Leine locker gelassen.
Am 25. Februar 2007 filmte und sendete Uwe Karte jenes Stück Realität, das Dynamos Image nachhaltig zerbeulte und Karte zum Buhmann vieler Fans machte. Am Morgen nach einem grauenhaften Spiel gegen Osnabrück lauerte der Mannschaft ein Mob von Vermummten auf. Böller krachten. Lautstark erfuhren die Spieler, sie seien Fotzen und würden jetzt echt weggeplautzt. Der Spieler Vorbeck äußerte Angst um Leben, Auto und Familie. Dynamo-Geschäftsführer Köster fand, es sei das gute Recht der Fans, ihren Unmut kundzutun.
Im Sommer 2007 trat Köster ab. Es kam der Betriebswirt Bernd Maas, ein Ruhrgebiets-Wessi, der zuvor im Management von Borussia Dortmund, Borussia Mönchengladbach und bei Alemannia Aachen tätig war. Er soll die desaströsen Finanzen regulieren, die Lizenz retten, für zivile Sitten sorgen. Der Deutsche Fußball-Bund hatte von Dynamo Dresden die Nase voll.
Die Wende, sagt Maas, kam für die Ostvereine zehn Jahre zu spät. In den Achtzigern, mit Einführung des Privatfernsehens, schoss im Westen das TV-Geld hoch und damit die Kommerzialisierung ? sportmethodisch waren die Ostklubs top, marktwirtschaftlich blind wie die Nacht. Dabei ging Dynamo 1991 nicht arm in die Bundesliga. Für verkaufte Spieler wie Sammer und Kirsten kam nettes Geld herein, der letzte DDR-Innenminister Diestel spendierte auch noch fünf Millionen. Ein fröhliches Leben hub an. Ein schönes buntes Tier wurde aus dem Zoo in die Wildnis entlassen, sagt Professor Volker Oppitz, der Ehrenpräsident. Wissen Sie, was dann geschieht?
Es wird gefressen
Bald war Dynamo blank. In höchster Not erschien der Messias: Rolf-Jürgen Otto, ein hessischer Bauunternehmer, der die Bilanzen manipulierte, bis Präsident Otto selbst im Bau saß und der Verein strafhalber in die dritte Liga rauschte. Im Jahr 2000 war Liga 4 erreicht. Dynamo Dresden, das einst Juventus Turin und den FC Liverpool bezwungen hatte, unterlag nun Eintracht Sondershausen.
Der Verein wird nicht entwickelt, sagt Uwe Karte. In Cottbus gibt?s den Ehrgeiz, die Westklubs sportlich aufzufressen. Was hier auf dem Rasen passiert, hat nur entfernt mit Fußball zu tun. Da könnte man auch ?n paar Hamster gegeneinander rennen lassen.
Das wollen wir sehen, gegen Rot-Weiß Ahlen. Das Stadion, eine Großbaustelle, fasst derzeit nur gut 8500 Besucher. 2009 soll die neue Arena für 34000 Menschen fertig sein. Ach, wie hat sich Dynamos Grazie rustikalisiert! Wo einst Dixie Dörner tanzte, verteidigen heute Schrankwände wie Liechtensteins Nationalstopper Stocklasa. Zur Halbzeit führt Dynamo glücklich 1:0, kassiert gleich nach der Pause einen Doppelschlag und kurz vor Ultimo das wohlverdiente 1:3. Stummer Abmarsch, friedliche Depression.
Wir machen die Auswärtsprobe, in Wolfsburg, beim Schlusslicht VfL II. Allein 2000 Dresdner füllen einen Kurvenkeil der Volkswagen-Arena. Ungehört verhallt der Klassiker: IHR SEID WESSIS, ASOZIALE WESSIS, IHR SCHLAFT UNTER BRÜCKEN ODER IN DER BAHNHOFSMISSION. Dynamo gewinnt locker 2:0. Kein Radau.
Dritter Versuch: in Potsdam, bei Babelsberg03. Hier sind die Ultras links; ihr Fanzine titelt Hoolkacke kann abdampfen! und informiert über Faschismus, Sozialismus und Anarchismus im Spanien des 20. Jahrhunderts. Dynamo siegt durch Elfmeter. Dresdens imposanter Fanblock präsentiert kurz vor Schluss ein Langbanner mit den Namen des Dynamo-Vorstands, in der Mitte Maas: JAGT DIE SCHWEINE AUS DER STADT. Ansonsten edler Frieden.
