1.Themenfelder der extremen Rechten
Auch in Schleswig-Holstein dominierten die zunehmenden rechtsextremen Aktivitäten gegen Geflüchtete, deren Unterkünfte und Engagierte im Kontext Flucht und Asyl das Jahr 2015. So kam es zu Brandanschlägen auf mehrere geplante und eine bewohnte Unterkunft für Asylsuchende, tätliche und verbale Angriffe auf Geflüchtete und eine zunehmende Mobilisierungsfähigkeit der extremen Rechten.
Bundesweite Beachtung fand dabei insbesondere der Brandanschlag eines Finanzbeamten auf eine unbewohnte Unterkunft für Asylsuchende in Escheburg. Der Familienvater, der keinerlei Kontakte in die rechtsextreme Szene hatte, versuchte sein Nachbarshaus anzuzünden, um so zu verhindern, dass dort sechs Geflüchtete einziehen können. Im Mai wurde der Mann zu einer Bewährungsstrafe von zwei Jahren verurteilt. Der Anschlag in Escheburg kann als Teil einer alarmierenden Entwicklung angesehen werden, bei der immer mehr Menschen, die nicht in der rechtsextremen Szene organisiert sind und häufig aus der direkten Nachbarschaft von Unterkünften kommen, über die Äußerung von rassistischen Vorurteilen hinaus zu Mitteln der Gewalt gegen Geflüchtete und ihre Unterkünfte greifen. Weitere Anschläge auf Unterkünfte für Asylsuchende gab es darüber hinaus etwa in Flensburg und Heide. Zu tätlichen Übergriffen auf Geflüchtete kam es unter anderem in Lunden im Kreis Dithmarschen und in Lübeck, wo mutmaßlich Rechtsextreme der selbsternannten „Division Schleswig-Holstein“ einen syrischen Asylbewerber verletzten. Auch Menschen, die Geflüchtete unterstützen, gerieten immer wieder in den Fokus der extremen Rechten und anderer RassistInnen. So wurde etwa der Bürgermeister von Glücksstadt aufgrund seines Engagements bedroht, auf der Facebookseite der Feuerwehr Neumünster kam es zu einer Vielzahl rassistischer Kommentare, nachdem Angehörige der Feuerwehr bei der Errichtung einer Notunterkunft geholfen hatten.
Die Themen Flucht und Asyl dominierten auch Aktionen und Mobilisierung der extremen Rechten. Zum ersten Mal seit 2012 gelang es wieder, eine rechtsextreme Demonstration zu organisieren: Unter dem Motto „Neumünster wehrt sich“ zogen etwa 90 Menschen durch Neumünster. Darüber hinaus versuchte fast das gesamte rechte Spektrum das Thema für sich zu vereinnahmen. So organisierte die NPD in verschiedenen Kreisen Flugblattaktionen und Infostände unter dem Motto „Asylflut stoppen“ und die sogenannten „freien“ (wenngleich NPD-nahen) Kräfte der „Jugend für Pinneberg“ waren an lokalen Aktionen gegen den „Völkermord an den Völkern Europas“ beteiligt. Die identiäre Gruppe „Identitas“ aus Ostholstein führte eine Protestaktion gegen „den großen Austausch“, also das angeblich drohende Verschwinden der „deutschen“ Bevölkerung durch eine imaginierte „Überfremdung“, durch. Wie in anderen Bundesländern gründeten sich im Jahr 2015 viele Facebookgruppen unter dem Titel „XY wehrt sich“, z.B. in Neumünster, Kiel, Dithmarschen und Burg. Die bereits genannte Demonstration in Neumünster entwickelte sich aus einer solchen Gruppe (siehe unten). Pegida-nahe Online-Gruppen spielten ebenfalls vermehrt eine Rolle. In Kiel wurde im Januar 2015 aus diesem Spektrum eine Demonstration angemeldet, dann aber wieder zurückgezogen.
Über das Thema Flucht und Asyl inzwischen beinahe in Vergessenheit geraten sind die im letzten Jahr in Schleswig-Holstein noch sehr aktiven, häufig rechtsoffenen „Montagsmahnwachen für den Frieden“. Anlässlich der G7-Aussenministerkonferenz im April organisierte der Lübecker Ableger eine Kundgebung, bei der auch die verschwörungstheoretische Gruppe „Die Bandbreite“ auftrat, die den 11. September 2001 für einen „Inside Job“ der US-Geheimdienste hält und sich positiv auf den Querfrontler Jürgen Elsässer bezieht. Trotz dieser in entsprechenden Kreisen beliebten Unterstützung verschwanden die Montagsmahnwachen in Schleswig-Holstein seitdem wieder in der Bedeutungslosigkeit.
