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Jahresrückblick 2022 NRW – Zwischen Verschwörungsideologien, Netzwerkarbeit und Gewalt

Blick auf den Eingang des Don-Bosco-Gymnasiums, der Schule des 16-Jährigen, der jetzt wegen Rechtsterrorismus-Verdacht in Untersuchungshaft sitzt. (Quelle: picture alliance/dpa | Roberto Pfeil)

 

Rechter Terror – Alles Einzeltäter*innen?

Am 11. August 2022 nahm sich ein 69-jähriger ehemaliger Offizier der Bundeswehr auf seinem Grundstück im sauerländischen Attendorn mit einem Sprengkörper das Leben. Kurz zuvor hatte die Polizei das Anwesen durchsucht und war fündig geworden: Die Beamt*innen beschlagnahmten nicht weniger als 90 Waffen, Waffenteile sowie Munition, von denen mindestens 27 gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz verstießen. Zudem stießen die Ermittler*innen bei dem Pensionisten, der sich bereits vor zehn Jahren wegen unerlaubtem Waffenbesitz vor Gericht hatte verantworten müssen, auf „Gegenstände und Dokumente“, die auf eine „deutlich rechtsgerichtete Gesinnung […] schließen ließen“, wie die Zeitung Westfalenpost berichtete.

Ein nach der Razzia gegen ihn erlassener Haftbefehl wurde jedoch außer Vollzug gesetzt. Am folgenden Tag beging der 69-Jährige Suizid. Unklar bleibt somit bis heute, aus welchen Gründen der frühere Bundeswehrangehörige, der sich vor Gericht selbst als „Waffenliebhaber“ stilisierte, das riesige Waffendepot angelegt hatte, ob es weitere bislang unentdeckte Waffenlager gibt und über welche Kontakte der Attendorner verfügte. Bemerkenswert ist indessen, dass der mutmaßlich größte Waffenfund des Jahres 2021 in NRW bei einer nachweislich extrem rechts eingestellten und bereits einschlägig vorbestraften Person über die regionalen Medien hinaus kaum Aufmerksamkeit erregte. Die in ähnlichen Fällen vielfach verbreitete, entpolitisierende und verharmlosende Deutung, es habe sich wieder einmal nur um einen alleinstehenden, womöglich verwirrten „Waffennarr“ gehandelt, mag sich somit auch hier als wirkmächtig erwiesen haben. 

Verhinderter Anschlag in Essen-Borbeck

„Einzeltäter“-Narrative, prägten jedoch nicht nur in Attendorn, sondern auch bei anderen extrem rechten, gewaltförmigen Vorfällen in NRW im Jahr 2022 die öffentliche Wahrnehmung und behördliche Interpretationen. So etwa im Mai 2022, als nach einem Hinweis eines Mitschülers die Polizei einen offenkundig geplanten Anschlag eines damals 16-jährigen Jugendlichen an einer Schule in Essen-Borbeck verhindern konnte. Bei seiner Festnahme in der elterlichen Wohnung wurden Waffen, Materialien zum Bombenbau, etwa Nägel und Rohrkörper sowie extrem rechte, antisemitische und rassistische Schriften gefunden. In einem „Manifest“ fantasierte der Schüler von einem „Rassenkrieg“, den er mit seinem Anschlag auslösen wollte, und rückte die von ihm geplante Tat somit in eine Reihe mit den Anschlägen in Halle (2019), Hanau (2020) oder Christchurch (2019), bei denen die Täter ähnlich rassistische, antisemitische, antifeministische und verschwörungsideologische Traktate veröffentlichten.

