Der Text basiert auf einem Interview mit Daniel Trepsdorf von der RAA – Demokratie und Bildung Mecklenburg-Vorpommern.
Im Jahr 2022 prägten und koordinierten rechtsextreme Akteur*innen die Anti-Corona-Demonstrationen in Mecklenburg-Vorpommern. Die unheilige Allianz aus Pandemieleugner*innen, Verschwörungsideolog*innen und Rechtsextremen zeigte sich etwa in Rostock, Neubrandenburg, Stralsund, Ludwigslust, Wismar, Waren (Müritz)sowie der Landeshauptstadt Schwerin. Besonders im ländlichen Raum waren die Aufmärsche gut besucht. Ihren Höhepunkt erreichten die Proteste zu Beginn des Jahres. In Westmecklenburg betreibt Daniel Gurr einen einschlägigen Telegram-Kanal mit über 3000 Mitgliedern, wo es zu drastischen Fällen von Antisemitismus und Geschichtsrelativierung kam. Verfassungsschutzrelevante Personen meldeten oftmals die Corona-Demos an, wie etwa Jens Kaufmann aus der Querdenken-Szene, der als Oberbürgermeister Kandidat in Rostock angetreten war und ein Gros der Proteste gegen die Corona-Schutzmaßnahmen angemeldet hatte.
Rechtsextreme fungierten dabei tendenziell eher im Hintergrund. Zu nennen sind dabei Mitglieder aus rechtsextremen Burschenschaften wie der „Redaria-Allemania“ in Rostock oder der „Rugia“ in Greifswald sowie Personen aus dem Rechtsrock-Milieu, der „Identitären Bewegung“ und ehemalige Flügel-Aktivisten aus der AfD wie der Bundestagsabgeordnete Enrico Komning aus Neubrandenburg oder der ehemalige Vorsitzende des AfD-Landesverbandes Dennis Augustin. Des Weiteren waren auch die NPD-Funktionäre Torgai Klingebiel und Andreas Theißen, der früher als NPD-nah geltende Unternehmer Philipp Steinbeck, seit Jahren AfDler, sowie die neu gegründete Kreistagsfraktion „Heimat und Identität“ bei den Corona-Demos mit von der Partie (letztgenannte vor allem im LK Ludwigslust-Parchim).
Offener Schulterschluss bekannter Neonazis
Es kam auch zu einem offenen Schulterschluss zwischen bekannten Altnazis wie dem mehrfach vorbestraften Gewalttäter Sven Krüger, Steffen Borchert von der Hammerskin-Bewegung und Daniel Sebbin von der „Identitären Bewegung“, die sich bei einer Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen eingehakt an die Spitze des Aufmarschs gestellt hatten. An der Demonstration nahmen 3000 bis 4000 Menschen teil. Im Zuge der Veranstaltung wurde eine Polizeikette durchbrochen. Auch fanden Sicherheitskräfte bei einem Teilnehmer eine selbst gebaute Schusswaffe, die laut Landeschusswaffenamt eine tödliche Wirkung gehabt hätte.
Mit der Kampagne „Gegengift2022“ versuchte die NPD im Querdenken-Milieu zu fischen und warb für den „Widerstand gegen das System“. Auf einer verschwörungsideologischen Demonstration in Schwerin traten NDP und JN-Kader komplett vermummt auf, teilweise ausgestattet mit Quarzhandschuhen, Todschlägern und Reizgas.
Rechtsextreme streiten über russischen Angriffskrieg
Seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine hat sich die rechtsextreme Szene in Mecklenburg-Vorpommern aufgespalten: in Unterstützer*innen und Gegner*innen des russischen Imperialismus. Im Februar 2022 rekrutierte eine Sektion der „Neue Stärke“-Partei Kämpfer, um das ukrainische Asow-Regiment zu verstärken. Zugleich gab es prominente Akteure wie Daniel Fiss von der „Identitären Bewegung“, letztere stellte sich ideologisch primär auf die Seite Russlands. Der Konflikt wurde auch in Szene-Foren im Netz ausgetragen.
