Rechtsaußen-Aktivitäten, Strategien und Vorfälle
Zahlreiche rechtsalternative verschwörungsideologische Kundgebungen und Demonstrationen fanden auch über das gesamte Jahr 2022 verteilt in allen Hamburger Bezirken statt. Diese Veranstaltungen haben wir mit unterschiedlichen Bezugspunkten wie antisemitischen Verschwörungserzählungen zur Corona-Pandemie, Energiekrise oder in Bezug auf den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine über das gesamte Jahr beobachtet. So hohe Teilnehmer_innenzahlen wie zu Jahresbeginn von mehreren tausend Personen konnten allerdings im Laufe des Jahres nicht wieder mobilisiert werden. Dennoch ist das gesamte rechte Spektrum in unterschiedlichsten Rollen, Funktionen und Sichtbarkeiten in dieser Protestbewegung verortet und vernetzt. Beispielsweise berichteten die NPD Kreisverbände regelmäßig von verschwörungsideologischen Demonstrationen in verschiedenen Bezirken, riefen zur Teilnahme auf und beteiligten sich mit eigenen Bannern an Aktionen. Ebenso liefen Mitglieder der AfD, des Dritten Wegs sowie extrem rechte Akteur_innen aus dem ganzen Bundesgebiet auf Demos mit. Auch ein 50 Personen umfassender Neonazi-Block, der in die Organisation eingebunden war, beteiligte sich. In Zusammenhang mit den Demos und Kundgebungen kam es zu mehreren Vorfällen. So führten beispielsweise rechte Demonstrant_innen Waffen mit sich und in Bergedorf wurde im Februar ein Gegendemonstrant verletzt.
Neben hoher Demonstrationsdichte kam es, wie auch in den letzten Jahren, zu ad-hoc-Mobilisierungen zu bestimmten Anlässen und Orten, öffentlichen Diffamierungen, Belästigungen durch Mails und Anrufe sowie Drohungen. Diese Aktivitäten richteten sich meist gegen Institutionen wie z.B. Medienhäuser, Arztpraxen sowie Schulen und andere öffentliche Einrichtungen. Auch Listen mit Namen und Adressen von Institutionen, Geschäften und Arztpraxen, die Maßnahmen zum Gesundheitsschutz umsetzten, wurden in Telegramgruppen gesammelt und dadurch bedroht. Durch diese Vielzahl an Aktionen wurde die Sicherheit für Schüler_innen, Mitarbeitende, Besucher_innen und Klient_innen gefährdet sowie die Arbeit der Institutionen massiv gestört.
Daneben ließen sich zahlreiche Versuche der Raumnahme in Hamburg durch die rechte Szene beobachten. So versuchten verschwörungsideologische Parteien wie „die Basis“ Räumlichkeiten für ihre Treffen anzumieten und verschwörungsideologische Gruppen, u.a. auch Musiker_innen, haben teils erfolgreich Veranstaltungen in Hamburger Räumlichkeiten abhalten können. Durch antifaschistische und zivilgesellschaftliche Recherchen und Engagement konnten jedoch einige der Raumnahmen verhindert werden. Die Entwicklung aus 2021, dass sich zunehmend Institutionen mit Beratungsbedarf im Kontext Verschwörungsideologien an uns wenden, hat sich vor dem dargestellten Hintergrund also auch 2022 fortgesetzt.
Zunahme rassistischer und queerfeindlicher Hetze und Gewalt
In 2022 haben wir eine erneute Zuspitzung rassistischer Hetze und Gewalt gegen Geflüchtete und deren Unterbringung in Hamburg beobachtet. Die NPD hetzte und drohte dabei vor Ort gegen unterschiedliche bereits existierende oder geplante Unterkünfte im Bezirk Wandsbek und gefährdete somit die Sicherheit der Bewohner_innen. Aus AfD-Zusammenhängen wurden Verschwörungserzählungen verbreitet, um gegen geflüchtete Menschen mit ukrainischem Bezug zu agitieren. Gleichzeitig werden weiterhin gesamtgesellschaftlich und medial rassistische Narrative übernommen und reproduziert.
Wie auch schon in den vergangenen Jahren kam es auch in 2022 zu zahlreichen sozialdarwinistischen Angriffen auf wohnungslose Personen. Diese ereigneten sich auch in als „links“ geltenden Stadtgebieten, wie z.B. Altona. Dieses Jahr war zudem von gesellschaftlicher queer- und transfeindlicher Agitation gegen queerfeministische Forderungen wie dem Selbstbestimmungsgesetz geprägt. Daran beteiligten sich auch Hamburger CDU-Politiker. Auch die verschiedenen (extrem) rechten Milieus knüpften daran an, sodass sowohl in Hamburger verschwörungsideologischen Telegram-Kanälen als auch in Twitter-Kanälen von Hamburger AfD Politiker*innen verschiedenste queer- und transfeindliche Inhalte gepostet wurden. Vor diesem gesellschaftlichen Hintergrund sind auch die zahlreichen queerfeindlichen Angriffe in mehreren Stadtteilen einzuordnen.