Ob es sich bei dem geplanten Anschlag somit lediglich um den „dringenden Hilferuf eines verzweifelten jungen Mannes“ handelte, wie der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul (CDU) unmittelbar nach dessen Festnahme mutmaßte, erscheint indessen zweifelhaft. Extrem rechte, teilweise NS-apologetische Haltungen waren und sind im Elternhaus des heute 17-jährigen offenbar durchaus verbreitet. Er selbst tummelte sich in rassistischen und verschwörungsideologischen Internetforen. Obgleich er auf lokaler und regionaler Ebene augenscheinlich nicht über entsprechende Kontakte und Netzwerke verfügte, wies die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus im Regierungsbezirk Düsseldorf darauf hin, dass im Essener Stadtteil Borbeck, in dem der Schüler lebte, in den 2000er Jahren extrem rechte und neonazistische Strukturen und Akteur*innen sehr wohl und durchaus erkennbar, etwa durch Graffitis und einen extrem rechten Bekleidungsladen präsent waren (vgl. Belltower.News).

Von einer weltanschaulich gefestigte Haltung des heute 17-Jährigen, der sich seit dem 9. Dezember 2022 vor dem OLG Düsseldorf  wegen „Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Straftat“ und Verstößen gegen das Waffen- und Sprengstoffgesetz verantworten muss, zeugt aber auch, dass der Jugendliche in der Untersuchungshaft gegenüber JVA-Mitarbeitenden seine Bewunderung für die rassistischen Anschläge in Norwegen, Christchurch, Columbine und Halle zum Ausdruck gebracht hat.

Anschläge in Oberhausen und Mönchengladbach

Scheiterten die Anschlagspläne in Essen glücklicherweise, kam es an anderen Orten in NRW jedoch offenkundig zu gut vorbereiteten, extrem rechten Anschlägen. So detonierte Anfang Juli 2022 ein Sprengsatz vor dem in der Oberhausener Fußgänger*innenzone gelegenen Linken Zentrum. Dabei gingen die Schaufensterscheiben zu Bruch, verletzt wurde niemand. Die Täter*innen blieben bislang unbekannt, Die Linke Oberhausen geht jedoch von einem extrem rechten Anschlag aus, zumal es in der Vergangenheit wiederholt Farbattacken und Drohbriefe gegen das Parteibüro gegeben hatte.

Gleichermaßen unaufgeklärt blieb ein ebenfalls Anfang Juli 2022 verübter Brandanschlag auf ein Auto in Mönchengladbach, unter dem zudem ein mit einem Hakenkreuz versehener Sprengsatz deponiert worden war, der jedoch nicht explodierte. Aber nicht nur diese hier exemplarisch genannten Anschläge und Anschlagsversuche dokumentieren die hohe Gewaltbereitschaft, die von extrem rechten Akteur*innen – organisiert oder unorganisiert –  in NRW im Jahr 2022 ausging. 

10 Jahre nach dem Verbot des NWDO – Die Dortmunder Neonaziszene

Auch die seit Jahren bestehenden militant-neonazistischen Szenen sind weiterhin ideologisch, rhetorisch, habituell und im Hinblick auf ihren Aktionismus von einer unverhohlenen Gewaltaffinität geprägt, wenngleich – oder gerade weil – deren Strukturen und Aktivitäten im zurückliegenden Jahr vielfach stagnierten. Das gilt in besonderem Maße für die Partei Die Rechte, deren Mobilisierungsfähigkeit wie schon in den vergangenen Jahren weiter zurückging. Im Jahr 2021 hatte die Partei noch großspurig ihre Teilnahme an der nordrhein-westfälischen Landtagswahl im Mai 2022 verkündet und hierfür eine Kandidatenliste aufgestellt, auf der mit René Laube, Christian Malcoci, Manfred Breidbach, Henry Schwind, Alexander Deptolla und Siegfried Borchardt (verstarb Oktober 2021) langjährige berüchtigte Neonazikader vertreten waren. Im März 2022 zog sie ohne weitere Begründung ihre Liste zurück.

Auch mit ihren straßenpolitischen Aktivitäten konnte Die Rechte keine nennenswerten Akzente nach innen und außen setzen. Die Zeiten, in denen besonders die Dortmunder Neonazistrukturen etwa mit dem „Nationalen Antikriegstag“, dem „Tag der deutschen Zukunft“ (2016) oder den Aufmärschen anlässlich des 1. Mai überregional beachtete Szeneevents organisieren konnten, scheinen zumindest vorläufig vorbei. Am 1. Mai 2022 trotteten lediglich 220, teilweise aus anderen europäischen Ländern angereiste Neonazis beschützt von einem riesigen Polizeiaufgebot und punktuell begleitet von lautstarken antifaschistischen Protesten durch die Dortmunder Innenstadt.