Auch die ehemalige Corona-Proteste schwenkten im Jahresverlauf thematisch um und forderten Frieden mit Russland und niedrige Energiepreise. In diesem Zusammenhang diskutierte die Querdenken-Szene vor allem eine Öffnung der Erdgas-Pipeline Nordstream 2, die aufgrund des russischen Angriffskriegs nicht in Betrieb genommen wurde und die für Mecklenburg-Vorpommern, ein Bundesland mit wenig Industrie und schwacher Wirtschaft, einen hohen Stellenwert einnimmt. In Lubmin in der Nähe von Greifswald demonstrierten im September Hunderte für eine Öffnung der Ostsee-Pipeline Nordstream 2. Ende des Monats versammelten sich 3.500 in Lubmin, um gegen die Energiepolitik der Bundesregierung, für die Öffnung von Nordstream 2 sowie ein Ende der Sanktion gegen Russland zu demonstrieren. Organisator der Kundgebung war Martin Klein, Mitglied der Partei „Die Basis“. Nach Angaben von Endstation Rechts war auch der ehemalige Landesvorsitzender der AfD in Brandenburg Andreas Kalbitz, der wegen seiner Rechtsextremen Vergangenheit aus der Partei ausgeschlossen worden war, unter den Redner*innen.
Landesweit kam es an zahlreichen Standorten zu Montagsdemonstrationen. Ende September gingen etwa 3.500 Menschen in Schwerin gegen die Folgen der Energiekrise und die hohe Inflation auf die Straße. Dabei waren auch viele, die im Frühjahr gegen die Corona-Schutzmaßnahmen protestiert hatten. Auch Rechtsextreme versuchten die Themen Energie und Inflation im Zuge des herbeigesehnten „Heißen Herbstes“ zu besetzen, so etwa die Partei „Heimat und Identität“, die „Identitäre Bewegung“, die Burschenschaft-Szene sowie Teile des ehemaligen Flügels in der AfD.
Brandstiftung in Asylunterkunft
In weiten Teilen Mecklenburg-Vorpommern zeigten viele Menschen große Solidarität mit Geflüchteten aus der Ukraine. An mehreren Orten wurden Hilfsorganisationen oder Aktiven aus der Solidaritätsbewegung mutmaßlich von Mitgliedern der rechtsextremen Szene bedroht, z.B. in dem Reifen ihrer Autos zerstochen (Schwerin) wurden.
In Groß Strömkendorf kam es im Oktober zu einer Brandstiftung auf eine Asylunterkunft, in der ukrainische Geflüchtete untergebracht waren. Die genauen Hintergründe sind bislang nicht aufgeklärt. Ein Feuerwehrmann wurde als „Feuerteufel“ festgenommen, die Oberstaatsanwaltschaft sah bis zum Redaktionsschluss kein menschenfeindliches respektive rassistisches Motiv. Zivilgesellschaftliche Organisationen in Mecklenburg-Vorpommern vermuten indes, dass zum jetzigen Zeitpunkt rassistische Beweggründe des Täters nicht generell ausgeschlossen werden sollten.
Verfestigte Vernetzungsstrukturen
Für Mecklenburg-Vorpommern besonders prägend sind ausgebaute und verfestigte Vernetzungsstrukturen der Neonazi im ländlichen Raum. Dort treiben beispielsweise völkische Siedler aus der brauen Ökologiebewegung oder rechtsextreme Handwerker*innen-Netzwerke ihr Unwesen. Für Rechtsextreme fungiert das Bundesland als eine Art Experimentierfeld, dass sich durch die dünne Besiedlung und eine relativ konforme Landbevölkerung, eignet, Arbeitsstrukturen, günstige Unterkünfte und ideologische Netzwerke aufzubauen.
Die völkischen Siedler, laut dem ehemalgien Bundesvorsitzenden der NPD Udo Pastörs, die „Speerspitze der nationalen Erneuerungen“, laufen weitestgehend unter dem Radar der Sicherheitsbehörden, da sie sich in privaten Organisationsformen der Observation entziehen können. Gewaltbereite Neonazis finden hier ihre Rückzugsorte, Arbeit und Wohnraum. In den sozialen Netzwerken werden gezielt neue Mitglieder angeworben.
