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Jahresrückblick 2022 Bayern – Zahlreiche rechtsextreme Straftaten

Der ehemalige Bundeswehr-Oberst Maximilian Eder im Januar 2022 auf einer Bühne des Vereins "Bayern steht zusammen". Im Dezember 2022 wurde er als maßgeblicher Drahtzieher der Reichsbürger-Gruppe festgenommen, die einen Umsturz geplant haben soll. (Quelle: Thomas Witzgall)

Wichtigstes Ereignis im Jahr 2022 in Bayern war die Razzia gegen die mutmaßliche terroristische Vereinigung „Patriotische Union“ aus dem rechtsextremen Reichsbürger-Milieu.

Bayern war eines der Schwerpunktgebiete dieses Netzwerks. Zu den bekannten Beschuldigten zählen der in Italien festgenommene Oberst a.D. Maximilian Eder, der ehemalige Fallschirmjägeroffizier und ausgebildete Einzelkämpfer Peter Wörner aus dem Raum Bayreuth und der Ansbacher Thomas T., der laut Medienberichten als persönlicher Referent von Prinz Heinrich XIII. Reuß vorgesehen gewesen sein soll. Zum militärischen Arm der Gruppe soll zudem Thomas M. aus dem Raum Forchheim gehört haben. Schlagzeilen machte auch die Festnahme von Frank H., Starkoch in Kitzbühel, dessen Tochter mit David Alaba liiert ist. Auch die Untersuchungshaft gegen Harald P. aus dem Landkreis Schweinfurt wurde mittlerweile vom Ermittlungsrichter bestätigt.

Von den Beschuldigten trat besonders Maximilian Eder öffentlich in Erscheinung. Seine erste Rede im Rahmen der Proteste gegen Corona-Maßnahmen datiert er selbst auf dem Mai 2020 bei der Passauer Initiative „Für die Freiheit“. Auch der Landshuter Verein „Bayern steht zusammen“ bot ihm oft eine Bühne. 2022 sprach er bei der gefloppten Demo am 30. Januar in Nürnberg oder bei lokalen Protesten in Ostbayern neben AfD-Politikern. Von Berliner Demos ist besonders seine Aussage bekannt, die Bundeswehrspezialeinheit KSK nach Berlin zum Aufräumen zu schicken. Eder hatte in seiner aktiven Bundeswehrzeit Teile der KSK in Auslandseinsätzen kommandiert. Auch sprach er mit Blick auf die Bundesregierung davon, er wisse, wie man Kriegsverbrecher nach Den Haag bringe. Er präferierte – wie viele in der Szene – aber einen Prozess in Nürnberg („Nürnberg 2.0“).

Zuletzt äußerte er sich oft im Sinne der QAnon-Verschwörungsideologie. In einer Botschaft an den verstorbenen Aktivsten Karl Hilz schrieb Eder, er würden dessen angeblichen „Kampf gegen Pädophilie“ bis zum Tod fortführen. Er half in mindestens einem Fall aktiv bei einer Kindesentziehung mit. Eine Frau aus der Schweiz beschuldigte im Sorgerechtsstreit ihren ehemaligen Partner des satanistisch-rituellen Kindesmissbrauchs („Satanic Panic“), wofür es keine Belege gab. Interpol soll Mutter und Sohn dann bei Eder im Bayerischen Wald aufgespürt haben. In einem letzten „Auftritt“ – er ließ sich aus Italien bei einer Kundgebung in München zuschalten – sprach er davon, im Schwarzwald seien tausende Kinder befreit worden. Putins Angriffskrieg auf die Ukraine deutete er entsprechend um. Es gehe um die Befreiung von Kindern aus „Biolabs“. Auf Fragen von Anhänger*innen stellte er eine Aktion noch vor Weihnachten in Aussicht.