Aufbruchsstimmung sieht anders aus und so verwundert es nicht, dass Die Rechte auch rund um den 10. Jahrestag des Verbots des Nationalen Widerstand Dortmund (NWDO) im August 2022 keine nennenswerten Aktivitäten entfaltete, obgleich dem Datum (23. August 2012) in ihrer Propaganda seit jeher große Bedeutung zukam. Den größten Zulauf hatte Mitte Januar 2022 die Beisetzung des Anfang Oktober 2021 verstorbenen Siegfried Borchardt auf dem Dortmunder Hauptfriedhof, an der rund 250 Neonazis aus dem In- und Ausland teilnahmen. Im Vorfeld war die Stadtverwaltung mit ihrem Vorhaben, Borchardt in einem anonymen Grab zu bestatten, um auf diese Weise eine etwaige extrem rechte „Pilgerstätte“ zu verhindern, juristisch gescheitert.  Die Befürchtung, der Todestag des langjährigen Szenekaders (3. Oktober) könne sich zu einem mobilisierungsfähigen Datum für die in ihren Aktivitäten stagnierende lokale und regionale Neonaziszene entwickeln, bewahrheitete sich glücklicherweise bislang jedoch nicht. 

„Bringin‘ it down“ – antifaschistisches Engagement

Die Gründe für deren schon seit Jahren zu konstatierenden Niedergang sind vielschichtig. Der Wegzug prominenter Szenekader wie Dennis Giemsch (nach Niedersachsen) oder Michael Brück (nach Chemnitz) ist hier ebenso zu nennen, wie einzelne Maßnahmen staatlicher Repression. So wurden etwa im Mai 2022 fünf (von insgesamt zehn angeklagten) Neonazis vom Landgericht Dortmund wegen „Volksverhetzung“ verurteilt, nachdem sie bei einer Demonstration im September 2018 die Parole „Wer Deutschland liebt, ist Antisemit“ skandiert hatten, ohne dass die Polizei zunächst eingeschritten war. Im November 2022 wurden schließlich die Neonazikader Sven Skoda (Düsseldorf) und Alexander Deptolla vom Amtsgericht Dortmund zu Geldstrafen verurteilt, nachdem sie fünf Jahre zuvor, im Dezember 2016 kurzfristig den Turm der Reinoldikirche in der Dortmunder Innenstadt besetzt, Pyrotechnik gezündet und islamfeindliche Parolen verbreitet hatten.

Vor allem waren und sind es aber die kontinuierlichen antifaschistischen Aktivitäten in der Stadt, die etwa Michael Brück zu der desillusionierten Einschätzung brachten, dass es in Dortmund „unmöglich“ sei, „breite Bevölkerungsteile“ zu erreichen. Ende August 2022 demonstrierten beispielsweise mehrere Hundert Menschen unter dem Motto „Bringin’ it down – Beständig und konsequent gegen rechte Strukturen“ in der Innenstadt und im Stadtteil Dorstfeld.

 Agitation in der Provinz – Der III. Weg

Mit wachsendem zivilgesellschaftlichen und antifaschistischen Gegenwind sieht sich auch die militant-neonazistische Kleinstpartei Der III. Weg konfrontiert, die seit einigen Jahren versucht, im Sauer- und Siegerland gefestigte Strukturen aufzubauen. In diesem Kontext versucht sie schon seit einiger Zeit Kontakte und Vernetzungen in das extrem rechte Hooliganspektrum im Umfeld des Sportvereins Sportfreunde Siegen aufzubauen. Im Juni 2022 musste die Partei dabei zunächst einen Rückschlag hinnehmen, als sie ihr „Parteibüro“ in Siegen räumen musste, da der Mietvertrag nicht verlängert worden war.

