Weiter zum Inhalt Skip to table of contents

Jahresrückblick 2024 Berlin – Zwischen Renaissance und Normalisierung – Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus

Neonazistischer Aufzug "Für Recht & Ordnung: gegen Linksextremismus & politisch motivierte Gewalt“ am 14. Dezember in Berlin Friedrichshain. (Quelle: flickr/RechercheNetzwerk.Berlin)

Wie in vielen anderen Bundesländern fanden auch in Berlin zu Jahresbeginn 2024 zahlreiche zivilgesellschaftliche Demonstrationen gegen Rechtsextremismus und für Demokratie statt. Nachdem das Recherchezentrum Correctiv im Januar einen Bericht über ein Treffen mit der Beteiligung von Rechtsextremen, Unternehmer*innen und AfD-Politiker*innen im November 2023 in Potsdam veröffentlicht hatte, versammelten sich in Berlin hunderttausende Menschen im Regierungsviertel.

Im Zuge der öffentlichen Debatten über die Recherche wurden weitere Verbindungen der Berliner AfD zu rechtsextremen Akteur*innen bekannt. So wurde beispielsweise öffentlich, dass es auch in Berlin bereits im Jahr 2023 zwei Treffen unter Beteiligung von AfD-Politiker*innen gegeben hatte, bei denen das prominente Gesicht der Identitären Bewegung, Martin Sellner, seine Ideen etwa zur „Remigration“ vorstellte; dafür hatte das Parteibüro der AfD im Pankower Ortsteil Blankenburg am 7. November 2023 dem ehemaligen Sprecher der Identitären Bewegung Österreichs eine Bühne geboten. Bereits im Juli 2023 hatte Sellner neben dem AfD-Spitzenkandidaten für die Europawahl, Maximilian Krah, ein Buch bei einem Treffen in der Wohnung des früheren CDU-Finanzsenators und „Alten Herrn“ der Burschenschaft Gothia, Peter Kurth, vorgestellt. Zu den Gästen des Abends gehörte neben weiteren rechtsextremen Akteur*innen wie dem Verleger Götz Kubitschek auch die Berliner AfD-Fraktions- und Landesvorsitzende Kristin Brinker, die im Nachgang versuchte, ihre Teilnahme kleinzureden. Im Jahr 2024 erfolgte ein weiterer Besuch Sellners in Berlin zu einem Vortrag in der AfD-nahen Immobilie „Staatsreparatur“ in Berlin-Lichterfelde. Gegen diese Veranstaltung im Juli protestierten jedoch mehrere hundert demokratisch Engagierte vor dem Veranstaltungsort, u.a. die „Omas gegen Rechts“ und lokale Initiativen.

Dass Proteste gegen rechtsextreme Veranstaltungen im ersten Halbjahr 2024 auch nach Ende der Großdemonstrationen deutlich mehr Zulauf erlebten, war eine ermutigende Entwicklung. In vielen Ortsteilen Berlins führte dies zur Reaktivierung zivilgesellschaftlicher Strukturen, aber auch zum Entstehen neuer Bündnisse und Anwohnendeninitiativen, die lokale Proteste organisieren. Die MBR beriet und begleitete die Akteure bei der Etablierung neuer Bündnisstrukturen und in Leitbildprozessen. Gemeinsam mit dem Partnerprojekt „Berlin gegen Nazis“ veröffentlichte die MBR einen praxisorientierten Ratgeber für Organisator*innen von Versammlungen. Die Handreichung gibt insbesondere auch Handlungsempfehlungen zum Umgang mit Störungen durch rechtsextreme Videoaktivist*innen und Streamer*innen.

Die Thematisierung von Anfeindungen war auch einer der Schwerpunkte der Beratung von großen Menschenrechtsorganisationen, die sich im Nachgang der Correctiv-Recherche oft deutlich sichtbarer gegen Rechtsextremismus positionieren wollten. Die Angriffe gegen diese Art der Positionierung wurden unterdessen gezielter. Dabei wurde mitunter die Gemeinnützigkeit von sich positionierenden Organisationen infrage gestellt, zudem riefen der AfD nahestehende rechtsextreme Akteure dazu auf, entsprechende Anzeigen bei den zuständigen Finanzämtern zu stellen. Ein Wegfall der Steuerbegünstigung wäre für viele demokratische Vereine eine existenzielle Bedrohung.

