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Jahresrückblick 2020 Berlin

Reichsbürgerkundgebung im August in Berlin (Quelle: Berlin gegen Nazis)

 

Verstörendes Miteinander von Pandemie-Leugner*innen – Das Jahr 2020 in der Hauptstadt im Zeichen von Corona 

Die Corona-Pandemie hatte 2020 das gesellschaftliche Leben in Berlin über weite Strecken fest im Griff. So überrascht es nicht, dass die verschwörungsideologische Agitation gegen staatliche Maßnahmen zur Eindämmung der Infektionen auch zum bestimmenden Mobilisierungsthema rechtsextremer und rechtspopulistischer Akteur*innen wurde. Neben Politik und Medien rückte mit der Wissenschaft ein weiteres Feindbild verstärkt in den Fokus. Dass sich Pandemie-Leugner*innen dabei nicht nur auf Versammlungen beschränken, zeigte sich Ende Oktober: Unbekannte warfen in der Nacht Brandsätze auf ein Gebäude des Robert-Koch-Instituts, der zentralen Einrichtung der Bundesregierung auf dem Gebiet der Krankheitsüberwachung und -prävention (vgl. taz). Es existiert ein Bekennerschreiben, das die Tat in den Zusammenhang rechter Kritik an den staatlichen Anti-Corona-Maßnahmen stellt.

Berlin als Ausgangspunkt und Zentrum rechtsoffener Corona-Proteste

Bereits im März 2020 begannen auf dem Rosa-Luxemburg-Platz sog. „Hygiene-Demos“ gegen die Einschränkungen im Zuge der Corona-Pandemie, die aufgrund der zu dieser Zeit geltenden Versammlungsverbote zwar bis zuletzt untersagt waren, jedoch schnell eine überregionale Strahlkraft entwickelten und die als eine der Initialaktionen der späteren bundesweiten Corona-Proteste gewertet werden müssen. Aufgerufen zu diesen Ansammlungen, bei denen sich in der Spitze eine vierstellige Anzahl an Teilnehmenden einfand, hatte die Gruppe „Kommunikationsstelle Demokratischer Widerstand“ (KDW). Ihre Protagonist*innen stammen zum Teil aus dem Umfeld der Berliner Kulturszene und taten sich seit Beginn der Versammlungen durch die von ihnen herausgegebene verschwörungsideologische Zeitung „Demokratischer Widerstand“ hervor. Sie wurden bereits früh von führenden Vertreter*innen verschwörungsideologischer selbsternannter „Alternativmedien“ unterstützt. Die rechtsextremen und rechtspopulistischen Medienaktivist*innen nahmen wichtige Brückenfunktionen ein, gerade weil es keine festen Organisationsstrukturen gab. Dass mitunter ideologisch heterogene Teilnehmendenspektrum sollte dabei nicht darüber hinwegtäuschen, dass keine – wie oft behauptet – „Unterwanderung“ der Proteste am Rosa-Luxemburg-Platz stattgefunden hat. Vielmehr waren Rechtsextreme und Anhänger*innen von Verschwörungsideologien von Beginn an Bestandteil der Aktionen und weitestgehend widerspruchsfrei akzeptierte Mitstreiter*innen. Klassisch rechtsextremen Akteur*innen und Gruppierungen gelang es aber insgesamt nur sehr bedingt, prägenden Einfluss auf das Protestgeschehen zu nehmen. Soweit bekannt, waren diese Akteur*innen jedenfalls nicht federführend in die Organisation der Versammlungen eingebunden. 