Weitere Durchsuchungen

Jenseits der „Patriotischen Union“ gab es Ende März Durchsuchungsmaßnahmen gegen eine Gruppe im Raum Neumarkt in der Oberpfalz. Den Leuten, die teils auch mit Prepper-Aktivitäten aufgefallen waren, wird vorgeworfen, Anschläge gegen kritische Infrastruktur, insbesondere Stromtrassen, geplant zu haben. Anwohner*innen berichteten gegenüber der Mittelbayerischen Zeitung auch von Reichsbürger-Thesen. Haftbefehle wurden nicht beantragt, Erkenntnisse über die Auswertung der sichergestellten Daten kamen bisher nicht ans Licht.

Auch gingen die Sicherheitsbehörden gegen einen Mann aus dem Raum Landshut vor, der als Teil der Gruppe „Vereinte Patrioten“ an Planungen zur Entführung Karl Lauterbachs beteiligt gewesen sein soll. Bei den Durchsuchungsmaßnahmen gegen die rechtsterroristische „Atomwaffen-Division“ war ein Objekt in Neu-Ulm betroffen. Hier wurde niemand verhaftet. Beim Vorgehen gegen einige Mitglieder der „Neue Stärke Partei“ durchkämmten die Ermittler*innen auch die Wohnung eines Münchner Anhängers der Kleinstpartei, der sich auch an antisemitischen Aktionen im Raum Ulm beteiligt hatte.

Gravierende Straftaten einzelner Täter*innen

In Coburg zündete ein als Reichsbürger bekannter Mann Ende August den Dienstwagen des Oberbürgermeisters und ein weiteres der Stadt gehörendes Fahrzeug an. Die Flammen griffen glücklicherweise nicht auf die angrenzenden Gebäude über. Er hatte ein halbes Jahr davor mit einer Bombenattrappe dafür gesorgt, dass der Markt geräumte werden musste und auch schon Lokaljournalist*innen bedroht. Er soll bereits 2016 im Raum Bayreuth einen Sendemast angezündet haben.

Im Juli wurde der Bayreuther SPD-Stadtrat Halil Tasdelen vor seinem Haus rassistisch beleidigt und angegriffen. Die Folge war ein doppelter Nasenbeinbruch. Der ermittelte Täter versuchte sich einige Tage später abzusetzen und kam in Untersuchungshaft. Anfang Dezember wurde ein Urteil gesprochen: ein Jahr und drei Monate ohne Bewährung. Der Täter muss zudem ein Schmerzensgeld in Höhe von 4.000 Euro zahlen.

Anfang Februar ging die Generalstaatsanwaltschaft München auch gegen einen Rosenheimer Holocaustleugner vor und durchsuchte seine Wohn- und Geschäftsräume. Bernd F. wurde Volksverhetzung in 45 Fällen vorgeworfen. Er soll zudem „zur Jagd auf das obere Verbrechersystem“ und zu dessen „Säuberung“ aufgerufen haben. Bernd F. verwaltete den Telegram-Kanal „King Ather Reveals“. Die Behörden sind auf Nachfrage noch mit der Auswertung beschäftigt.

In München wurde das Büro der Grünen Landtagsabgeordneten und Fraktionsvorsitzenden Katharina Schulze wiederholt Ziel von Angriffen.

Zahlreiche Gerichtsprozesse

Wegen versuchten Mordes in 56 Fällen muss ein 42-jähriger Versicherungskaufmann fünfeinhalb Jahre in Haft. Er hatte versucht, die unter anderem von 22 Kindern und Jugendlichen bewohnte Geflüchtetenunterkunft in Simbach am Inn in Brand zu stecken, was glücklicherweise auch Dank der Aufmerksamkeit eines Bahnmitarbeiters schnell bemerkt wurde. Die Brände waren an den beiden Notausgängen des Gebäudes gelegt worden. Das Urteil ist rechtskräftig. Aussagen in der Tatnacht belegen eine rassistische Motivation.