Im Sommer ereigneten sich im Grenzraum der Bundesländer MV und Brandenburg völkische Sommercamps der rechtsesoterischen „Anastasia Bewegung“, deren Akteure teilweise in Nachfolgeorganisationen der verbotenen neonazistischen „Heimattreuen Deutschen Jungend“ oder der „Wiking Jugend“ aktiv sind. In den Landkreisen Vorpommern-Greifswald und Mecklenburgische Seenplatte kam es erneut zur Realisierung rechtsextremer Sommercamps für Kinder und Jugendliche der Szene. So hielt der verurteilte Holocaust-Leugner Bernhard Schaub in diesem Jahr auf seinem Grundstück in der Nähe von Demmin ein völkisches Jugendcamp ab. Die Polizei war vor Ort, konnte aber offensichtlich in der Lagebeurteilung keine Hinweise finden, dass es sich um ein verfassungsfeindliches Lager handelte.
Altnazi-Strukturen gehen bis ins organisierte Verbrechen hinein, beispielsweise ins Rockermilieu. Das zeigten nicht zuletzt der mittlerweile verbotene Motorrad-Club „Schwarze Schaar“ (verboten 2013), die bewusst den Bezug zur SS wählten und unter anderem Drogenhandel und Prostitution betrieben. Akteure der Szene und ehemalige Mitglieder sind nach wie vor in Kameradschafts- und Milieustrukturen involviert. Kritisch zu beäugen ist u. a. Sebastian Kairies (Ex-Gefolgsmann von Rocker-Chef Philipp Schlaffer, verurteilter neonazistischer Gewalttäter und ehemaliger Akteur im Rotlichtmilieu). Bis heute hat sich Kairies offiziell nicht persönlich von der rechtsextremen Szene distanziert. Schlaffer indes gilt als Aussteiger und klärt in Schulbesuchen über Rechtsextremismus auf. Auch mit dem VS im Nachbarbundesland Schleswig-Holstein kooperiert er.
Die rechtsextreme Szene in Mecklenburg-Vorpommern hat mutmaßlich erhebliche Geldmittel zur Verfügung. Als ein möglicher Finanzier könnte der Unternehmer und Tankstellen-Betreiber Philipp Steinbeck in Frage kommen. Er stand 2011 auf einer Spendenwerbeliste der NPD und arbeitete einst für die Landtagsfraktion der rechtsextremen Partei „Deutsche Liga für Volk und Heimat“ in Schleswig-Holstein. Steinbeck besitzt mutmaßlich mehre Immobilien in Mecklenburg-Vorpommern, so auch das Schloss Jessenitz. Dort finden regelmäßig Spendenkampagnen statt, in jüngster Vergangenheit auch für die AfD. Udo Pastörs und P. Steinbeck organisierten in der Region bereits Fackel-Aufmärsche und Demonstrationen. Der gelernte Goldschmied Pastörs betreibt einen florierenden Goldhandel und ist Besitzer mehrerer Immobilien. Auch Sven Krüger mit seinem Handwerker-Netzwerk ist mutmaßlich finanziell gut aufgestellt. Im August verkaufte der vorbestrafte Rechtsextremist und im Nazi-Dorf Jamel ansässige Abrissunternehmer Krüger sein „Thinghaus“ in Grevesmühlen, das über zehn Jahre ein Treffpunkt der rechten Szene gewesen war. Auch in Groß Krams (Landkreis LWL/PCH) versuchen bekennende Faschisten und Neonazis um Sebastian Richter (ehemaliger JN-Chef) oder Ragnar Böhm eine weitere „national befreite Zone“ zu etablieren und setzen die Zivilgesellschaft im dortigen ländlichen Raum erheblich unter Druck. Diffamierungskampagnen und Einschüchterungsversuche (insbesondere gegen die Bürgerinitiativen „Groß in Krams“ sowie „Wage Mut“) sind an der Tagesordnung.