Einige Wochen später eröffnete Der III. Weg jedoch im 20 Kilometer entfernten Hilchenbach (Kreis Siegen-Wittgenstein) ein neues „Bürgerbüro“ in einem Haus in der Altstadt, das von Parteikader Julian Bender erworben wurde, jedoch weiterhin Gegenstand juristischer Auseinandersetzungen mit der Stadt Hilchenbach ist. Die extrem rechten Aktivitäten vor Ort haben seitdem jedoch erkennbar zugenommen. Neben mehreren kleineren Aktionen organisierte Der III. Weg Anfang September 2022 einen „Tag der Heimattreue“, an dem rund 100 Neonazis teilnahmen, der jedoch von breiten zivilgesellschaftlichen Gegenprotesten begleitet wurde.

RechtsRock in Ostwestfalen

Aber auch in anderen Regionen Nordrhein-Westfalens waren im Jahr 2022 neonazistische Netzwerke und Akteur*innen aktiv. So fand im Mai 2022 in der ostwestfälischen Stadt fand Porta Westfalica (Kreis Minden-Lübbecke) zum wiederholten Mal ein RechtsRock-Konzert statt. Der langjährige Neonazi Marcus Winter hatte hierfür ein Gebäudeteil auf dem Gelände einer ehemaligen Gärtnerei  im Stadtteil Veltheim angemietet. Organisiert wurde das Konzert von der lokalen Neonazi-Gruppe Mindener Jungs rund um Marcus Winter und Dirk Fasold. Das Konzert bei dem u.a. die Dortmunder Band Oidoxie auftrat, war den Polizeibehörden bekannt, blieb aber von den Strafverfolgungsbehörden unbehelligt. Es war nach Angaben des antifaschistischen Recherchekollektivs Ostwestfalen bereits die fünfte) RechtsRockveranstaltung, die auf dem Gelände stattfand. Ein weiteres, für Anfang November 2022 angekündigtes Konzert wurde nach antifaschistischen und zivilgesellschaftlichen Interventionen abgesagt.

Marcus Winter indessen verschickte Anfang Dezember eine mit einem Video versehene Drohnachricht an eine antifaschistisch engagierte Person, die durchaus als Morddrohung verstanden werden konnte. Bereits in der Vergangenheit war der Mindener Neonazi wiederholt mit Einschüchterungsversuchen gegenüber Andersdenkenden und Journalist*innen in Erscheinung getreten.

 Grundsätzlich rechtsoffen: Verschwörungsideologien als weltanschaulicher Kitt

Inhaltlich versuchten alle hier erwähnten neonazistischen Spektren wie auch schon im Jahr zuvor an die Proteste von Coronaleugner*innen, Impfgegner*innen und Verschwörungsideolog*innen anzuknüpfen. Anfang November 2022 beteiligte sich etwa in Bielefeld ein Block von ca. 25 teilweise vermummten und mit Quarzsandhandschuhen ausstaffierten neonazistischen und völkischen Aktivist*innen an einer Demonstration der verschwörungsideologischen Gruppe „Bielefeld steht auf (BSA)“, bei der insgesamt rund 400 Personen mitliefen. In einer Analyse attestiert das Recherchekollektiv Ostwestfalen der BSA neben der systematischen Leugnung der Coronapandemie und des Klimawandels, die notorische Verbreitung von „refugee-feindlicher, explizit rassistischer Agitation sowie trans- und homofeindlicher Hetze.“ Von einer gegen die Intentionen der Gruppe stattfindenden „Unterwanderung“ durch extrem rechte Akteur*innen könne daher nicht gesprochen werden.