Am „D-Day 2.0“ 2021, als in Washington Anhänger*innen Trumps das Kapitol stürmten, platzierten in Unterfranken mehrere Anhänger*innen der Querdenken-Szene an Holzleinen gespannte Banner auf einer Bahnstrecke Richtung Schweinfurt. Ein ICE durchfuhr eine Sperre und musste eine Vollbremsung einleiten. Ermittelt werden konnten zwei Tatverdächtige aus der Querdenker-Szene. Der Hauptverdächtige erhielt wegen bestehender Bewährung eine Freiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten. Eine Komplizin erhielt neun Monate auf Bewährung. An der Aktion müssen laut Ermittler*inen noch mehr bislang unbekannte Personen beteiligt gewesen sein. Die Verurteilten legten Rechtsmittel ein.

„Waffen für die AfD“

Vier Jahre und drei Monate soll Alexander Reichl ins Gefängnis. Der zeitweise für NPD und AfD aktive ehemalige Zollbeamte und Geschäftsmann hatte mit Gesinnungsgenossen Waffen vom Balkan nach Deutschland geschmuggelt. Das Urteil vom 31. Mai ist nicht rechtskräftig. Durch die Aufteilung der Verfahren wurde der Umfang des Schmuggelrings nicht deutlich. Nur der Haupttäter Reichl und zwei Zwischenhändler mussten sich vor dem Landgericht München verantworten. Gehilfen, Kuriere und Endabnehmer wurden jeweils einzeln vor den jeweiligen Amtsgerichten angeklagt bzw. steht das Verfahren bei einigen noch aus. Fünf Verfahren wurden an Staatsanwaltschaften außerhalb Bayerns abgetreten. Ungeklärt ist der Verbleib von mindestens zwei halbautomatischen Kurzwaffen, zwei Maschinenpistolen, drei Sturmgewehren und einem weiteren Gewehr. Die Beschuldigten waren laut Staatsregierung bei der NPD aktiv, dem „Dritten Weg“ und Pegida München. Zudem hingen einzelne Beteiligte Reichsbürger-Gedankengut an. Ein Beschuldigter war Teil des Landesvorstandes der Jungen Alternative Bayern, wird dort aber inzwischen nicht mehr aufgeführt.

Einen vielfach kritisierten „Deal“ ging die Generalstaatsanwaltschaft München mit den angeklagten Neonazis ein, denen vorgeworfen wurde, das im Jahr 2000 verbotene Neonazi-Netzwerk „Blood and Honour“ fortgeführt zu haben. Die neun Angeklagten zeigten sich geständig. Im Rahmen der Absprachen bekamen sechs von ihnen vorher zugesicherte Bewährungs-, die drei restlichen Angeklagten Geldstrafen. Der „Deal“ verhinderte auch, dass im Rahmen der öffentlichen Beweisaufnahme etwaige weitere Namen, Treffen und Beziehungsgeflechte von den Ermittlern thematisiert werden konnten.

Zerstrittene AfD-Fraktion im Landtag

Die AfD-Landtagsfraktion zeigte sich auch im Jahr vor der Landtagswahl zerstritten, was allerdings auf die Umfrageergebnisse keinerlei Einfluss hatte. Die Partei kann voraussichtlich 2023 wieder mit dem Einzug in den Landtag rechnen. Dort dürften sich die Hauptprotagonist*innen des Streits wiedersehen. Mit Katrin Ebner-Steiner und Christoph Maier sicherten sich zwei Vertreter*innen des Höcke-nahen Teils der Fraktion den Vorsitz in den Bezirken Niederbayern und Schwaben. Beide dürften damit Anspruch auf Platz eins ihrer jeweiligen Bezirkslisten erheben, was im bayerischen Wahlsystem zwar keine Garantie für den Einzug bietet, aber die größtmögliche Absicherung. Ihr Gegenspieler Franz Bergmüller dürfte von dem erhöhten Zuspruch für die AfD profitieren. 2018 zogen mit ihm und Andreas Winhart beide Rosenheimer Kandidaten in den Landtag ein.