Nazis mit bürgerlichem Anstrich
In Mecklenburg-Vorpommern treten Rechtsextreme, wie weiter oben dargestellt, zunehmend im vermeintlich bürgerlichen Gewand auf. So etwa Sebastian Kairies, der nicht lediglich ein ehemaliges führendes Mitglied des mittlerweile verbotenen, kriminellen neonazistischen Motorad-Clubs „MC Schwarze Schaar“ war, sondern auch mit dem Tattoo-Studie „Iron Needle“ (über Jahre ein wichtiger Neonazi-Treff) verbandelt gewesen ist. Er steht hinter dem Verein „Tätowierte gegen Krebs“, der vermeintlich karitative Projekte für Krebsleidende initiiert. Kairies ist nach wie vor mit seinen alten Kameraden unterwegs und versucht mittels eines bürgerlichen Anstriches, Einfluss in Mecklenburg-Vorpommern auszuüben.
Um die Organisationen des autonomen rechten Kameradschaftswesen (z.B. Freie Kameradschaft Wismar, Mecklenburgische Aktionsfront, Kameradschaft Schwerin etc.) im Westen Mecklenburg-Vorpommerns ist es offiziell ruhiger geworden, teilweise schon seit Jahren. Letztere haben ihre Aktivität aber niemals vollkommen eingestellt und machen zumindest innerhalb der Szene weiterhin mobil. Die ehemaligen Kameradschaftsmitglieder blasen nicht mehr zum Aufmarsch, sondern unterwandern Strukturen im ländlichen Raum, wie die Organisationen von Dorffesten oder freiwilligen Feuerwehren. So kommen Neonazistrukturen im bürgerlichen Alltagsleben an und unterminieren den demokratischen zivilgesellschaftlichen Raum in dem nordöstlichen Bundesland.
Insbesondere Frauen aus der rechtsextremen Szene fassen Fuß in pädagogischen Einrichtungen. So versucht Birkhild Theißen, die Frau von AfD-Mitglied Andreas Theißen, durch ihre Tätigkeit als Erzieherin ideologisch bei Kindern und Jugendlichen anzudocken. Oft fehlen Jugendämtern und Schulen das Hintergrundwissen über Biografien und Netzwerke der Rechtsextremen in Mecklenburg-Vorpommern.
Einschüchterung demokratischer Akteur*innen
Im Jahr 2022 kam es zu zahlreichen rechtsextremen Verunglimpfungen bzw. verbale Übergriffe gegen demokratische Akteur*innen in Mecklenburg-Vorpommern. Diese finden sowohl auf kommunaler Ebene als auch anonymisiert im Netz stand. Dabei werden Personen aus dem linken Parteienspektrum, aber auch christlich Engagierte offen rassistisch und antisemitisch attackiert. Auch wirken Rechtsextreme massiv einschüchternd auf demokratische Akteur*innen in Kommunal- und Gemeindeparlamente ein.
In Landkreis Ludwigslust-Parchim wurden „Demokratie Leben“-Plakate gefälscht und verunglimpft. Auf diesen wurde dazu aufgerufen, dass auch völkische Verbände und nationale Kultur gefördert werden solle. Die Partei „Heimat und Identität“ kommentierte die Aktion mit Wohlgefallen. Wer hinter der den Plakaten steckt, ist bisher nicht geklärt.
NPD in Lauerstellung
Obwohl die NPD vielerorts bereits totgesagt wird, ist sie in Mecklenburg-Vorpommern noch eine schlagfertige Truppe. In Personalunion mit ehemaligen Flügel-Mitgliedern der AfD steuern sie viele politische Aktionen aus dem Hintergrund, wie beispielsweise das Handwerker-Netzwerk um Alexander Wendt, Sven Bannertz, Enriko Pflugradt, Dietmar Speckin, Tobias Schmidt und Sven Krüger.
Die NPD ist zudem noch gut in Kommunal- und Gemeindeparlamenten vertreten, verfügt über eine (wenn auch nicht offiziell etablierte) Immobiliengenossenschaft und Infrastruktur. Damit befindet sich die NPD im ländlichen Raum in Mecklenburg-Vorpommern mit vergleichsweise hohem Mobilisierungspotential in Lauerstellung. Seit Jahren ist auch das ehemalige NPD-Mitglied Rüdiger Hoffmann im Bundesland unterwegs und treibt die Reichsbürger-Vernetzung in den nördlichen Bundesländern Schleswig-Holstein, Hamburg, Niedersachen und Mecklenburg-Vorpommern voran.
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