Die bewusste Akzeptanz offen extrem rechter Gruppierungen vor dem Hintergrund gemeinsam geteilter Ressentiments und weltanschaulicher Überzeugungen kennzeichnete auch die Corona- und Impfgegner*innenproteste an anderen Orten, so etwa auch in Bonn, Aachen, Gummersbach oder in Köln, wo beispielsweise mit Thomas Breuer und Jan Fartas, zwei Neonazis  aus dem Spektrum der Gruppe Köln für deutschen Sozialismus wiederholt vorne mitmarschierten. Das Protestmilieu erwies sich somit auch in NRW im Allgemeinen als rechtsoffen und bot darüber hinaus vielfach einen Referenzrahmen, indem selbst die Drohung mit oder die Anwendung von Gewalt als legitim angesehen wurde. Mitte Januar 2022 wurde etwa ein Politiker von Die Linke im Kreis Wesel offen bedroht, nachdem er sich kritisch zu den „Corona-Spaziergängen positioniert hatte. Anfang Februar wurde in Südlohn (Kreis Borken) eine Corona-Teststation mutwillig beschädigt, in Waldbröl (Oberbergischer Kreis) brannte ein Coronatest-Drive-in, während der Bürgermeister von Ochtrup (Kreis Steinfurt) und eine Pfarrerin in Herne ebenfalls Anfang des Jahres Drohschreiben erhielten.

Netzwerkbildung: Pandemieleugner*innen, Reichsbürger*innen, völkische Siedler*innen

Insgesamt war die Anziehungskraft der Demonstrationen und „Spaziergänge“ jedoch im Verlauf des Jahres rückläufig. Beteiligten sich Anfang 2022 noch teilweise mehrere Tausend Personen an den Versammlungen – so etwa 3.400 Menschen an einer „Querdenken“-Demonstration Anfang März 2022 in Herne –, pendelte sich in der Folgezeit die Größenordnung der Veranstaltungen auf einem wesentlich niedrigerem Niveau ein. Der vielfach beschworene „heiße Herbst“ mit den aus diesem Spektrum angekündigten Energiepreisprotesten, flankiert von deutlich prorussischen Positionierungen in der Bewertung des Angriffskriegs gegen die Ukraine, blieben im Hinblick auf ihre Mobilisierungsfähigkeit bislang deutlich hinter den Erwartungen zurück.

Gleichwohl lassen sich weitere Vernetzungen zwischen unterschiedlichen Akteur*innen verschwörungsideologischer Szenen feststellen. Auf einem Privatgrundstück in Reichshof Heseln (Oberbergischer Kreis) fand Ende September 2022 ein sogenanntes „WirKreis-Treffen“ aus dem Umfeld der regional gut vernetzten und aktiven Impfgegner*innen- und Reichsbürger*innenszene statt. Hierfür war der bekannte Anastasia-Anhänger Peter Kittl aus Österreich angereist, der offenkundig mit dem im Oberbergischen Kreis recht umtriebigen Christoph Schäl eng kooperiert. Der ehemalige Bundeswehrsoldat hat in der Region bereits eine Reihe „Solidarischer Landwirtschaften“ gegründet und forciert die überregionale Vernetzung mit verschwörungsideologischen Szenen.

Einen weiteren Schwerpunkt bildet Beobachtungen der Antifaschistischen Recherche Oberberg (AROB) zufolge, die Gründung von „Freien Schulen“ – etwa in Windeck, wo das örtliche Projekt den Angaben von AROB zufolge „im engen Zusammenhang mit der anthro-nahen ‚Freien Schule‘“ in Nümbrecht-Berkenroth (OBK) steht. Die Schulleiterin sei „aktiv in QAnon- und „Anastasia“-nahen Telegram-Gruppen.“ Die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus im Regierungsbezirk Köln (MBR) vermutet, dass weitere von der Anastasia-Bewegung und dem „Freilernen“ beeinflusste „Freie Schulen“ derzeit mindestens in Köln, Hennef, Solingen entstehen. In diesem Zusammenhang betont die MBR, dass weder das Konzept der „Freien Schulen“ noch die Solidarische Landwirtschaft per se „rechts“ oder esoterisch seien. Es bestehe aber durchaus die Gefahr, dass derartige Projekte von rechtsökologischen Aktivist*innen, Verschwörungsideolog*innen oder völkischen Siedler*innen unterwandert, gekapert oder verdeckt gegründet werden.