Doppelter Wahlkampf – Wiederholungswahl und Europawahlen

Die großen demokratischen Proteste zum Jahresbeginn überschnitten sich zeitlich mit einem erneuten Wahlkampf in Berlin. Nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts erfolgte in rund einem Fünftel der Wahlbezirke der Stadt am 11. Februar die teilweise Wiederholung der Bundestagswahl von 2021, die jedoch zu keinen mandatsrelevanten Änderungen führte. Größere Wahlkampfaktivitäten entfalteten die Parteien dann vor allem rund um die Wahl zum Europäischen Parlament am 9. Juni. Die AfD versuchte neben dem klassischen Straßenwahlkampf insbesondere durch die Teilnahme an Podiumsdiskussionen und Veranstaltungen in Schulen junge Menschen anzusprechen, die ab 16 Jahren an den Wahlen teilnehmen durften.

Schulleitungen, Schüler*innen, Eltern und Lehrkräfte, aber auch Jugendeinrichtungen sahen sich dabei häufig mit der Frage konfrontiert, ob Vertreter*innen der AfD zu solchen Veranstaltungen eingeladen werden müssen. Bereits vor den Wahlen hatte die Fraktion der AfD im Berliner Abgeordnetenhaus ein Meldeportal erneut online gestellt, auf dem Verstöße gegen ein von der AfD behauptetes Neutralitätsgebot an Schulen gemeldet werden sollen. Im Laufe des Jahres erreichten die MBR außerdem zunehmend Beratungs- und Fortbildungsanfragen aus dem Kontext Schule, die aufgrund verschiedenster rechtsextremer Vorfällen in der Schüler*innenschaft, bei Eltern oder im Kollegium die Erarbeitung eines übergreifenden Handlungskonzeptes zum Gegenstand hatten.

Im Ergebnis Europawahlen erzielte die AfD trotz der vorherigen Skandale rund um den Spitzenkandidaten Krah berlinweit 11,6 Prozent (179.303 Stimmen), in den Bezirken Marzahn-Hellersdorf, Lichtenberg und Treptow-Köpenick erhielt sie die meisten Stimmen unter den angetretenen Parteien. Während das Ergebnis der AfD im östlichsten Bezirk Marzahn-Hellersdorf, wie schon bei vergangenen Wahlen, dem Trend in den östlichen Bundesländern folgte, ähneln die Ergebnisse in Treptow-Köpenick und Lichtenberg, aber auch im westlichen Spandau und Reinickendorf eher dem Bundestrend der AfD. Zugleich blieb die Partei in Berlin auch bei dieser Wahl bei den relativen und absoluten Zahlen weit hinter ihrem bisher besten Ergebnis bei der AGH-Wahl 2016 mit 14,2 Prozent (231.492 Zweitstimmen) zurück. In das Europaparlament zog mit Alexander Sell ein ehemaliger Mitarbeiter der Berliner Fraktionsvorsitzenden Kristin Brinker ein. In seiner Bewerbungsrede für den 15. Listenplatz auf dem Bundesparteitag in Magdeburg fiel Sell mit den migrationsfeindlichen Formulierungen auf, dass die „Leidtragenden der Masseneinwanderung nach Europa“ jene seien, die „mit diesen Barbaren Tür an Tür leben müssen“.