Der klassische Hooliganismus, wo es ihn noch gibt, spielt sich längst jenseits der Stadien ab. Die Kämpfer verschiedener Vereine verabreden sich auf der grünen Wiese und hauen sich auf die Mappe, bis der Sieger feststeht. Es handelt sich um Körperverletzung mit gegenseitigem Einverständnis. Auch Ärzte und Rechtsanwälte genießen in solchen Fightklubs ihr Schöpplein Doppelleben.
Ultras hingegen sind provokant Liebende. Sie leben radikal für ihren Verein, sie machen Stimmung im Stadion. Gewalt ist keine Ultrapriorität, doch wenn sich ein gegnerischer Mob formiert, rennt man nicht weg. In der Dresdner Ultraszene gibt es Linke, Rechte, Indifferente und die Übereinkunft, dass Politik nicht ins Stadion gehöre. Dynamo eint alle, aber wenn am 13. Februar die Rechte gegen den »Bomben-Holocaust« marschiert und die Antifa dagegen, sieht man sich in getrennten Lagern.
»Pöbelkultur«, klagt Maas ? »Maas töten«, kontern die Fans
Dynamo startete eine Anti-Gewalt-Kampagne. Bernd Maas setzte eine rigorose Stadionordnung durch. Mit Thor-Steinar-Outfit, der Kleidung der Rechten, kommt bei Dynamo niemand mehr rein. Wen die Einlasser mit Pyrotechnik, Sturmhaube, Quarzhandschuhen erwischen, der kriegt Stadionverbot ? für ein Jahr, drei Jahre, fünf Jahre. Kein deutscher Verein hat so viele Stadionverbote verhängt wie Dynamo Dresden. Etwa 450 sind derzeit in Kraft; sie gelten bundesweit. Es gibt Dynamo-Besessene, die bis 2013 von ihrem Lebensinhalt abgeschnitten sind.
Bernd Maas ist ein jungenhafter Mann von Ende dreißig. Seine wirtschaftliche Vernunft wirkt etwas ausgeprägter als sein Sozialgeschick. Die Anti-Maas-Stimmung eskalierte, als der Geschäftsführer am Fanblock eine heilige Zaunfahne herunterreißen ließ; sie hing vorschriftswidrige 30 Zentimeter zu hoch. Danach prangte nahe dem Stadion die Parole: MAAS TÖTEN. Maas sagt: Hier herrscht eine Pöbelkultur, die ich aus dem Westen so nicht kenne.
Was Maas fehlt, ist der Dresdner Stallgeruch. Den hat Ralf Minge, der sportliche Leiter, eine Ikone des Sesshaftigkeits-Fußballs der DDR. Zwölf Jahre hat er als Dynamo-Mittelstürmer die Strafräume gepflügt. In seinem ersten Spiel traf er nach sechs Sekunden. Für kein Bankkonto, sagt er, würde ich diese Zeit tauschen. Du kanntest damals so viele Menschen auf den Rängen ? deinen Bananenhändler, deinen Gemüseverkäufer, den Mann, der dein Auto reparierte. Denen wolltest du auf dem Platz was zurückgeben.
Minge wurde Trainer, er ging nach Leverkusen und Georgien und studierte ein paar Semester Psychologie. Den heutigen Markt-Fußball mag er nicht verdammen. Dynamo-Tradition heißt höchster sportlicher Anspruch, sagt Minge. Dazu brauche ich Geld: die Werbebande, den Hauptsponsor, die VIP-Loge. Sonst müssen wir sagen: Wir machen ?ne Volkssportgruppe und leben nur den Werten.
Etliche Ost-West-Unterschiede wirken fort. Im Westfußball wird das Geld nicht alle, im Ostfußball ist die Finanzdecke so dünn, dass jeder Schnupfen zur Lungenentzündung führt. Westklubs sind gefestigte Vereine bürgerlichen Rechts mit gesellschaftlicher Reputation und wirtschaftlichen Wurzeln. In Dresden sitzt keine Konzernleitung, kein Großsponsor, und auch die politischen Westzuzügler hatten mit Dynamo nichts im Sinn.
Professor Oppitz, der Ehrenpräsident, wird auch der Satzungspapst genannt. Klare Trennlinien verlangt er. Der Mitgliederverein Dynamo müsse demokratisch leben, mit Diskussionsplattformen, Wahlen et cetera. Das Sportunternehmen Dynamo hingegen brauche straffe wirtschaftliche Führung.