Im Mai 2020 kam es in Berlin bei den „Hygiene-Demos“ erstmals zu größeren Auseinandersetzungen von Teilnehmenden mit der Polizei, gleichzeitig war eine Aufteilung auf verschiedene Veranstaltungen in diesem Milieu zu beobachten (vgl. rbb). Bei diesen Auseinandersetzungen wurde auch in Berlin eine Beteiligung rechtsextremer Hooligans sichtbar. Die Gruppe KDW, die auch unter dem Label „nicht ohne uns“ agiert, mobilisierte nicht nur zu den eigenen Veranstaltungen, sondern unternahm bereits früh den Versuch, bundesweit Proteste lokaler Ableger zu initiieren. Mit der Etablierung des Labels „Querdenken“ und der dahinterstehenden Organisationsstruktur scheiterten diese Bestrebungen aus Berlin allerdings. Die Akteur*innen rund um die Gruppe KDW büßten ihre Strahlkraft ein und radikalisierten sich zunehmend. Es lässt sich am Ende des Jahres 2020 festhalten, dass die Berliner Strukturen aus dem Spektrum der Pandemie-Leugner*innen ohne die Beteiligung auswärtiger Akteur*innen selten eine dreistellige Zahl an Teilnehmenden zu ihren Aktionen mobilisieren konnten.

Wie bei vergleichbaren rechten und rechtsoffenen Mobilisierungen in den vergangenen Jahren ist auch im Zuge der „Corona-Proteste“ zu beobachten, dass auswärtige Akteur*innen mit unterschiedlich starker Mobilisierungsfähigkeit Berlin aufgrund des Status als Hauptstadt und Regierungssitz bewusst als Veranstaltungsort wählen. Maßgeblich vorangetrieben von der „Querdenken“-Struktur mit Ursprung und organisatorischem Kern in Baden-Württemberg – wenn auch teilweise im Bündnis und unter Beteiligung Berliner Akteur*innen – fanden im August 2020 zwei bundesweite Großmobilisierungen nach Berlin statt, denen jeweils eine deutlich fünfstellige Zahl Teilnehmender folgten. Mitte November fand anlässlich der Abstimmungen zur Novellierung des Infektionsschutzgesetzes im Bundestag eine „Tag X“-Mobilisierung in die Umgebung des Reichstages statt, die ebenfalls überregional angelegt war.

Die zunehmende Verbreitung Corona-bezogener Verschwörungserzählungen spiegelte sich auch in den Bedarfen, mit denen Beratungssuchende an die MBR herantraten. Es verstärkte sich eine bereits im Jahresrückblick für das Jahr 2019 geschilderte Entwicklung, die viele Berliner*innen vor neue Herausforderungen stellt. Die Auseinandersetzung mit verschwörungsideologischen und antisemitischen Äußerungen hat auch abseits der Versammlungen stärkeren Einzug in den Alltag gefunden. Eine besondere Belastung entsteht, wenn die Konfrontation mit derartigen ideologischen Versatzstücken enge familiäre Kontexte oder gar Partnerschaften betrifft. Ab dem Frühjahr erreichten die Mobile Beratung gehäuft Anfragen mit einem solchen Hintergrund. Schwerpunkt der Beratungen waren neben einer Einschätzung des Einbindungsgrads der Personen in verschwörungsideologische Zusammenhänge vor allem die Bestärkung, die Beziehungsebene zu nutzen, um sich z.B. von Antisemitismus abzugrenzen, zu widersprechen und die Auseinandersetzung soweit wie möglich weiterzuführen – allerdings unter Beachtung der eigenen Grenzen und der (auch psychischen) Gesundheit. Auch Unternehmen, Parteien und Medien wandten sich angesichts einer großen Unübersichtlichkeit und der weiten Verbreitung verschwörungsideologischer und rechter Narrative an die MBR. Die Nachfrage nach Fortbildungen und Einordnungen (etwa zur Orientierung im „verstörenden Miteinander“ der verschiedenen Akteur*innen) war groß.