Zum Jahresbeginn wirkte sich noch die Chataffäre um Umsturzpläne in einer der AfD-Telegramgruppen negativ auf die Fraktion auf. Die demokratischen Fraktionen im Ausschuss für Bildung und Kultus forderten den Ausschluss der Abgeordneten Anne Cyron, die im Chat eindeutige, aber nicht strafbare Aussagen in Richtung eines Umsturzes traf. Weil sich der Vorsitzende des Ausschusses, AfD-Politiker Markus Bayerbach noch in Widersprüche zu seiner eigenen Beteiligung in den Kanal „Alternative Nachrichten Bayern“ verstrickte, wählten ihn die demokratischen Vertreter*innen Anfang Januar 2022 ab.

Die AfD kündigte Klage gegen das Procedere an, die nicht weiterverfolgt wurde, denn Bayerbach ist nach seinem Austritt aus Partei und Fraktion Mitte März fraktionsloses Mitglied des Landtages und damit nicht mehr im Ausschuss vertreten. Der Lehrer vollzog den Austritt parallel mit dem Unterfranken Christian Klingen, ehemaliger Co-Fraktionsvorsitzender der AfD-Landtagsfraktion. Nach Markus Plenk verlor die AfD-Fraktion in Bayern schon zum zweiten Mal einen amtierenden Vorsitzenden durch Austritt.

Rassistische Anfrage

Nach dem Tod des 2021 aus der AfD ausgetretenen Niederbayern Josef Seidl rückte im Februar der Passauer Zahnarzt Oskar Atzinger in den Landtag nach. Er verstärkte das Lager um die Höcke-Vertraute Ebner-Steiner, was nach dem Austritt von Klingen und Bayerbach der früheren Fraktionsvorsitzenden eine einfache Mehrheit gegenüber dem anderen Lager um den verbliebenen Vorsitzenden Ulrich Singer sicherte. Der schwäbische Jurist Singer sträubte sich bislang mit Satzungskniffen gegen die Wahl eines neuen Mitvorsitzenden aus dem Höcke-Lager.

Inhaltlich wäre es verfehlt, von einem radikalen und einem gemäßigten Lager zu sprechen. Denn beide Seiten fielen in 2022 mit rassistischen Anfragen auf. Gerd Mannes, stellvertretender Landesvorsitzender stellte Mutmaßungen auf, zu viele Verfassungsschutzmitarbeiter*innen aus „islamischen Kulturkreisen“ wären diesem loyal näher und könnten so die Gefahren durch den Islamismus verharmlosen und eine rechte Gefahr überdramatisieren. Er nannte in der Einleitung explizit die beiden Vize-Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Selen und Badenberg.

Ebner-Steiner wollte von der Staatsregierung wissen, ob ihr ein Zusammenhang zwischen Herkunft und Gewalttaten begünstigenden psychischen Erkrankungen bekannt sei. Das Staatsministerium des Inneren distanzierte sich in beiden Fällen von den Unterstellungen. Der AfD-Landtagsabgeordnete Ralf Stadler verlor nach einem rechtskräftigen Urteil seine Waffenbesitzkarte. Etliche andere Fraktionskolleg*innen sollen sich zudem um einen Jagdschein bemüht haben. Der Landtagsabgeordnete Richard Graupner wurde in zweiter Instanz zu einer Geldstrafe von 14.850 Euro (90 Tagessätze zu 145 Euro) verurteilt. Er soll in seiner Zeit als Polizeihauptkommissar Informationen aus dem internen Polizeisystem an einen Bekannten weitergeleitet haben. Grauper will in Revision gehen. Vor dem Amtsgericht war er noch freigesprochen worden.