Die Berliner AfD und ihr neurechtes Vorfeld

Berliner AfD-Mitglieder beteiligten sich auch über die Stadtgrenzen hinaus im   Landtagswahlkampf im benachbarten Brandenburg. Die engen Verbindungen nach Brandenburg sind für die Berliner AfD auch deshalb von Bedeutung, weil es an nutzbaren Veranstaltungsorten innerhalb des Berliner Stadtgebietes weiterhin mangelt. So dienten die Räumlichkeiten einer Gaststätte im unmittelbar an Hellersdorf angrenzenden Hoppegarten als Ort für die Durchführung einer neurechten „Alternativen Buchmesse“ des Netzwerks „Idearium“. Am selben Ort hatte bereits zuvor unter Beteiligung von Björn Höcke 2022 die Gründungsveranstaltung des Netzwerks um den Berliner Abgeordneten Thorsten Weiß stattgefunden. Das Netzwerk hat es sich zum Ziel gesetzt, das sogenannte politische Vorfeld enger an die Partei zu binden. Die „Buchmesse“ diente der Vernetzung von rechten Verlagen und Medienprojekten und wurde von Podiumsgesprächen mit Vertreter*innen des ehemaligen „Instituts für Staatspolitik“ und Initiativen wie „Ein Prozent“ begleitet; der Sicherheitsdienst wurde von einschlägigen Rechtsextremen aus Cottbus gestellt.

Räumlichkeiten in Brandenburg benötigte die Berliner AfD zudem für ihren Landesparteitag zur Aufstellung einer Landesliste für die kommende Bundestagswahl im Jahr 2025. Im Brandenburger Jüterbog bestimmte die Partei die Bundestagsabgeordnete Beatrix von Storch zur erneuten Spitzenkandidatin in Berlin. Mit der Aufstellung der Liste zeigte sich, dass die Grabenkämpfe, die für eine lange Zeit den Berliner Landesverband geprägt hatten, zurzeit – zumindest nach außen hin – befriedet sind.

Geflüchtetenfeindliche Mobilisierung nimmt (wieder) Fahrt auf

Auf besagtem Landesparteitag am 12. und 13. Oktober zeigte sich zudem, dass auch in dem vorgezogenen Bundestagswahlkampf das rechte Identitätsthema Migration weiterhin Kernthema der Berliner AfD bleiben wird. In einem Leitantrag beschlossen die Delegierten, vor allem auf Bundesebene für weitere Einschränkungen des Asylrechts zu werben, mehr Grenzschutz und Abschiebungen zu fordern und das Landesamt für Einwanderung symbolisch in „Landesamt für Asyl, Einwanderung und Remigration“ umbenennen zu wollen. Ein fast wortgleicher Antrag, der einige Wochen zuvor im Berliner Abgeordnetenhaus eingebrachter wurde, reihte sich in eine Vielzahl von Drucksachen im Berliner Parlament und den kommunalen Bezirksverordnetenversammlungen ein, die von der AfD für migrationsfeindliche Agitation genutzt werden.

Besonders angefacht wurde die Debatte über die Schaffung neuer Unterkünfte für Geflüchtete im März 2024, als der Senat die Errichtung von Unterkünften in Container-Bauweise an 16 Standorten in der Stadt beschloss sowie weitere Standorte prüfte, an denen Immobilien zur Unterbringung genutzt werden könnten. Auch über die AfD hinaus bildeten sich – meist virtuelle – neue Bürgerinitiativen, die sich etwa in Online-Petitionen gegen die Errichtung von benötigten Unterkünften positionierten. Oft zunächst mit Verweis auf infrastrukturelle Mängel, fanden sich in Kommentarbereichen und auf unterstützenden Social-Media-Accounts schnell geflüchtetenfeindliche und rassistische Äußerungen. Wie bereits bei den rassistischen Mobilisierungen in den Jahren 2014 und 2015 versucht die AfD bereits frühzeitig, auf die aufkommenden Proteste aufzuspringen und sich als Gesprächspartnerin und parlamentarischer Arm anzubieten.