Akteur*innen bei den „Querdenken“-Versammlungen und ihr gemeinsamer ideologischer Nenner: Corona-bezogene Verschwörungserzählungen und Bagatellisierung der Verbrechen des Nationalsozialismus

Mit den im Zuge der Pandemie entstandenen Ansätzen einer neuen Ausformung der politischen Bewegung von rechts ist es gelungen, unterschiedlichste politische Spektren zu vereinen. Die mit dem Label „Querdenken“ assoziierten Protestmilieus vereinen insbesondere die Verbreitung von (in Teilen offen antisemitischen) Verschwörungserzählungen, regelmäßige Relativierungen des Nationalsozialismus sowie die Akzeptanz der Teilnahme von Akteur*innen der rechtsextremen Szene. Differenzen in anderen politischen Feldern, widersprüchliche Gesellschaftskonzeptionen und konträre politische Selbstverortungen werden für die Dauer der Mobilisierung zu Gunsten des gemeinsamen Feindbildes zurückgestellt: die angebliche „Corona-Diktatur“. Die Spanne des auf der Straße versammelten Spektrums reicht von Corona-Leugner*innen, Impfgegner*innen, augenscheinlich esoterischen Milieus, Pegida-Anhänger*innen und Mitgliedern evangelikaler Freikirchen über Teilnehmende der „Montagsmahnwachen für den Frieden“, Vertreter*innen verschwörungsideologischer „Alternativmedien“, QAnon-Gläubigen „Reichsbürgern“, AfD-Mitgliedern und -Mandatsträger*innen bis hin zu klassischen Rechtsextremen und einer rechten Mischszene aus Hooligans, Gewaltprofis und „Bürgerwehren“. Bemerkenswert war die häufige Nutzung einer im Kontext des Nationalsozialismus geprägten Terminologie und Bildsprache, die im eigenen Sinne ideologisch umgedeutet wird. Dazu zählen kontinuierliche begriffliche Gleichsetzungen der Verordnungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie mit dem Ermächtigungsgesetz oder die bagatellisierende Aneignung der Verfolgungsgeschichte von Jüdinnen und Juden im Nationalsozialismus durch die Verwendung von „Judensternen“. Diese Verharmlosungen des Nationalsozialismus sind anschlussfähig an den von rechts mit wachsender Vehemenz geführten Kulturkampf um die Deutung von Geschichte und reihen sich ein in eine regelrechte Welle von Angriffen auf die Gedenk- und Geschichtskultur in Deutschland. Ausgehend von der Erkenntnis, dass die Frage, was und wie erinnert wird, die gesellschaftspolitische Ausrichtung der Gegenwart wesentlich mitbestimmt, ist neben Gedenkstätten und Museen auch der öffentliche Raum ein Schauplatz der Instrumentalisierung von Geschichte (vgl. MBR). In diesen Zusammenhang zu stellen sind auch bildgewaltige Inszenierungen, wie z.B. der „Sturm“ auf den Sitz des Deutschen Bundestages mit zahlreichen Reichsflaggen am 29. August 2020 oder die Selbstinszenierung eines viel beachteten Verschwörungsideologen auf den Treppen des Alten Museums.

Die zunehmende Radikalisierung sowohl bei Organisator*innen als auch Teilnehmenden seit dem Spätsommer, zusammen mit den andauernden Schwierigkeiten der Polizei, geeignete Mittel im Umgang mit den dynamischen Protestgeschehen zu finden, zeigt sich u.a. in gewalttätigen Aktionen gegen Feindbilder wie Journalist*innen, Maskenträger*innen und Polizist*innen, die nicht nur von Rechtsextremen ausgingen, in Berlin zuletzt am 18. November 2020 (vgl. tagesspiegel).  Rechtsextreme nutzen dabei die Möglichkeitsräume, die sich ihnen bieten.