Konsoldierung oder Stagnation? Die AfD nach der Landtagswahl

Aber nicht nur neonazistische, völkische, reichsideologische und rechtsökologische Gruppen und Akteur*innen tummelten sich im vergangenen Jahr bei Coronaleugner*innen und Impfgegner*innenprotesten, auch die AfD versuchte das Thema sowie die Proteste gegen die Energiepreissteigerungen für sich zu nutzen – dies allerdings mit mäßigem Erfolg. Das Ergebnis der Landtagswahl im Mai 2022 fiel mit 5,44 Prozent und somit einem Verlust von 2 Prozent gegenüber der Landtagswahl 2017 relativ ernüchternd aus. Der knappe Einzug in den Landtag bescherte der AfD zwar 12 Mandate, konnte aber kaum kaschieren, dass die in NRW in den vergangenen Jahren notorisch zerstrittene Partei lediglich einen schleppenden Wahlkampf, mit überwiegend schlecht besuchten Wahlkampfveranstaltungen zustande gebracht hatte, die im Wesentlichen von Polemiken gegen die Coronaschutzmaßnahmen, aber auch vom üblichen Repertoire an rassistischer und ethnisierender Agitation geprägt war. Der Wahlkampfauftakt im April vor 150 Anhänger*innen im strömenden Regen in Gelsenkirchen, ging zu großen Teilen Glockengeläut der anliegenden evangelischen und katholischen Kirchengemeinden unter, die auf diese Weise gegen die Veranstaltung der extrem rechten Partei protestierten. Dadurch wurde zumindest zeitweise die massive antiziganistische Hetze, die vor allem der AfD-Europaabgeordnete Guido Reil verbreitete, übertönt.

Doch auch in ihrer Hochburg Gelsenkirchen musste die AfD Verluste hinnehmen, so etwa im Wahlkreis Gelsenkirchen II, wo die Partei 4,5 Prozentpunkte verlor, gleichwohl aber noch 10,7 Prozent erreichte. Insgesamt konnte bei dieser Landtagswahl die AfD nur noch in zwei Wahlkreisen zweistellige Ergebnisse erzielen (Gelsenkirchen und Duisburg III). In einigen Wahlkreisen, wie etwa in Köln, Coesfeld und Münster, blieb die Partei deutlich unter der 5 Prozent-Marke.

Mit ihrem im Februar 2022 neu gewählten Landesvorsitzenden Martin Vincentz, der nach der Landtagswahl zudem zum Fraktionsvorsitzenden seiner Partei im Landtag avancierte versucht sich die nordrhein-westfälische AfD nunmehr als vermeintlich „seriöse“ Partei zu inszenieren – was in personeller wie auch programmatischer Hinsicht äußerst fragwürdig erscheint. Nach wie vor spielt etwa der Dortmunder Bundestagsabgeordnete Matthias Helferich eine bedeutsame Rolle. Der ehemalige stellvertretende Vorsitzende der Landes-AfD wurde zwar aufgrund bekanntgewordener Chatprotokolle, in denen er sich „als freundliches Gesicht des NS“ bezeichnete aus der Bundestagsfraktion ausgeschlossen, ebenso verlor er seinen Posten im Landesvorstand. Gleichzeitig wurde er aber ins Landesschiedsgericht seiner Partei gewählt – also in jenes Gremium, das über mögliche Sanktionen gegen ihn entscheiden wird. Helferich, der zudem über ein Mandat im Rat der Stadt Dortmund verfügt und innerhalb der Jungen Alternative über eine breite Anhänger*innenschaft verfügt, eröffnete im zurückliegenden Jahr in Dortmund-Dorstfeld ein Wahlkreisbüro, jenem Stadtteil in dem auch die neonazistische Rechte verankert ist.

 Antifeminismus und Queerfeindlichkeit als Programm

Inhaltlich versuchte sich die AfD und ihr Umfeld wie auch schon in den vergangenen Jahren, mit antifeministischen und transfeindlichen Positionen zu profilieren. Im Juni 2022 stellte etwa die AfD-Fraktion in der Landesversammlung des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe Räumlichkeiten für einen „Frauenkongress“ im Landeshaus in Münster zur Verfügung. Eingeladen hatte die neurechte Gruppe Lukreta, einem aus der Identitären Bewegung hervorgegangenen Projekt, das traditionelle Geschlechterrollen postuliert, sich gegen Schwangerschaftsabbrüche stellt, LGBTIQ-feindliche Verlautbarungen verbreitet und notorisch eine rassistische Instrumentalisierung sexueller Gewalt betreibt (vgl. Belltower.News).