Dies war etwa am Rande einer Informationsveranstaltung zu einer geplanten Unterkunft im September im Bezirk Neukölln zu beobachten. Flüchtlingsfeindliche Anwohner*innen starteten aus der Veranstaltung heraus eine Spontanversammlung. Bei deren Abschlusskundgebung hielt der Fraktionsvorsitzende der AfD in der Bezirksverordnetenversammlung einen Redebeitrag, der umgehend über Social Media-Kanäle der Partei verbreitet wurde. Bei diesem Thema versuchte sich die lokale AfD in diesem Jahr zudem besonders im Bezirk Lichtenberg zu profilieren. Im Fokus steht die Nutzung eines ehemaligen Hotelkomplexes zur Unterbringung von über 1.000 Personen, die auch bei den weiteren demokratischen Fraktionen in der BVV sowie der dortigen Fraktion des Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) für Kritik sorgt. Bei einer Kundgebung versammelte die Lichtenberger AfD im August unter lautem Gegenprotest rund 200 Demonstrierende im Ortsteil Hohenschönhausen. Darüber hinaus beantragte die Fraktion im September eine Sondersitzung der BVV zur „Flüchtlingskrise in Lichtenberg“, bei der neben einem AfD-Antrag auch eine Große Anfrage des BSW besprochen wurde. Begleitet wurde die Sitzung von dem Besuch der Bundestagsabgeordneten Beatrix von Storch und Roger Beckamp, medial in Szene gesetzt von rechten Video-Journalist*innen der Jungen Freiheit und AUF1.

Im Zusammenhang mit weiteren geplanten Informationsveranstaltungen für Anwohnende, bevorstehenden Fertigstellungen von neuen Unterkünften und dem Einzug von Schutzsuchenden im kommenden Jahr ist zu erwarten, dass die AfD und auch weitere rechtsextreme Akteure ihre flüchtlingsfeindliche Mobilisierung intensivieren werden. Sowohl in den Parlamenten, und auf der Straße, als auch in gesellschaftlichen Diskursräumen werden demokratische Akteure im kommenden Jahr damit konfrontiert sein, dass solidarische Unterstützung von Schutzsuchenden und eine pluralistische und vielfältige Gesellschaft infrage gestellt wird.

Die Debatte um den Umgang mit einem weiteren Machtzuwachs der AfD hat in Berlin zu Überlegungen geführt, den Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin resilienter gegenüber Blockadeversuchen und Versuchen der politischen Einflussnahme zu machen. Mit Blick auf die kommunalen Gremien in Berlin bleibt zudem abzuwarten, wie das Bündnis Sahra Wagenknecht über punktuelle Themenüberschneidungen und gemeinsame Abstimmung hinaus sein Verhältnis zu der rechtsextrem dominierten Partei künftig definieren wird.

Einschüchterungsversuche und ein schwerer Angriff – Der III. Weg und seine Jugendorganisation

Bestimmender Akteur im aktionsorientierten, klassischen parteiförmigen Rechtsextremismus blieb im Jahr 2024 der III. Weg. Insbesondere die erste Hälfte des Berichtsjahres wurde bestimmt von Einschüchterungsversuchen gegen Jugendeinrichtungen sowie tätlichen Angriffen auf politisch Andersdenkende durch Protagonist*innen, die der neonazistischen Kleinstpartei bzw. ihrer Jugendorganisation Nationalrevolutionäre Jugend (NRJ) zuzurechnen sind. Schwerpunkte dieser Aktivitäten bildeten die Bezirke Pankow und Marzahn-Hellersdorf. Höhepunkt war eine organisierte Attacke in Friedrichshain am Bahnhof Ostkreuz am 6. Juli: Eine 15-köpfige Gruppe vermummter und bewaffneter Rechtsextremer griff einen Anreise-Treffpunkt zu einer linken Demonstration an und verletzte zwei Personen erheblich. Neun Rechtsextreme aus dem Parteiumfeld, darunter ein führender Protagonist der Berliner NRJ, wurden als Tatverdächtige ermittelt, ihre Wohnungen wurden am 18. Juli durchsucht.