Akteur*innen der Proteste gegen die Verabschiedung des Infektionsschutzgesetzes, die an diesem Tag anstand, waren auch Bundestags- und Landtagsabgeordnete der AfD. Wie schon bei den Versammlungen im August nahmen sie an den Aktionen rund um das Reichstagsgebäude teil und ermöglichten zudem Aktionen auch im Bundestag selbst. Für Aufsehen sorgten mehrere rechte Aktivist*innen, die überwiegend als Gäste von AfD-Abgeordneten in das Gebäude gelangt waren und die Abgeordnete und Mitglieder der Bundesregierung auf dem Weg zur Abstimmung bedrängten und dabei filmten. Das zeigt anschaulich das Zusammenwirken der rechtsoffenen Protestbewegungen auf der Straße mit einer rechtspopulistischen, in Teilen rechtsextremen Partei in den Parlamenten.

Die Berliner AfD im Pandemiejahr: Zwischen Orientierungssuche und alten Feindbildern

Nachdem sich die Berliner AfD, analog zur Bundespartei, zu Beginn der Einschränkungen des öffentlichen Lebens zunächst betont staatstragend gegeben hatte und Teil des überparteilichen Konsenses zur Eindämmung der Pandemie sein wollte, vollzog sie nach dieser kurzen Phase der Zurückhaltung einen strategischen Kurswechsel. Einzelne Mandatsträger*innen waren bereits frühzeitig bei den „Hygienedemonstrationen“ am Rosa-Luxemburg-Platz zugegen, und auch die Partei suchte wieder den zumindest argumentativen Schulterschluss zum Kernklientel, welches die Corona-Maßnahmen ablehnt. Die AfD versuchte fortan, die Corona-Pandemie zu nutzen, um bekannte rechtspopulistische, identitätspolitische Themen und Argumentationen im öffentlichen Diskurs zu halten und auf die aktuelle Situation anzupassen.

Die Corona-Pandemie traf den Landesverband in einem Jahr, das geprägt war von internen Zerwürfnissen und organisatorischen Schwierigkeiten. Da es der Berliner AfD im Jahr 2020 nicht gelungen ist, Räumlichkeiten für einen Parteitag zu finden, wird der Landesverband nach wie vor interimsmäßig von einem Notvorstand geführt. Laut Medienberichten traten seit Beginn der Corona-Pandemie rund 15 Prozent der Mitglieder in Berlin aus der Partei aus. Der Landesverband hatte zudem auch öffentlichkeitswirksame Abgänge von Mandatsträgern zu verkraften, die ihre Entscheidung auch mit rechtsextremen Vorfällen innerhalb der Partei begründeten (vgl. Deutschlandfunk). In der Bezirksverordnetenversammlung im Bezirk Neukölln verlor die AfD nach der Dezember-Sitzung in Folge von Austritten zuletzt den Fraktionsstatus (vgl. tagesspiegel).

Obgleich die AfD in Berlin politisch bisher nicht von der Corona-Krise profitieren konnte, versucht sie mittels einer Diffamierungsstrategie aus den Parlamenten und kommunalen Gremien heraus die Handlungs- und Entfaltungsmöglichkeiten der engagierten Zivilgesellschaft einzuschränken. Diese Strategie wird der MBR von Beratungsnehmenden schon seit längerem beschrieben: Unter dem Vorwand der parlamentarischen Kontrolle geraten sowohl im Landesparlament als auch in den Bezirksverordnetenversammlungen immer wieder Vereine, Verbände und insbesondere Jugendeinrichtungen, die sich im Rahmen ihrer politischen Bildungsarbeit kritisch mit Rechtsextremismus, Rechtspopulismus und Rassismus auseinandersetzen, unter Beschuss.