AfD Bayern beim Bundesparteitag

Nach dem von Höcke dominierten Bundesparteitag verlor die AfD Bayern mit Monica-Ines Oppel eines ihrer längsten Mitglieder. Die Juristin war lange Zeit im Schiedsgericht der Partei aktiv und entschied hier über Ordnungsmaßnahmen und Ausschlüsse. Mit Peter Boehringer schaffte es nur ein bayerischer Vertreter in den neuen Parteivorstand, immerhin als Stellvertreter des Duos Alice Weidel und Tino Chrupalla. Andere bayerische Kandidat*innen, wie etwa der Landtagsabgeordnete Ingo Hahn oder Gerrit Huy aus dem Bundestag fielen durch, obwohl sie zu Chrupallas Wunschteam gehörten. Vom AfD-Kreisverband München Nord (Vorsitz Petr Bystron) wurde der vieldiskutierte Antrag zur Streichung der vom Verfassungsschutz beobachteten Pseudo-Gewerkschaft „Zentrum Automobil“ von der Unvereinbahrkeitsliste der Partei eingebracht, der gegen den Willen von Weidel eine Mehrheit fand.

Auch auf Ebene des Landesverbandes machte die AfD mit Schreit Schlagzeilen. Aus Kostengründen wollte der Landesvorsitzende Stephan Protschka die Geschäftsstelle ins mittelfränkische Greding verlegen, wo die Landesparteitage stattfinden. Das passte aber einigen Parteimitgliedern nicht ins Selbstbild, abseits der Metropolen zu residieren. Ein Beschluss zwingt den Vorstand jetzt wieder zurück ins Münchner Umland. Der Streit mit einigen Mitarbeiter*innen ging auch parallel vors Arbeitsgericht. Von Mobbing gegen von früheren angeblich gemäßigteren Vorständen eingestellte Mitarbeiter war auch die Rede. Der mit viel Geld veranstaltete Aktionstag gegen die Impfpflicht floppte mit etwa 300 Teilnehmenden am Königsplatz deutlich. Zudem musste sich die Partei noch mit Ermittlungen wegen eines vermeintlichen Hitler-Grußes durch Bystron herumärgern.

Zumindest konnte die AfD einen kleinen, aber womöglich unbedeutenden, Erfolg gegenüber dem Innenministerium verbuchen. Ähnlich wie schon im Verfahren der Bundespartei gegen das Bundesamt für Verfassungsschutz erließ auch das Verwaltungsgericht München einen Hängebeschluss. Das Landesamt darf bis zur Entscheidung in der Hauptsache keine nachrichtendienstlichen Mittel gegen die AfD einsetzen und keine Öffentlichkeitsarbeit zu möglichen verfassungsfeindlichen Bestrebungen betreiben. Das Verwaltungsgericht betonte, dass dies keine inhaltliche Entscheidung sei.

Impfgegner*innen mobilisieren zum Jahresbeginn

Die verschwörungsideologische Szene konnte vor allem zu Beginn des Jahres, als eine allgemeine Impfpflicht noch im Raum stand, viele Teilnehmer*innen zu ihren Versammlungen mobilisieren. Besonders Schweinfurt und München standen wegen wilder Demos im Fokus, bei denen es auch zu Angriffen auf Polizeibeamt*innen und teilweise deren Fahrzeuge kam. In Regensburg ging eine Auseinandersetzung zum Nachteil ines Querdenkers aus. Die Sicherheits- und Versammlungsbehörden reagierten mit Allgemeinverfügungen gegen nicht vorher angezeigte Proteste und in einige Fällen mit Schnellverfahren. An manch einem Mittwoch wurden in der Münchner Fußgängerzone die Personalien von einer mittleren dreistelligen Anzahl an „Spaziergängern“ festgestellt und angezeigt.

Erklärtes Ziel der Szenen war laut den Aussagen in Telegram-Gruppen auch, die Polizei zu überfordern, um an möglichst vielen Orten ohne Corona-Regeln demonstrieren zu können. In einigen Kommunen ging das sehr gut für sie auf, Auflagenverstöße wurden nicht geahndet. In Erding etwa engte die dortige Polizeiführung den Platz der angezeigten Gegendemo zugunsten der nicht vorher angezeigten aber erwarteten „Corona-Spaziergänger“ ein und übernahm nach alibimäßiger Abfrage, ob sich denn ein Versammlungsleiter finde, selbst die Routenführung. An vielen Orten fühlte sich die solidarische Zivilgesellschaft von den Behörden gegängelt, während das Selbstvertrauen der Impfgegner*innen und Verschwörungsideolog*innen durch flächendeckende Auflageverstöße wuchs.