Die MBR vermittelte in Beratungen und Qualifizierungen den pädagogischen Fachkräften in den von Bedrohungen aus dem Spektrum des III. Wegs und der NRJ  betroffenen Einrichtungen Wissen zur Einschätzung der relevanten Akteure, unterstützte sie bei der Kommunikation mit den Nutzer_innen und bestärkte die Träger bei der Erarbeitung von Sicherheitskonzepten und in der Beibehaltung ihrer klaren professionellen Abgrenzung zum Rechtsextremismus.

Diese Aktionen des III. Weg sind intensivierte Versuche der Rechtsextremen zur Besetzung des öffentlichen Raumes, zu denen das Anbringen von Aufklebern, Plakaten und Sprühereien sowie uniformierte Kampfsport-Trainings auf Grünflächen und teilweise auf kommunalen Sportanlagen zählten. Als bei solch einem Training am 13. Juli im Stadtpark Lichtenberg die Polizei gerufen und die anwesenden Rechtsextremen kontrolliert wurden, konnten verschiedene, teilweise verbotene Waffen sowie Aufkleber mit strafbaren Symbolen sichergestellt werden.

Solche Übungen dienen nicht nur der Raumnahme und der Vorbereitung für gewalttätige Auseinandersetzung mit politischen Gegner*innen, sondern auch zur Vernetzung mit Rechtsextremen aus dem europäischen Ausland sowie der Einbindung von und Wissensvermittlung an interessierten Nachwuchs. Im Auftrag und in Zusammenarbeit mit dem Bezirksamt Pankow sensibilisierte die MBR das Platz- und Hallenpersonal der bezirklichen Sportanlagen und informierte im Rahmen einer Veranstaltung nutzende Sportvereine über die Thematik.

Jung, queerfeindlich und gewalttätig – Neue rechtsextreme Jugendgruppen drängen aus den Sozialen Medien auf die Straße

Größere Relevanz für die Berliner Protagonist*innen des III. Weg hatten auch in diesem Jahr Rekrutierungsbemühungen für die Partei. Sie werden belegt durch unregelmäßige Propagandaaktivitäten in Form von Flugblattverteilungen vor Schulen und Jugendeinrichtungen, dazu kommt neuerdings auch eine gezielte Ansprache von jungen Frauen und Mädchen. Dass der Partei bzw. der NRJ dadurch ein gradueller Mitgliederzuwachs gelungen ist, kann nicht ausgeschlossen werden, dürfte sich jedoch in einem überschaubaren Rahmen bewegen. Einzelne personelle Zuwächse sind zudem einer anderen Entwicklung geschuldet: Das spätestens seit Sommer bundesweit zu beobachtende Phänomen von neu entstehenden rechtsextremen Labels im Internet, die vor allem mit Störversuchen gegen CSD-Paraden auf der Straße aktiv wurden, trat ebenfalls in Berlin auf. Hier hat sich der Zusammenschluss Deutsche Jugend Voran (DJV) als relevanter Akteur herausgebildet. Bei mehreren Protagonist*innen dieser Gruppe ist mittlerweile eine Hinwendung zum „III. Weg“ feststellbar, die bislang jedoch nicht dazu geführt hat, dass Aktivitäten für die DJV eingestellt wurden.

Erstmals auf der Straße sind Rechtsextreme mit dem DJV-Label am Rande des Berliner CSD am 27. Juli aufgefallen. Am Potsdamer Platz wurde eine 28-köpfige Gruppe schwarzgekleideter Jugendlicher von der Polizei kontrolliert. Bei der Durchsuchung wurden neben Vermummungsutensilien, Zahnschutz und Handschuhen auch ein Banner mit der Gruppenbezeichnung festgestellt. 14 Personen kamen für den restlichen Tag in einen Unterbindungsgewahrsam, die restlichen Personen wurden vor Ort entlassen, weil sie minderjährig waren. In den Folgewochen bildete sich ein fester Kern von DJV-Anhänger*innen heraus, der sich mehrfach an rechtsextremen Aufmärschen gegen Pride-Paraden in ostdeutschen Städten beteiligte. Zum Teil übernahmen die Berliner Protagonisten dabei auch Funktionen, beispielsweise als Ordner. Als verbindende Elemente innerhalb der Gruppierung scheinen rechtsextreme Einstellungen und Feindbilder sowie eine entsprechende Orientierung zu fungieren, weniger ein geschlossen rechtsextremes Weltbild. Dies macht die DJV bei Jugendlichen mit solchen Einstellungen anschlussfähig – wie dauerhaft das Engagement dann jedoch ist, bleibt abzuwarten.