Die Anfeindungen sind vielfältig: Missbrauch parlamentarischer Anfragen und Anhörungen, Einsichtnahmen in Zuwendungsunterlagen und amtliche Register, öffentliche Diffamierungen in den Sozialen Medien und angebliche Kontrollbesuche, Versuche institutioneller Einflussnahme und Angriffe auf die Gemeinnützigkeit von Trägervereinen. In diesem Vorgehen rechtspopulistischer und rechtsextremer Mandatsträger*innen geht es weniger um die legitime Überprüfung staatlichen Handelns und vielmehr um die Durchsetzung der eigenen gesellschaftspolitischen Agenda. Es sind insbesondere öffentlich geförderte Einrichtungen, und hier zuvorderst soziale Organisationen mit geschlechterreflektierenden und diversitätsbewussten Ansätzen der Sozialen Arbeit, die u.a. mit Vorwürfen der Steuergeldverschwendung, einer mangelnden politischen „Neutralität“ und einer angeblichen Nähe zum „Linksextremismus“ überzogen werden. Als Resultat jahrelanger Beratungserfahrungen der MBR in diesem Bereich ist im November 2020 gemeinsam mit dem Paritätischen Gesamtverband die Handreichung „Druck aus den Parlamenten – Zum Umgang sozialer Organisationen mit Anfeindungen von rechts“ entstanden.

Alte und neue Anfeindungen von rechts: Digitale Attacken und analoge Feindeslisten 

Im Zuge der Corona-Pandemie hat sich das öffentliche Leben vielfach in den digitalen Raum verlagert. Viele Veranstaltungen und große Teile des politischen Engagements mussten im Jahr 2020 online stattfinden. Auch Störungen von Veranstaltungen gehören bereits seit langem zum Repertoire Rechtsextremer, und mit dem pandemiebedingten Wandel von Veranstaltungsformaten veränderten sich auch die Formen dieser Störungen. Zuerst in den USA und zunehmend auch in Deutschland wurden Fälle bekannt, in denen sich Störer*innen, offensichtlich mitunter koordiniert, in Online-Meetings einwählten, um diese durch Zwischenrufe und das Teilen volksverhetzender und verstörender Inhalte zu unterbrechen. Diese sog. „Zoom-Bombings“ richteten sich häufig gegen jüdische Veranstaltungen und Veranstaltungen zu Themen des jüdischen Lebens. Zu der Frage, wie auch im digitalen Bereich sichere Räume geschaffen und Online-Veranstaltungen und -Seminare geschützt werden können, erreichten die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin im Jahr 2020 verstärkt Anfragen.

Einen weiteren Arbeitsschwerpunkt der MBR bildeten seit Beginn des Jahres Beratungsanfragen zum Umgang mit persönlichen Bedrohungen. Ende 2019 konnte die Berliner Polizei auf einer im Vorjahr bei einer Hausdurchsuchung bei einem Neonazi gefundenen Festplatte eine aufwendig gelöschte Sammlung mit persönlichen Informationen zu rund 500 politischen Gegner*innen wiederherstellen. Die Betroffenen dieser „Feindesliste“ wurden ab Jahresanfang über den Fund informiert. Die Benachrichtigten wandten sich wie bei weiteren im Verlaufe des Jahres entdeckten „Feindeslisten“ mit Fragen zur Einordnung und zum Umgang mit der Liste, aber auch zu möglichen Eigensicherungen, an die MBR. Der Datenträger war bei einem der Hauptverdächtigen der seit 2016 andauernden rechtsextremen Angriffsserie entdeckt worden, die sich vor allem gegen Engagierte im Bezirk Neukölln richtete. Seit dem Frühjahr 2019 ist es zu keinen neuen Angriffen gekommen, die von der MBR dieser Serie zugeordnet wurden. Ermittlungserfolge blieben indes weiterhin aus. Die beim Landeskriminalamt angesiedelte Besondere Aufbauorganisation Fokus (BAO Fokus) legte im September 2020 ihren Abschlussbericht vor, jedoch ohne greifbare Ergebnisse. Im Oktober 2020 setzte der Innensenator schließlich eine Kommission aus zwei Sonderermittler*innen ein. Ein Zusammenschluss von Betroffenen der Angriffsserie erneuerte am Jahrestag einer Petition an das Abgeordnetenhaus die Forderung nach einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss.Einen Tag vor Heiligabend wurden überraschend gegen zwei der drei öffentlich benannten Hauptverdächtigen Haftbefehle vollstreckt. Neue Beweismittel hatten die zwischenzeitlich von der Generalstaatsanwaltschaft übernommen Ermittlungen indes nach übereinstimmenden Medienberichten nicht zutage befördert. Einer der Verhafteten wurde noch am selben Tag wieder auf freien Fuß gesetzt. Im Zusammenhang mit der Angriffsserie gegen Engagierte bleiben weiterhin viele zentrale Fragen ungeklärt.