Die Aktivitäten der extremen Rechten rund um die Bombardierung Lübecks im Jahr 1942 stagnieren nach wie vor auf niedrigem Niveau. Bis einschließlich 2012 hatte die NPD jahrelang Aufmärsche organisiert, um an den vermeintlichen „Bombenterror“ zu erinnern. In diesem Jahr beschränkten sich die Aktivitäten auf das Verteilen von Flugblättern und szeneinternes „Gedenken“.
2.Rechtsextreme und rechtspopulistische Akteure
Trotz der sich langsam zurückentwickelnde Aktionsfähigkeit der extremen Rechten ist die Szene in Schleswig-Holstein nach wie vor als schwach zu bezeichnen. So schaffte es die NPD im November 2015 zu zwei angemeldeten Kundgebungen jeweils nur, fünf Teilnehmer zu mobilisieren. Allerdings zeichnet sich die Intensivierung von Vernetzungsprozessen nach Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern ab. So versuchen sich Lennart Schwarzbach, der ehemalige NPD-Spitzenkandidat zur Hamburger Bürgerschaftswahl 2015, und Simon Haltenhof, der NPD-Vorsitzenden des Kreisverbandes Herzogtum Lauenburg / Stormarn, seit 2015 im Aufbau der JN Nordland. Die Gruppe der „Jungen Nationaldemokraten“, der Jugendorganisation der NPD, soll sowohl in Schleswig-Holstein als auch in Hamburg Jugendliche für rechtsextreme Politikformen mobilisieren. Die „JN Nordland“ organisierte 2015 Flugblattverteilungen, Müllsammel-Aktionen oder auch Reisen zu bundesweiten Aufmärschen der rechtsextremen Szene.
Gut vernetzt ist der erwähnte Haltenhof auch mit „freien Kräften“ in der Region, mit denen gemeinsam unter anderem Flugblattverteilaktionen durchgeführt wurden. Auf dem Szeneportal der „freien Kräfte“, der Homepage „Nationaler Widerstand Schleswig-Holstein“, lassen sich darüber hinaus überwiegend Berichte zu Demobesuchen außerhalb Schleswig-Holsteins oder zu Ausflügen sowie zu klandestinen Gedenkveranstaltungen finden. Größere eigene Aktionen konnten von diesem Teil der extremen Rechten nicht organisiert werden.
Lokale öffentlichkeitswirksame Aktionen identitärer Gruppen beschränken sich auf die oben bereits erwähnte Aktion der Gruppe „Identitas“: Nach einer Kundgebung auf dem Eutiner Marktplatz wurde sich an einer „Besetzungsaktion“ (faktisch wurde nur der Balkon kurzzeitig symbolisch besetzt) der SPD-Zentrale in Hamburg beteiligt, um auf den angeblichen „Bevölkerungsaustausch“ aufmerksam zu machen. Dokumentierte die Gruppe darüber hinaus in der ersten Jahreshälfte noch ihre Teilnahme an einer Vielzahl von überregionalen Aktionen, so wurde es ab Mitte August eher ruhig. Lediglich verklebte Aufkleber und eine geringe Zahl an Facebook-Postings zeugen noch von der Aktivität von Identitären in Schleswig-Holstein.
Nicht ganz eindeutig einem Akteur zuordnen lassen sich Facebookgruppen wie die oben erwähnten, etwa unter dem Titel „XY wehrt sich“ auftretenden Gruppen. Mit dieser Art von Onlineaktivität lassen sich innerhalb von kürzester Zeit Hunderte Mitglieder rekrutieren. Diese Facebookgruppen werden häufig von bekannten Rechtsextremisten ins Leben gerufen und administriert, allerdings speisen sich ihre Mitglieder aus weitaus breiteren Teilen der Gesellschaft. Häufig findet sich in den Gruppen ein Mix aus bundesweit aktiven Rechtsextremisten, Mitgliedern von lokalen Freien Kameradschaften, subkulturell geprägten Neonazis aus der jeweiligen Region, rechtsextremen „Einzelkämpfern“ und „Nachbarn“, die für sich jede Verbindung zu Rechtsextremismus abstreiten würden und stattdessen für sich in Anspruch nehmen, nur aus „Sorge“ um ihren Heimatort in den Gruppen zu sein. Im Falle des bereits erwähnten Aufmarsches aus dem Umfeld der Gruppe „Neumünster wehrt sich“ ging die Initiative von mehreren landesweit aktiven, aber nicht NPD-gebundenen Rechtsextremen aus Neumünster und Ostholstein aus. Ab Januar sind weitere Demonstrationen in der Stadt geplant.