Neben geteilten Feindbilden scheint auch die Gewaltbereitschaft ein gemeinsamer Nenner zu sein: Am 23. Oktober erfolgten bei neun Anhängern der Gruppierung Hausdurchsuchungen wegen eines tätlichen Überfalls sowie eines Raubes. Bei den Beschuldigten wurden unter anderem Schlagwerkzeuge, Waffen und Pyrotechnik aufgefunden, der 23-jährige „Leiter“ wurde wegen Fluchtgefahr in Untersuchungshaft genommen. Erst am Wochenende zuvor hatte die DJV ihren ersten angemeldeten Aufmarsch in Berlin-Marzahn durchgeführt, zu dem rund 120 Teilnehmende mobilisiert werden konnten. Wie handlungsfähig der Zusammenschluss nach der Festnahme und den Durchsuchungen noch ist, lässt sich zum Redaktionsschluss noch nicht abschließend beurteilen. Zentrale Gruppen-Accounts in den Sozialen Netzwerken sind seitdem zumindest nicht mehr aktualisiert worden, jedoch bewerben einzelne Akteure weiterhin rechtsextreme Versammlungen. Es ist offen, ob sich die DJV langfristig als Akteur in Berlin etablieren wird oder lediglich eine temporäre Erscheinung ist und sich ein Teil der Protagonist*innen anderen rechtsextremen Strukturen anschließt.

Kurz vor Jahresende am 14. Dezember versuchte ein neues rechtsextremes Label mit einem Aufzug durch den linksalternativ geprägten Ortsteil Friedrichshain öffentliche Aufmerksamkeit zu erzeugen. Beworben wurde der Aufmarsch von randständigen Personen aus dem AfD-Milieu und Protagonisten aus dem DJV-Spektrum. Die ursprünglich geplante Wegstrecke wurde bereits im Vorfeld abgeändert, letztlich erschienen statt der angemeldeten 500 Teilnehmenden nur 63 Personen, überwiegend aus dem Milieu der neuen rechtsextremen Jugendgruppen. Breite Gegenproteste und Blockaden führten dazu, dass auch die abgeänderte Route massiv verkürzt werden musste und der Aufzug nach wenigen hundert Metern vorzeitig abgebrochen wurde.

Immer noch viele Fragen offen – Die Aufarbeitung der rechtsextremen Angriffsserie in Neukölln läuft weiter

Das Agieren militanter Neonazi-Strukturen steht auch weiterhin im Fokus eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses im Berliner Abgeordnetenhaus. Die Aufklärung geht im dritten Jahr der Arbeit des Ausschusses nur mühsam voran. Antworten auf zentrale Fragen, die zur Aufklärung der rechtsextremen Angriffsserien im Bezirk Neukölln notwendig wären, hat der Ausschuss bisher nicht geliefert. Die geringe öffentliche Aufmerksamkeit, welche die Ausschussarbeit insgesamt erfährt, führt dazu, dass selbst die Vermutungen eines ehemaligen leitenden Ermittlers über die Weitergabe von Informationen aus der Polizei an Rechtsextreme kaum mediale Aufmerksamkeit erhält. Die Untersuchung wird zusätzlich dadurch erschwert, dass dem Ausschuss relevante Akten nach wie vor nicht zur Verfügung stehen. Der Ausschuss ging hier 2024 in die Offensive und klagt derzeit vor dem Berliner Verfassungsgerichtshof gegen das Landgericht Berlin auf die Herausgabe von Ermittlungsakten aus dem Gerichtsverfahren gegen zwei Hauptverdächtige.