Weitere anscheinend rechtsextreme Angriffe im Norden Neuköllns richteten sich gegen Gewerbetreibende mit Migrationsgeschichte. So brannte im Juni 2020 in der Sonnenallee ein Transporter, der vor einer von Geflüchteten aus Syrien betriebenen Konditorei abgestellt war. Sie wurde in der gleichen Nacht, wie schon zuvor, mit SS-Runen besprüht. Auch wenn eine personelle Verbindung zu der rechtsextremen Angriffsserie gegen Engagierte in Neukölln fraglich ist, verunsichern sowohl diese Taten als auch die ausbleibenden Ermittlungserfolge – vor allem von Rassismus betroffene – Menschen im Bezirk.

Rechtsextreme Parteien erzielen mit eigenständigen Aktionen weiterhin keine Erfolge

Rückblickend auf das Jahr 2020 ist festzustellen, dass rechtsextreme Akteure, die in den vergangenen Jahren treibende Kräfte im Rahmen von (z.B. flüchtlingsfeindlichen) Mobilisierungen oder größeren Veranstaltungen wie der „Merkel muss weg“-Aufmarschreihe waren, kaum nennenswerte eigenständige Aktivitäten durchgeführt haben. Wenn überhaupt, waren die Aktionen zahlenmäßig überschaubar und ohne Öffentlichkeitswirkung oder wurden von Mobilisierungen der „Corona-Proteste“ überschattet, an denen allerdings auch, wie oben ausgeführt, regelmäßig diese rechtsextremen Akteure teilnehmen.

Der Berliner NPD gelang es auch in diesem Jahr kaum, mediale Öffentlichkeit zu erzeugen. Sie verharrt weiterhin in der Bedeutungslosigkeit, die aus personeller Schwäche, fehlender Wahrnehmbarkeit und mangelnder gesellschaftlicher Relevanz resultiert. Im Rahmen der Corona-Pandemie wurden thematisch angepasste Flugblätter produziert und eine Nachbarschaftshilfe „für bedürftige Deutsche“ angeboten. Die behauptete größere Resonanz der Aktion darf bezweifelt werden. Zum Ende des Jahres gelang es der NPD jedoch, einen fraktionslosen AfD-Abgeordneten als neues Parteimitglied zu gewinnen, sodass die NPD nun im Berliner Abgeordnetenhaus vertreten ist. Der Abgeordnete war 2016 über ein Direktmandat in Hohenschönhausen in das Abgeordnetenhaus eingezogen. Die Handlungsspielräume der NPD im Abgeordnetenhaus werden allerdings begrenzt bleiben. Durch das Rederecht und die Möglichkeit kleiner Anfragen können sie jedoch rechtsextreme Inhalte platzieren. Eine weitere Gefahr dürfte sein, dass die NPD, weil ihr Abgeordneter Mitglied des Innenausschusses ist, an nicht-öffentliche Informationen gelangt. 