Eine Großdemonstration Ende Januar am früheren Nürnberger Reichsparteitagsgelände floppte. Statt der erwarteten 20.000-30.000 Teilnehmenden kamen gerade einmal 4.000. Auch die zentrale Demonstration der Impfgegner*innen-Szene zum Jahrestag der Verabschiedung des Nürnberger Kodex, einer ethnischen Richtlinie für Mediziner*innen als Antwort auf die Menschenversuche an KZ-Häftlingen in der Nazi-Zeit, blieb trotz bundesweiter Mobilisierung personell hinter den Erwartungen der Organisatoren zurück.

Schlagzeilen machten die Versammlung deshalb, weil die Hauptrednerin und Überlebende der Shoah, Vera Sharav, die Impfstoffe gegen das Sars-Cov-2 Virus als Nachfolger des zur Ermordung der Juden eingesetzten Giftgases Zyklon B bezeichnete und die Welt wegen der Impfprogramme auf dem Weg in einen neuen Holocaust sah. Die Versammlung wurde nicht abgebrochen. Wenige Tage nach der Versammlung bekannte ein Vertrauter Sharavs bei einer Versammlung in München, dass es genau die Absicht war, ihre Vita als „Rammbock“ gegen die beginnende Strafverfolgung derjenigen einzusetzen, denen wegen ähnlicher Vergleiche oder angehefteten „ungeimpft“-Sternen ein juristisches Nachspiel droht. Auch Sharav wurde wegen ihrer Rede im Nachgang angezeigt. Bei der Kundgebung musste auch ein von der Polizei organisierter Rundgang für Fotografe*innen abgebrochen werden, weil Teilnehmer*innen die mit Maske arbeitenden Medienschaffenden attackierten. Folgen für die Versammlung hatte das keine.

Übergriffe auf Journalist*innen

Auch kleinere Versammlungen blieben für Journalist*innen gefährlich. Der gravierendste Übergriff ereignete sich am Marienplatz am Rande einer Freiluft-Pressekonferenz des bayerischen Gesundheitsminister Holetschek, als ein von AfD- und Querdenken-Demos bekannter junger Mann einen Reporter des Bayerischen Rundfunk bedrängte und wiederholt körperlich angriff. Er hatte schon vorher einen Platzverweis bekommen, durfte aber aus Sicht der Polizei nach Ende der Pressekonferenz wieder auf den Platz und zu den noch arbeitenden Journalist*innen zurück. Bei einer Gerichtsverhandlung in anderer Sache wurde bekannt, dass der Angreifer zeitweise im Wochentakt neue Anklagen zugestellt bekam, die 2023 auf den jungen Mann zukommen dürften.

In Landsberg meldete die Augsburger Allgemeine Übergriffe auf ihre Reporter*innen. In Fürstenfeldbruck bedrängte einer der Initiatoren der dortigen „Spaziergänge“ im April einer Fotografin der SZ und griff in die Kamera. Er wurde inzwischen in erster Instanz auch wegen seiner Vorstrafen zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu 40 Euro verurteilt. Die Richterin ließ das Wegdrücken der Kamera bereits als Nötigung gelten. Das Urteil ist nicht rechtskräftig.