Die seit September 2024 laufende Berufungsverhandlung gegen die beiden verurteilten Männer vor dem Landgericht endete am 12. Dezember mit einem unerwarteten Urteil: Das Gericht hob die Freisprüche aus der ersten Instanz auf und verurteilte die beiden angeklagten Rechtsextremen nun auch für die PKW-Brandstiftungen. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Ein weiterer Rechtsextremer, dem im ersten Prozess vor dem Amtsgericht trotz eines vorliegenden Überwachungsvideos zu einer der zur rechtsextremen Angriffsserie zählenden Taten nur Propagandadelikte vorgeworfen worden waren, gab bei seiner Vernehmung als Zeuge vor dem Landgericht an, dass die Generalstaatsanwaltschaft nun doch beabsichtige, Anklage gegen ihn wegen der Beteiligung an Drohsprühereien an und in Wohnhäusern im März 2019 zu erheben. Der öffentlichkeitsscheue Rechtsextreme gilt als politischer Ziehvater eines der Hauptverdächtigen und trat zuletzt im Rahmen von verschwörungsideologischen Protesten gegen die Corona-Maßnahmen in Erscheinung.

Konsolidierung der verschwörungsideologischen Szene: Jahr zwei nach dem Wegfall aller Corona-Beschränkungen

Aus den rechtsoffenen Corona-Protesten sind weiterhin aktive Akteur*innen hervorgegangen, denen es 2024 gelungen ist, über inhaltliche Schwerpunktsetzungen Bündnispartnerschaften zu festigen sowie weitere Räumlichkeiten zur regelmäßigen Durchführung von Veranstaltungen zu gewinnen. Gleichzeitig setzt sich der schon 2023 festgestellte Trend fort, dass es lokalen Protagonist*innen nicht mehr gelingt, eigenständig größere Protestveranstaltungen in Berlin zu organisieren.

Einziger Mobilisierungserfolg war erneut der Jahrestag der Querdenken-Proteste im August, an dem in diesem Jahr etwa 12.000 Personen aus ganz Deutschland und einigen europäischen Nachbarländern teilgenommen haben. Für viele noch aktive Verschwörungsgläubige hatte mit den Protesten zu Beginn der Pandemie eine Politisierung eingesetzt, die bis heute anhält. So dient der Jahrestag nicht nur der Selbstvergewisserung des eigenen Handelns, sondern auch dazu, Aktivist*innen aus anderen Regionen zu treffen. Versuche der lokalen Szene, eigenständig größere Proteste zu initiieren, etwa gegen die Abstimmungen zum Internationalen Pandemieabkommen, brachten im April hingegen trotz überregionaler Mobilisierung nur noch knapp 300 Personen auf die Straße.

Viele Szeneaktivitäten haben sich mittlerweile in Telegramkanäle und auf semiprofessionelle Medienplattformen verlagert. Im Fokus steht hier zurzeit die Aufarbeitung der staatlichen Pandemieschutzmaßnahmen, wobei auf die vermeintlich gesundheitsschädlichen Folgen der Impfkampagne sowie auf die Bestrafung von angeblich Verantwortlichen abgestellt wird. Über den Wunsch nach individueller Bestrafung einzelner Politiker*innen hinaus geht es regelmäßig um die generelle Ablehnung demokratischer Prozesse und Institutionen.

Allerdings ist es insbesondere der AfD gelungen, als verlässliche Partnerin innerhalb der verschwörungsideologischen Szene wahrgenommen zu werden. Hierzu haben relevante Protagonist*innen aus Berlin und Brandenburg beigetragen, die sich der AfD nicht nur inhaltlich geöffnet haben, beide Seiten sind auch organisatorisch aufeinander zugegangen. AfD-Politiker*innen waren nicht nur mit Redebeiträgen vermehrt auf Demonstrationen präsent, sondern wiederholt auch Gesprächspartner*innen auf Social-Media-Kanälen verschwörungsideologischer Aktivist*innen. Umgekehrt nahmen diese als „Expert*innen“ an Veranstaltungen der Partei teil oder berichteten wohlwollend über deren parlamentarische Arbeit, vor allem über die der Brandenburger AfD-Landtagsfraktion.