In Hohenschönhausen führte die rechtsextreme Kleinstpartei Der III. Weg einen als Jahreshöhepunkt angedachten Aufmarsch am 3. Oktober durch. Dieser musst jedoch aufgrund breiten zivilgesellschaftlichen Protestes und von Blockaden massiv verkürzt werden. Zudem war die Teilnehmendenzahl bei den Rechtsextremen sehr überschaubar und bestand primär aus Kadern, die eigens aus anderen Bundesländern angereist waren. Zwar intensivierte die Berliner Struktur des III. Weg im Vorfeld des Aufmarsches ihre Aktivitäten, v.a. in Form von Flugblattverteilungen. Die Zahl der Mitglieder dürfte aber weiterhin im niedrigen zweistelligen Bereich liegen. Diese bewegten sich zuvor teilweise im Umfeld des militanten Neonazinetzwerks „NW-Berlin“.

Abstand halten gegen rechts – Positionierungen und Proteste 2020

Auch unter Pandemiebedingungen zeigte sich unterdessen in Berlin eine breite und vielfältige Zivilgesellschaft, die Proteste organisierte und demokratische Positionierungen entwickelte. Anwohner*innen, Organisationen, Initiativen und Bündnisse positionierten sich etwa ab April mit Banner-Aktionen und Kundgebungen gegen die rechtsoffenen und verschwörungsideologischen Versammlungen am Rosa-Luxemburg-Platz. So protestierte mit der am Rosa-Luxemburg-Platz ansässigen Volksbühne auch eine große Kulturinstitution öffentlichkeitswirksam gegen ihren Missbrauch als Kulisse für die „Hygienedemonstrationen“. Als sich die Versammlungen lokal verlagerten, folgten der Volksbühne Institutionen an anderen Orten, wie etwa die Staatlichen Museen zu Berlin, die sich mit einem weithin sichtbaren Banner am Alten Museum für demokratische Werte und gegen Rassismus, Antisemitismus und Nationalismus aussprachen.

Neben Protesten gegen die rechtsoffenen Versammlungen gab es 2020 auch wieder zahlreiche öffentliche Positionierungen gesellschaftlicher Akteure in Berlin gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus. Viele Berliner Fußballvereine beteiligen sich an der Kampagne „Kein Platz für Rassismus“ des Berliner Fußballverbandes. Teil der Kampagnen sind Motto-Banner für die Sportanlagen, thematische Dialogveranstaltungen und Schulungen mit Schiedsrichter*innen und Sportgerichten.

Ausblick

Die Herausforderungen, die mit der Corona-Pandemie einhergehen, werden auch im Jahr 2021 präsent bleiben. Zum Jahreswechsel mobilisiert die verschwörungsideologische, rechtsoffene „Querdenken“-Szene noch einmal bundesweit zu einer Großkundgebung nach Berlin. Da gemäß der aktuell geltenden Berliner „SARS-CoV-2-Infektionsschutzmaßnahmenverordnung“ Versammlungen im Zeitraum vom 31. Dezember 2020 bis einschließlich 1. Januar 2021 allerdings grundsätzlich verboten sind, wurde für den 30. Dezember eine identische Anmeldung auf der Straße des 17. Juni getätigt. Auch wenn diese von der bis dato wenig mobilisierungsstarken lokalen Gliederung „Querdenken30 – Berlin“ organisierte Veranstaltung von der Versammlungsbehörde am 23. Dezember ebenfalls untersagt wurde, kann nicht ausgeschlossen werden, dass eine nicht geringe Anzahl an Personen unabhängig von Versammlungsverboten und distanzierende  Äußerungen von bundesweiten „Querdenken“-Akteuren in diesem Zeitraum in die Hauptstadt reisen wird.

Politik und Zivilgesellschaft sind gefordert, nicht nur klare Kante gegenüber Verschwörungserzählungen zu zeigen, sie müssen auch Möglichkeiten finden, kontroverse Diskussionen um Grundrechtseinschränkungen im Zuge der Pandemie jenseits solcher Erzählungen zu führen. Offen ist vor allem, ob und inwieweit es rechtspopulistischen und rechtsextremen Kräften in den Parlamenten gelingen wird, von den zu erwartenden wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen stärker als bisher politisch zu profitieren.

 

 

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