Zudem bleibt die antisemitische und rassistische Gewalt in Hamburg auf einem hohen Niveau. Antisemitische Angriffe wie im Frühjahr vor der Schule der jüdischen Gemeinde in Hamburg Eimsbüttel oder antisemitische Botschaftstaten an Schulgebäuden waren ebenso präsent wie zahlreiche rassistische Übergriffe. Besonders brisant ist zudem der Vorfall des rechten Polizisten aus Wilhelmsburg, der u.a. als Cop4U mit Schulen kooperierte und auf seinem öffentlichen Facebookprofil Rechtsaußen-Inhalte teilte, die von Kolleg*innen desselben Polizeikommissariats gelikt und kommentiert wurden.
Reichsbürger*innen als Multiplikator*innen
Im vergangenen Jahr waren erneut Reichsbürger_innen sehr aktiv in Hamburg an rechtsalternativen Protesten und Aktionen beteiligt, organisierten eigene Demonstrationen und wirkten als Multiplikator_innen zwischen verschiedenen Rechtsaußen-Milieus. Gerade auch durch das Bespielen reichweitenstarker Social-Media-Kanäle und das Vernetzen mit rechtsextremen und rechtsalternativen Gruppen im gesamten Bundesgebiet nehmen sie eine zentrale Rolle in der Hamburger rechtsextremen Szene ein. Auch wenn es in Hamburg nicht zu Verhaftungen im Zusammenhang mit der rechtsterroristischen Reichsbürger*innen-Gruppe kam, ist dennoch wichtig festzuhalten, dass es Kontakte zwischen festgenommenen rechtsterroristischen Reichsbürger*innen und Hamburger Rechten gab, etwa zur Hamburger Partei „die Basis“. Trotz der Durchsuchungen und Festnahmen Anfang Dezember findet gesellschaftlich eine Verharmlosung der Gefahr durch Reichsbürger*innen statt. Nicht nur von rechten Akteur*innen, die mit bekannten Strategien von Schuldabwehr, Täter-Opfer-Umkehr und Verharmlosung reagieren, sondern auch durch Sicherheitsbehörden, die nur einen Teil der Reichsbürger*innen dem extrem rechten Spektrum zuordnet. Auch die gesellschaftlich verbreitete problematische Einordnung von Reichsbürger*innen als „krankhaft“ oder nicht ernst zu nehmend und der Unsichtbarmachung der Anschlussfähigkeit von deren Ideologien tragen dazu bei, die Bedrohung durch diese Szene zu unterschätzen.
Rechtsaußen-Erzählungen und das Einbinden tagesaktueller Ereignisse
Wichtige Vernetzungsorte und Plattformen für die Verbreitung menschenfeindlicher Ideologieelemente stellen nach wie vor auch digitale Räume wie soziale Medien und Messenger-Kanäle wie Telegram dar. Im Kontext verschwörungsideologischer Vernetzung wird dort auch weiterhin an verschiedenen rechtsextremen Ideologieelementen angeknüpft. So finden sich zahlreiche queer- und transfeindliche sowie antifeministische und rassistische Aussagen, Videos und Memes in einschlägigen Hamburger Kanälen wieder.
Zudem machen wir noch immer die Beobachtung, dass weite Teile des rechtsalternativen Spektrums den Angriffskrieg der russischen Regierung legitimieren. Der Krieg in der Ukraine wird in bestehende Verschwörungsideologien integriert und damit an eigene Umsturz-Fantasien angeknüpft. Neben der damit häufig verbundenen Positionierung gegen die Ukraine richtet sich die Hetze konkret gegen aus der Ukraine geflüchtete Personen und deren Aufnahme. In einigen Stadtteilen ist das Symbol ”Z” als Zeichen der Unterstützung des russischen Angriffskrieges aufgetaucht.
AfD und andere rechtsextreme Akteur*innen griffen steigende Lebensmittel- und Energiepreise und weitere Krisenphänomene mit rassistischen, verschwörungsideologischen und sozialdarwinistischen Erzählungen auf – die Anschlussfähigkeit an Rechtsaußen-Erklärungen aktueller Situationen wird durch kontinuierliche rechtsextreme Gewalt und Vorfälle sowie in Wahlergebnissen wie etwa in Niedersachsen sichtbar.
Verschiedene Gruppierungen versuchten diese Diskurse unter der Überschrift „Wutwinter“ und „heißer Herbst“ auf die Straße zu tragen. Durch das ständige gesellschaftliche und mediale Aufgreifen dieser Schlagworte wurde damit unreflektiert eine rechtsalternative Aufbruchsrhetorik reproduziert und die weiter oben beschriebene Kontinuität rechter Gewalt und Mobilisierung im gesamten Jahr verharmlost.
Gegenaktivitäten und kritische Zivilgesellschaft
Die rechtsalternativen Mobilsierungen und Aktivitäten werden gleichzeitig seit jeher von einer kritischen Zivilgesellschaft begleitet, welche die Zusammenhänge von extremer Rechter und verschwörungsideologischen Kontexten immer wieder durch Recherche belegen und Gegenaktivitäten organisieren. Einen Erfolg konnte dieses Jahr etwa eine engagierte Nachbar*innenschaft in Winterhude verzeichnen, die die Burschenschaft Germania aus dem Stadtteil vertrieben hat. Außerdem wurden 2022 auf verschiedenen Ebenen queerfeministische, antisemitismuskritische und antirassistische Forderungen und Diskurse vorangetrieben, wie etwa auf unterschiedlichen Festivals in Hamburg.
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