Verfestigtes Bündnis mit Teilen der traditionellen Friedensbewegung

Ebenfalls gefestigt hat sich die schon länger bestehende Zusammenarbeit mit Teilen der Friedensbewegung. Eine wichtige Rolle hierbei spielt die Berliner Friedenskoordination (Friko), die sich im vergangenen Jahr verschiedenen verschwörungsideologischen Zusammenschlüssen geöffnet hat und diese Kooperation trotz anhaltender Kritik weiter fortsetzt. Gerade für diese im „Bündnis für Frieden“ organisierten Zusammenschlüsse ergeben sich Möglichkeiten der Teilnahme an größeren Protesten, wie zuletzt am 3. Oktober 2024. Mehrere tausend Personen folgten  dem Aufruf eines größeren Bündnisses aus verschiedenen Organisationen, darunter auch solche, die seit Jahren durch eine fehlende Abgrenzung nach rechts sowie durch die Verbreitung von verschwörungsideologischen Narrativen auffallen. Das Bündnis konnte bekannte Bundespolitiker*innen als Redner*innen gewinnen.

Eskalierender Antisemitismus in Berlin – Dokumentierter Höchststand

Akteure aus dem „Bündnis für Frieden“ suchen darüber hinaus auch die Nähe zu Protagonist*innen der aktivistischen israelfeindlichen Protestszene. Die hohe Dichte von Mobilisierungen aus dieser Szene hält 2024 weiterhin an. Bei den Versammlungen kommt es regelmäßig zu antisemitischen Äußerungen und Vorfällen. Dabei sind eine Radikalisierung der Inhalte und zunehmend aggressive Formen des Protestes zu beobachten. Im Februar 2024 sprengten Störer*innen etwa den Auftritt der Direktorin des Jüdisches Museums Frankfurt/M. im Rahmen einer Performance zum Thema Meinungsfreiheit im Kunstmuseum Hamburger Bahnhof. Nach mehreren Besetzungen eines Hörsaals und von Gebäuden an zwei Berliner Universitäten führten die Anfeindungen gegen den Berliner Kultursenator zu einem Farbangriff auf sein Wohnhaus. Bei einem Brandanschlag auf eine Kneipe in Neukölln im gleichen Monat fanden sich ein gesprühtes „Hamas-Dreieck“ sowie Glorifizierungen des militärischen Arms der Hamas. Die Zahlen zu antisemitischen Straftaten sowie die bei der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS Berlin) gemeldeten antisemitischen Vorfälle haben im Jahr 2024 einen neuen Höchststand erreicht.

Die Auseinandersetzung im Spannungsfeld von Rassismus und Antisemitismus ist 2024 zu einem Querschnittsthema in der Beratungs- und Qualifizierungsarbeit der MBR geworden. Das Bedürfnis nach inhaltlicher Orientierung ist in allen Bereichen der Stadtgesellschaft hoch. Die MBR erhielt eine Vielzahl von Anfragen von jüdischen oder antisemitismuskritischen Personen und Einrichtungen. Thema war meist der Umgang mit Einschüchterungen, Bedrohungen und Angriffen. Eine relativ neue Strategie war der Versuch der gezielten Einschüchterung von Engagierten durch das Sammeln und Veröffentlichen persönlicher Daten in den Sozialen Medien, das sogenannte Doxxing. Außer aus privaten Kontexten wurde die MBR vor allem aus den Bereichen Kunst und Kultur, Hochschulen und Schulen angefragt. Ihre Angebote zum Umgang mit Einschüchterungen und Bedrohungen wird die MBR im Jahr 2025 sichtbarer machen. Bewährte Strategien zum Umgang mit Veranstaltungsstörungen werden bereits auf die aktuelle Situation angepasst, zudem werden Angebote zur Erstellung eines „Code of Conduct“ erweitert.

Weiterlesen

Eine Plattform der