Hasstiraden gegen zwei Erdinger Journalisten, die über die dortigen Corona-Versammlungen berichtet hatten, brachten einem Mann eine Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu 100 Euro ein. Im April versuchte ein Teilnehmer der „München steht auf“-Demo einer Journalistin das Handy zu entreißen. Bei der Demonstration 14 Tage später wurde er von der Angegriffenen erkannt und konfrontiert, worauf diese von anderen Teilnehmenden bedrängt wurde. In dem Getümmel verpasste der Täter einem zweiten Journalisten einen gezielten Faustschlag gegen den Kopf und verschwand in der Menge. Die Münchner Polizei, die die Demonstrationen zu dem Zeitpunkt nur mit Kräften zur Verkehrssicherung begleitete, hatte keine Beamten vor Ort, um den Täter zu stellen.

In Rosenheim kam es zu versuchten Übergriffen auf Fotograf*innen. Bei einer anderen Gelegenheit wurde dort ein Mitglied der Jusos, der an einer Gegenveranstaltungen teilgenommen hatte, umringt und geschlagen. Das Verfahren gegen den mutmaßlichen Täter wurde mittlerweile eingestellt. Ermittlungen sah sich hier auch eine zweite Person ausgesetzt, die ein Video von den Angriffen an Medienvertreter weitergeleitet hatte.

Querdenker*innen und Verschwörungsideolog*innen vor Gericht

Nach dem Selbstmord der österreichischen Ärztin Lisa-Maria Kellermayr wurde bekannt, dass ein 59-Jähriger aus Starnberg in Verdacht steht, Drohschreiben an die von Behörden und Verbandsvertretern im Stich gelassenen Medizinerin geschickt zu haben. Auf der Suche nach einer Fälscherwerkstatt für Impfpässe stieß die Kriminalpolizei Neu-Ulm im Mai bei einem 23-Jährigen in Rettenbach auf jede größere Menge selbstgebauter Sprengkörper.

Querdenker*innen und Verschwörungsideolog*innen verbrachten auch 2022 einige Zeit vor Gericht. Nicht immer ging es gut für sie aus. Helmut Bauer, Mitglied der Szene im Raum Weiden, ging wegen nicht gelöschter Hass-Kommentare mit elf Monaten auf Bewährung aus einem Prozess. Zwei Jahre Haft ohne Bewährung erhielt die vor Gericht mit Reichsbürger-Thesen auftretende Ärztin Gudrun Stroer in erster Instanz für die Ausstellungen von Maskenbefreiungen ohne medizinische Indikation. Ihr Passauer Kollege Ronald Weikl konnte in der Berufungsverhandlung seine Bewährungsstrafe auf ein Jahr drücken und zudem ein partielles Berufsverbot und Geldstrafen abwenden, was von seinen Anhänger*innen wie ein Freispruch gefeiert wurde.

Hans-Ulrich Mayr, Arzt und Stadtrat für die AfD in Altötting muss dagegen 16.000 Euro zahlen. Er hatte mehrfach Patienten ohne Maske behandelt und auch hochbetagte Senior*innen im Altenheim besucht. Das Urteil ist rechtskräftig. Der AfD-Funktionär und kurzzeitige Bundestagsabgeordnete Florian Jäger bekam für einen szenetypischen NS-Vergleich eine Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu 60 Euro.

Neun Monate auf Bewährung plus 1600 Euro Geldauflage bekam ein Auszubildender, der bei einer Corona-Demo in Kempten zusammen mit seinem Vater attackiert hate. Laut „Allgäu rechtsaußen“ sind beide Urteile rechtskräftig.

Im Februar wurde bekannt, dass das Oberste Bayerische Landgericht als Revisionsinstanz keine Rechtsfehler bei der Verurteilung des Bauunternehmers Peter Weber („Hallo Meinung“) feststellen konnte und die Geldstrafe von 24.000 Euro Geldstrafe wegen Beleidigung der Grünen-Bundestagesabgeordneten Tessa Ganserer damit in Rechtskraft erwuchs. Weil aber nicht alle verunglimpften Personen einen Strafantrag gestellt hatten, wurde das Urteil auf 80 Tagessätze zu 200 Euro abgemildert.