Volker Oppitz gibt es zweimal. Oppitz junior war Dynamos Kapitän, derzeit sind die Knie kaputt. Ein reizender großer Junge erwartet uns im Café, ein seltsamer Fußballer, dem sein Studium wichtiger war als der Sport. Im Team hieß er Professor, der Trainer mahnte ihn ständig zu mehr Aggressivität. Oppitz hat einen Sensus für Fangefühle und ein Herz für jene, die Dynamo ihr letztes Hemd opfern. Jeglicher Gewalt abhold, teilt er doch die Skepsis gegen die schier unaufhaltsame Kommerzialisierung.
In den sterbenden Dörfern um Dresden hat das Leben einen Sinn: Dynamo
Denn darum geht es letztlich im Dresdner Kulturkampf: um das Volkseigentum Fußball. Um die Verteidigung der Heimat gegen globalisierten Entertainment-Sport mit biederbürgerlichem Klatschpublikum. Um Liebe, die man leben und erleiden muss, aber niemals kaufen kann. Um Jugend, Leidenschaft, Guerillaromantik und Desperadostolz. Um eine Illusion von Gegenwelt, die Staat und Polizei als rechtsfreien Raum observieren und bekämpfen, worauf die Verdächtigten rufen: Fußballfans sind keine Verbrecher! Mit einem riesigen Transparent sind sie durch Dresden marschiert: OSTDEUTSCH LEBEN ODER WESTDEUTSCH STERBEN. Es gibt viel ostdeutsches Sterben ? in den Trinkstuben von Prohlis, Cotta, Gorbitz, in den ausblutenden Dörfern des Dresdner Hinterlands. Hier hat das Leben einen Sinn: Dynamo.
Vieles muss unerzählt bleiben: Dixie Dörners Kränkung, dass ihn der Verein nicht ruft. Jens Genschmars Dynamo-Museum in der Hauptstraße 7. Die Arbeit des Fanprojekts, dessen Aktivisten Torsten Rudolph und Christian Kabs sich der gemäßigten Fans annehmen, die auch in Dresden die Mehrheit bilden. Wir trafen Benjamin Merkel von der Fan-Initiative 1953 international (1953international.de), der uns von Aktionen gegen Rassismus, Sexismus, Rechtsradikalismus erzählte und fand, eine blutige Lippe sei ein besseres Gefühl, als die Klappe zu halten. Auch das Hauptquartier der Ultras (ultras-dynamo.de) haben wir besucht, in der urbanen Pampa, am Lagerfeuer. Die Namen taten nichts zur Sache, doch es gab offene Worte und Hühnerfrikassee. Die Jungs zeigten ihren Kraftraum und präsentierten stolz ihr neues Transparent, das für Dynamos Medienpartner Bild und Morgenpost wirbt: IRRE! UNSERE LESER SIND ZU 100 % VERBLÖDET!
Das Schönste kam zum Schluss. Wir trafen die Altrecken Wolle und Nähse, zwei ruhmbedeckte Dynamo-Hauer, die alles hinter sich haben, natürlich auch den Mythos schlechthin: die Schlacht von Belgrad. Damals, 1991, knüppelten 2000 Serben auf ein paar Dutzend Dresdner ein. Beim Rückspiel gegen Roter Stern ging?s andersrum. Das Spiel wurde abgebrochen, Dynamo ist immer noch für den Europapokal gesperrt. Ach, und die Zaunlattendrescherei in Jena, und die Scherbe beim BFC, wie mir das Auge raushing, Wolle, weeßte noch?
Warum kloppt man sich?
Adrenalin ohne Ende, sagte Wolle. Geil. Na, jetzt sind wir ruhiger. Wenn man die alten Gegner sieht, grüßt man sich respektvoll von Kurve zu Kurve. ? Jetzt läuft mein Kleener in der ersten Reihe, sagte Nähse. Ich bin stolz, die Frau tobt.
Heute hegen Wolle und Nähse eine zweite Liebe: das Rennpferd El Victoria. Es startet unter Stall Dynamo, mit einem schicken Trikot. Wenn El Victoria mal nicht mehr rennen kann, bekommt sie Gnadenbrot. Wir schickense nich zum Fleescher, sagte Wolle. Wir hamm ein Herz. Bei uns darf auch das töteste Tier weiterleben.