An der von antifaschistischen Protesten begleiteten Veranstaltung in Münster nahmen demnach Luketa-Aktivistin Reinhild Boßdorf sowie ihre Mutter Irmhild Boßdorf teil, die zudem als Sprecherin der AfD Rhein-Sieg und als Fraktionsgeschäftsführerin der AfD im Landschaftsverband Rheinland firmiert. Mit dabei war auch die neurechte Influencerin Nina Charlotte Hörig (Berlin), die unter dem Künstlername Vanmeer als Schauspielerin arbeitet und in extrem rechten Kontexten als „Charlotte Corday“ auftritt. Als Referentinnen standen zudem Enxhi Seli-Zacharias (MdL Gelsenkirchen) und Gerrit Huy, AfD-Bundestagsabgeordnete aus Bayern, auf dem Programm.

Im Oktober 2022 nahm Reinhild Boßdorf auf Einladung des Europaparlamentsabgeordneten Gunnar Beck (AfD) an einer Podiumsveranstaltung zum Thema „Feminismus von Rechts“ der EU-Parlaments-Fraktion Identität und Demokratie teil, bei der sie gemeinsam mit der  EU-Abgeordneten Patricia Chagnon (Rassemblement National) und Christine Anderson (AfD) – konnotiert von transfeindlichen Ressentiments – über Frauenbilder diskutierte (vgl. Belltower.News).

Bereits anlässlich des Weltfrauentages am 8. März hatte die AfD-Landtagsabgeordnete Iris Dworeck-Danielowski der Lukreta-Aktivistin ein Forum geboten, als das Social Media-Team des nordrhein-westfälischen Landtages NRW die frauenpolitischen Sprecherinnen der Landtagsfraktionen gebeten hatte, mit einer selbst gewählten Tandem-Partnerin in einem kurzen Statement über „Frauen in Führungspositionen“ und die Bedeutung des „Weltfrauentages“ zu sprechen. In ihren verklausulierten Kernaussagen wandte sich Boßdorf gegen Frauenquoten und bediente auch hier wieder transfeindliche Ressentiments. 

Transfeindliche Gewalt

Dass antifeministischen und LGBTIQ-feindlichen Haltungen auch Taten folgen können, verdeutlichte auf besonders drastische Verweise der brutale Angriff auf Malte C. am Rande des CSD Ende August in Münster. Der 25-jährige trans Mann war eingeschritten als ein 20-Jähriger zwei Frauen sexistisch und queerfeindlich beleidigt hatte. Daraufhin wurde Malte C. von dem Mann mit Fäusten attackiert und so schwer verletzt, dass er wenige Tage später im Krankhaus starb. Die Tat rief große Bestürzung hervor. An der Beisetzung Maltes auf dem Waldfriedhof Lauheide bei Münster nahmen mehrere Hundert Menschen teil. Zu einer Gedenkkundgebung vor dem Rathaus kamen mindestens 6.500 Menschen. Allerdings ereigneten es auch an anderen Orten zu queerfeindliche Übergriffe. So kam es Anfang September am Rande des CSD in Dortmund zu Beleidigungen. Bei der Abreise wurden zwei Menschen angegriffen, mindestens fünf Personen erlitten Verletzungen. 

#Polizeiproblem reloaded?

