Heute antwortet uns die Opferperspektive Brandenburg.
1. Was waren die wichtigsten Ereignisse in Ihrem Bundesland 2011, bezogen auf
Rechtsextremismus, Rassismus, Antisemitismus?
Als stärkster Akteur im extrem rechten Spektrum hat sich 2011 die Szene aus NPD und Kameradschaften weiter verfestigen können. Das subkulturell- und aktionsorientierte Spektrum bleibt in Brandenburg dominant. 2011 fanden sechs von acht geplanten neonazistischen Demonstrationen statt. Die Arbeit in kommunalen Parlamenten, Veröffentlichungen und Flugblattagitation bleiben tendenziell Nebenschauplatz.
In Südbrandenburg hat das betont NPD-ferne Kameradschaftsnetzwerk „Spreelichter“ seinen Einfluss ausbauen können. Sie propagieren die Parole „Die Demokraten bringen uns den Volkstod“ und inszenieren dies. In der Nacht zum ersten Mai demonstrierten die „Spreelichter“ mit weißen Masken und Fackeln unangemeldet in Bautzen (Sachsen). Das war Startschuss für ihre neue Kampagne, bei der die Figur des weiß-maskierten „Unsterblichen“ entworfen wurde. Dies findet
bundesweit in der Neonaziszene Beachtung und wird an vielen Orten adaptiert.
Die Stadt Neuruppin war in diesem Jahr gleich zweimal Schauplatz von Aufmarschversuchen der Kameradschaft „Freie Kräfte Neuruppin / Osthavelland“. Beim ersten Antritt im Juli wurde die Demo nach wenigen hundert Metern von einer Sitzblockade gestoppt und zum Umkehren gezwungen. Im September gab es erneut eine Sitzblockade. Leider wurde diese von der Polizei eingekesselt und handfest geräumt. Gegen rund 320 friedliche Sitzblockierer wird derzeit ermittelt.
Das rabiate Vorgehen der Polizei wurde wochenlang kontrovers in der Brandenburger Landespolitik diskutiert.
Im Oktober hielt die NPD erneut den „Preußentag“, ein Nazirockfestival, in Finowfurt ab. Ihr Schulterschluss mit dem rechten subkulturellen Spektrum wurde damit verfestigt. Der Bundesparteitag im November, bei dem Holger Apfel den früheren Bundeschef Udo Voigt ablöste, fand im nordwestbrandenburgischen Neuruppin statt. Dort schaffte auch Ronny Zasowk, NPD-Mandatsträger im Süden des Landes, den Sprung in die Ränge der Bundesfunktionäre.
Im April diesen Jahres wurde die Kameradschaft „Freie Kräfte Teltow-Fläming“ verboten. Dadurch ist der Bewegungsspielraum der Szene im Landkreis zumindest momentan eingeengt. Einer der führenden Köpfe der Gruppe wurde Ende November zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Er hatte 2010 einen Szenemitläufer angestiftet, das „Haus der Demokratie“ in Zossen niederzubrennen.
Ein weiterhin wichtiger Kristallisationspunkt sind Immobilien, die für Szeneveranstaltungen genutzt werden. So hat 2011 etwa ein „Nationales Jugendzentrum“ in Märkisch Buchholz eröffnet. Erfreulich ist, dass es in dem kleinen Ort kräftigen Widerstand auf der zivilgesellschaftlichen und der administrativen Ebene gibt. Weitere Immobilien mit einer gewissen Ausstrahlungskraft sind beispielsweise: ein Reiterhof in Blumberg (betrieben von einem Neonazi-Pärchen), ein Grundstück in der Schorfheide (Schauplatz des „Preußentags“) sowie ein Haus in Biesenthal (dort soll unter anderem eine Sonnenwendfeier am 17. Dezember stattfinden).
Die Aufdeckung der NSU-Mordserie ist nicht spurlos am Land Brandenburg vorbeigegangen. In Grabow, einem Örtchen in Potsdam-Mittelmark, wurde der Zwickauer Andre E. als mutmaßlicher NSU-Unterstützer festgenommen. Er war zu dieser Zeit auf dem Grundstück seines Zwillings Maik E. zu Besuch. Maik E. ist ein Anführer der Kameradschaftsszene in Potsdam, die sich ebenfalls an der „Volkstod“-Kampagne der „Spreelichter“ orientiert.
2. Wie sind die Erwartungen für 2012?
Es zeigt sich eine sinkende Tendenz der Angriffszahlen für 2011 im Vergleich zum Vorjahr. Die genauen Zahlen stehen noch nicht fest. Wenn sich diese Prognose bewahrheitet, wäre das natürlich eine wunderbare Nachricht. Dennoch: Das Potenzial an gewaltbereiten Rechten ist im Land weiter beunruhigend groß. Es besteht nach wie vor die Gefahr, in Brandenburg wegen der Hautfarbe, des Aussehens oder des politischen Engagements gegen Rechts angegriffen zu werden.
Sorgen bereitet uns der Südosten Brandenburgs, beispielsweise Cottbus. Auch wissen wir von einer Reihe von Übergriffen auf politisch aktive Personen in Potsdam. Insgesamt gibt es ein großes Dunkelfeld, da nicht immer alle Angriffe angezeigt werden.
Für uns ist daher eine dauerhafte und langfristige Finanzierung der Projekte die gegen rechte Gewalt, Rassismus und im Bereich der Opferberatung bearbeiten unablässig. Es muss weiterhin gewährleistet sein, dass die Betroffenen unterstützt und begleitet werden.
Als eine Konsequenz aus dem Skandal um die NSU-Morde erwarten wir von der Bundesregierung eine Überprüfung der Opferzahlen rechter Gewalt. In Brandenburg gibt es seit 1990 27 Todesopfer rechter Gewalt, offiziell anerkannt werden bisher nur neun. Im Bundestag wurde Anfang Dezember ein Antrag der LINKEN und Grünen zur Überprüfung der Opferzahlen rechter Gewalt durch die Gegenstimmen von CDU/CSU und FDP unter der Enthaltung der SPD abgelehnt. Die Verweigerung der Anerkennung von Motivation und Gesinnung der Täter, kann nicht länger hingenommen werden.
Mehr im Internet:
Mehr auf netz-gegen-nazis.de:
Jahresrückblicke 2011
| Baden-Württemberg: Gewalttätige und bewaffnete Nazi-Strukturen
| Berlin: Brandanschläge und verheimlichte Demonstrationen
| Brandenburg: „Spreelichter“ und „Unsterbliche“
| Hamburg: Rechtsextreme PR-Offensive
| Sachsen: Ein Todesopfer, eine Terrozelle und viele Nazi-Events
| Schleswig-Holstein: Legitimationsstrategie im Landtagswahlkampf
2010
| Jahresrückblick 2010 ? Totalkollaps der DVU und Kameradschaftsauflösung in Brandenburg