Der auf den Philippinen wohnende Verschwörungsideologe Oliver Janich akzeptierte einen Strafbefehl der Generalstaatsanwaltschaft München über eine zehnmonatige Bewährungsstrafe, weshalb vorerst keine weiteren Bestrebungen von Seiten der deutschen Behörden bestehen sollen, ihn ausliefern zu lassen. Im Raum stehen soll allerdings eine Abschiebung durch die philippinischen Behörden. Markus Haintz hatte eine „#FreeJanich“-Demo ausgerechnet auf den 9. November gelegt, was viele angesichts der von Janich verbreiteten antisemitischen Verschwörungserzählungen als Provokation empfanden. Die geplante Demo in München floppte und wurde vorzeitig abgebrochen.

Gefängnisstrafe für Vive-Chef des „Dritten Wegs“

Die neonazistische Kleinstpartei „Der Dritte Weg“ konnte sich dieses Jahr in Bayern den Zugriff auf eine Immobilie sichern. In Schweinfurt wurde ihnen in Nähe zum Hauptbahnhof ein kleines Ladenlokal vermietet. In den Räumlichkeiten soll sich kürzlich auch der erste bayerische Ableger der Jugendorganisation „Nationalrevolutionäre Jugend (NRJ) für Franken“ gegründet haben.

Weniger erfolgreich verlief das Jahr auf der Straße. Zum „Heldengedenken“ nach Wunsiedel kamen dieses Jahr mit nur 120 Teilnehmenden so wenige Anhänger*innen wie nie zuvor. Eine zweite Kundgebung an einem martialisch wirkenden Denkmal in der Stadt konnte verhindert werden. Die Beteiligung an den verschwörungsideologischen Corona-Demos brachte ein paar Aktivist*innen nur Verurteilungen wegen Verstößen gegen das Infektionsschutz- bzw. Versammlungsgesetz. Der stellvertretende Landesvorsitzende des „Dritten Wegs“ Karl-Heinz Statzberger, der erkennbar an der Plakatierung von „Hängt die Grünen“-Plakate im vergangenen Bundestagswahlkampf beteiligt war, erhielt dafür eine Freiheitsstrafe, die wegen Vorstrafen nicht mehr zu Bewährung ausgesetzt wurde. Das Urteil ist nicht rechtskräftig.

Ähnlich erging es dem Münchner Islamhasser Michael Stürzenberger, der mit der Bürgerbewegung Pax Europa (BPE) durch Städte tourt und versucht, Muslime und Gegendemonstrant*innen zu provozieren. Das Amtsgericht Hamburg verurteilte ihn zu sechs Monaten ohne Bewährung. Auch dieses Urteil ist nicht rechtskräftig.

Geldstrafe für Chefarzt

Auch die „Identitäre Bewegung“ (IB) beteiligte sich an Corona-Demos, aber nur gelegentlich mit eigenem Material. Die in München wohnende Aktivistin Annies Hunecke tritt bundesweit als Gesicht der verbliebenen IB-Gruppen in Erscheinung. Hinzu kam „Adrian“, ebenfalls Münchner, als „Vorzeige-Aktivist“ bei der Nord-Stream-2-Aktion in Mecklenburg-Vorpommern. Mindestens zwei Banneraktionen richteten sich gegen zwei CSD-Umzüge in Amberg und München, fielen aber kaum auf. In den sozialen Medien treten die Gruppen schon länger nicht mehr als IB auf, sondern nutzen regionale Bezeichnungen, gelegentlich mit Anspielungen auf Tradition und Herkunft.

Die Shoah-Leugnerin Marianne Wilfert wurde zu einer weiteren Haftstrafe verurteilt. Sie sitzt aktuell bereits in der JVA ein. Das Bayreuther Klinikum trennte sich von einem seiner Chefärzte, nachdem dieser vom Amtsgericht Bayreuth wegen der Verbreitung nationalsozialistischer und antisemitischer Inhalte zu einer Geldstrafe von 32.200 Euro verurteilt wurde.

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