Extrem rechte, rassistische und demokratieferne Haltungen zeigten sich aber nicht nur bei den bislang hier skizzierten Gruppen, Netzwerken und Akteur*innen, sondern auch innerhalb staatlicher Behörden und Institutionen. Nachdem bereits im Jahr 2020 Chatgruppen bei der nordrhein-westfälischen Polizei, in denen über Jahre hinweg extrem rechte, NS-apologetische und menschenverachtende Inhalte verbreitet und geteilt worden waren in der Öffentlichkeit hohe Wellen geschlagen hatten, wurden im Juli 2022 acht Beamte des Polizeipräsidiums Münster, davon sieben Angehörige des SEK Münster aufgrund extrem rechter Chatnachrichten vom Dienst suspendiert. Im Laufe der Ermittlungen gerieten weitere Beamt*innen aus Steinfurt, Dortmund und vom Landesamt für Aus- und Fortbildung der Polizei in den Fokus.

Ferner wurde im Rahmen der bundesweiten Razzia gegen mutmaßliche Reichsbürger*innen am 7. Dezember 2022 auch die private Wohnung sowie das Büro einer Polizistin aus Petershagen durchsucht, die im Kreis-Minden Lübbecke eingesetzt ist. Gegen die Beamtin erging kein Haftbefehl, sie wurde jedoch vom Polizeidienst suspendiert.

Bereits im Juni 2022 enthüllte das Recherchekollektiv Ostwestfalen, dass eine Polizeikommissarin aus Hannover, die dort als Diensthundeführerin eingesetzt ist und als „Insta-Cop“ für die Polizei Öffentlichkeitsarbeit in den Sozialen Netzwerken machte, eine Liebesbeziehung mit dem Neonazi Jannik R. aus Porta Westfalica führt. Journalistische Recherchen ergaben, dass das niedersächsische Innenministerium bereits im August 2021 Hinweis auf die Liebesbeziehung erhielt und diese Informationen an die Polizeidirektion Hannover weiterleitete ohne dass etwas geschah. Nach der öffentlichen Berichterstattung im Juni 2022 ging das Instagram-Profil offline. Die Beamtin wurde in den Innendienst versetzt (vgl. Belltower.News).

„Es gibt 1000 Mouhameds“ – Tödliche Schüsse in Dortmund

Eine viel grundlegendere und tiefgreifendere Diskussion um Rassismus (nicht nur) in der nordrhein-westfälischen Polizei entwickelte sich aber seit Anfang August 2022, nachdem in der Dortmunder Nordstadt der 16-jährige Mouhamed Lamine Dramé im Hof einer Jugendhilfeeinrichtung von der Polizei durch mehrere Schüsse aus einer Maschinenpistole getötet worden war. Der Jugendliche, der aus Senegal lebte erst seit einigen Tagen in Dortmund und hatte sich womöglich in suizidaler Absicht ein Messer an den Bauch gehalten. In der Version der Polizei, die jedoch von Beginn an von einer kritischen Öffentlichkeit in Frage gestellt wurde, hatte Mouhamed die mindestens 12 eingesetzten Beamt*innen versucht mit dem Messer zu attackieren. Eine Darstellung, die mittlerweile auch die Staatsanwaltschaft in Zweifel zieht. Bei regelmäßigen Kundgebungen und Mahnwachen sowie im Rahmen von öffentlichen Veranstaltungen in den folgenden Tagen und Wochen schilderten zahlreiche Betroffene ihre vielfach von diskriminierenden Praktiken geprägten Erfahrungen mit der Polizei. Im November fand schließlich in Dortmund eine bundesweite Demonstration mit rund 2.500 Teilnehmenden unter dem Motto: „Es gibt 1000 Mouhameds. Sie verdienen Gerechtigkeit“ gegen Rassismus und Polizeigewalt. 

Rassismus und Ideologien der Ungleichwertigkeit auf allen Ebenen zum Thema machen

Zweifellos geht von extrem rechten Gruppierungen, Netzwerken und Akteur*innen, selbst dann wenn sie in ihrer Wirkmächtigkeit auch im vergangenen Jahr oftmals deutlich hinter ihren eigenen propagandistischen Ansprüchen und Selbstinszenierungen zurückblieben auch in NRW weiterhin eine massive Bedrohung aus.  Doch die Diskussion um und Interventionen gegen strukturellen und institutionellen Rassismus – nicht nur – bei der Polizei werden sicherlich auch im kommenden Jahr eine wichtige Rolle spielen.

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