Die rechtspopulistische AfD Schleswig-Holstein konnte nach einer Phase der Umstrukturierung mit dem Thema Asyl erneut an Fahrt gewinnen. Nach dem Parteiaustritt Bernd Luckes auf Bundesebene und der Neugründung der Partei ALFA verließen auch die Landesvorsitzende der AfD Schleswig-Holstein Ulrike Trebsius und ihr Stellvertreter Joost die AfD. Der neue AfD-Vorstand nutzt das Thema Flucht, um sich von den so genannten „Altparteien“ abzugrenzen. Dabei werden emotionalisierende Szenarien entworfen: So sieht Markus Scheb, einer der beiden Vorsitzenden in Schleswig-Holstein, momentan einen „Strom der Völkerwanderung“ über Deutschland hereinbrechen. Die AfD Schleswig-Holstein beteiligte sich an der bundesweit stattfindenden Kampagne der AfD, der sogenannten „Herbstoffensive“ unter dem Motto „Asylchaos stoppen – Eurokrise beenden“. In diesem Zusammenhang fanden über 40 Infotische und Abendveranstaltungen statt. Für Aufsehen sorgte in diesem Jahr eine Auseinandersetzung auf dem Parteitag des Kreisverbandes Herzogtum-Lauenburg: Dort kam es zu hitzigen Diskussionen, nachdem der Kreisvorstand einem Mitglied die Veröffentlichung einer antisemitischen Karikatur vorgeworfen hatte, sich viele der anwesenden AfDlerInnen aber mit diesem solidarisierten. Selbiger Kreisverband war es auch, der im Oktober den Ex-NPDler und Kreistagsabgeordneten Kay Oelke bei seinem Stammtisch empfing. Bereits 2014 hatte die AfD in Schleswig-Holstein für Diskussionen gesorgt, weil ein Kreissprecher bei einer Veranstaltung den Holocaust relativiert hatte.
3.Gegenaktivitäten
Zwar wittert die extreme Rechte auch in Schleswig-Holstein Morgenluft, doch hat die Zivilgesellschaft im Jahr 2015 deutliche Zeichen gegen Rechtsextremismus gesetzt. Aufgrund dieser Gegenwehr fanden Mobilisierungen Rechtsextremer überwiegend im Internet statt, auf die Straße dagegen schafften sie es selten. Beim oben genannten einzig erfolgreichen Aufmarsch der extremen Rechten in Neumünster folgten etwa 250 GegendemonstratInnen den Aufrufen des Runden Tischs für Toleranz und Demokratie und diverser antifaschistischer Gruppen aus Schleswig-Holstein und zeigten den Neonazis, dass rechtsextreme Aufmärsche nicht ohne Gegenwehr bleiben würden. Aufgrund von Blockaden endete die Demonstration „Neumünster wehrt sich“ schon nach wenigen Metern. Darüber hinaus gingen in Kiel Anfang des Jahres 11 000 Menschen gegen einen geplanten Aufmarsch von Pegida Kiel auf die Straße, in Flensburg setzten 3000 Menschen ein Zeichen gegen Pegida und Co. Neben zahlreichen Initiativen gegen Rechts engagieren sich auch immer mehr Menschen im Bereich der Hilfe für Geflüchtete und stellen sich mit praktischer Solidarität dem Hass von Rechts entgegen. Selbst in kleinen Orten gründen sich Helferkreise und helfen im Alltag, bei Behördengängen, usw. Auch auf der Beratungsebene hat sich etwas getan: So nahm in diesem Jahr der Verein zebra e.V. seine Arbeit als Beratungsstelle für Betroffene, Angehörige und ZeugInnen nach rassistischen, antisemitischen und anderen rechtsmotivierten Angriffen auf.
In wieweit sich die geplanten Aufmärsche der extremen Rechten im Jahr 2016 werden etablieren können, wird auch von der Kontinuität der Arbeit der Zivilgesellschaft abhängen.
Mehr zur mobilen Beratung in Schleswig-Holstein:
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